Streifzüge 44/2008
KOLUMNE Immaterial World
von Stefan Meretz
Nach dem „Logischen“ in der letzten Ausgabe der Kolumne gab es nettes Feedback und den Wunsch, es möge in der „Immaterial World“ mit philosophischen Grundbegriffen weitergehen. Nun ist das wahrlich nicht meine Domäne, aber einen dem Logischen sehr nahen Begriff will ich dann doch noch dranhängen: das Allgemeine.
Den Begriff des Allgemeinen verwenden wir alltäglich, denn es gibt immer etwas zu verallgemeinern, im Denken und im Handeln. Dies tun wir zumeist auch, ohne dass wir den Begriff des Allgemeinen explizit denken: die CD-Sammlung sortieren, Preise vergleichen, Gruppen von irgendetwas bilden usw.
In der Regel verwenden wir beim alltäglichen Verallgemeinern eine bestimmte Vorgehensweise: die Abstraktion. Beim Sortieren machen wir ein Merkmal zum Sortierkriterium und sehen von anderen Kriterien ab, beim Preisvergleich tritt der Gebrauchswert in den Hintergrund und beim Bilden von Gruppen verfolgen wir die formal-logische Regel des „A oder nicht A“. Wir bilden gedanklich jeweils ein Abstrakt-Allgemeines.
Damit ist es jedoch nicht getan. Wie schon beim Satz des ausgeschlossenen Dritten des „A oder nicht A“, bei dem sich A und nicht A äußerlich gegenüberstehen, wird von der vollen inhaltlichen Qualität des A abgesehen, um entscheiden zu können, ob es zum Allgemeinen gehört oder dem Allgemeinen gegenüber ein Besonderes darstellt. Entweder Besonderes oder Allgemeines, aber beides zugleich geht nicht, denkt der Alltagsverstand, und zumeist reicht dieser hin.
Ein wissenschaftlicher Begriff des Allgemeinen muss jedoch weiter gehen, muss die Verbindung von konkretem Besonderen und Allgemeinem herstellen, benötigt also einen Begriff des Konkret-Allgemeinen. Das Konkret-Allgemeine ist das den „Reichtum des Besonderen in sich fassende Allgemeine“, erklärt G. W. F. Hegel (Wissenschaft der Logik). Das Besondere fällt hier also nicht aus dem Allgemeinen heraus, sondern ist in ihm eingeschlossen, ist Repräsentant des Allgemeinen. Wie kann man sich das veranschaulichen?
Nehmen wir das Beispiel des Menschen. Nehme ich bestimmte Merkmale – tatsächliche oder zugeschriebene -, so kann ich Menschen in Gruppen einteilen: Männer und Frauen, Sportliche und Unsportliche, Dicke und Dünne, Kleine, Mittelgroße und Große, Kapitalisten und Arbeiter/innen, Spekulanten und ehrlich Arbeitende, Volk und Fremde usw. Solche Einteilungen erfolgen aufgrund abstrakt-allgemeiner Kategorisierungen: Von allem Konkreten wird abgesehen und das Besondere sowie die jeweiligen Handlungsgründe werden ausgeblendet, bis nur noch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe übrig bleibt.
Einige der genannten Beispiele zeigen sehr anschaulich, wie gefährlich die durch sie transportierten Personalisierungen und Ressentiments sind. Die Bildung eines Abstrakt-Allgemeinen bedeutet immer, den Ausschluss des nicht Dazugehörenden implizit mitzuformulieren. Bist du nicht drin, bist du draußen. Rassistische, sexistische und antisemitische Ideologeme funktionieren nach diesem Deutungsmuster.
Will ich den Menschen dagegen als konkret-allgemeinen fassen, so brauche ich einen Begriff, der das Besondere der so unterschiedlichen wirklichen Menschen einschließen kann. Das ist etwa ein Begriff des Menschen, dessen Natur die Gesellschaftlichkeit ist und der seine Lebensbedingungen in vorsorgend-kollektiver Form herstellt. Diese hier nur angedeutete Grundbestimmung erreiche ich durch einen Prozess der wissenschaftlichen Klärung. Verfüge ich über diesen konkret-allgemeinen Begriff, so ist nun jeder individuelle Mensch dieser allgemeine Mensch und gleichzeitig ein besonderer, eben: konkreter Mensch.
Ein konkret-allgemeiner Begriff des Menschen schließt aus, ihn einzig als Unterworfenen zu verstehen. Es wird erkennbar, dass tatsächliche Unterworfenheit Ergebnisse wirklicher struktureller und sozialer Unterwerfungsprozesse – einschließlich der Selbstunterwerfung – sind, die damit auch als veränderbar begriffen werden können.
Bis hierhin waren Abstrakt- und Konkret-Allgemeines Bestimmungen der Erkenntnis, also des Denkens. Nun gibt es aber auch entsprechende Realprozesse, also Prozesse, die entweder tatsächlich eine praktische Abstraktion vollziehen oder aber andererseits Konkretes unmittelbar als Allgemeines zur Geltung bringen. Diese Prozesse real-abstrakter und real-konkreter Verallgemeinerung gilt es nun ihrerseits als solche zu erkennen.
Bekanntes Beispiel für eine Realabstraktion ist die Warenproduktion und der Warentausch. Bei Produktion und Tausch von Waren wird nicht nur gedanklich, sondern tatsächlich von ihrer sinnlich-nützlichen Seite abstrahiert. Die Waren werden auf ihr bloß quantitatives Verhältnis reduziert. Marx erkennt: „Die Arbeit, die sich im Tauschwerth darstellt, ist vorausgesetzt als Arbeit des vereinzelten Einzelnen. Gesellschaftlich wird sie dadurch, daß sie die Form ihres unmittelbaren Gegentheils, die Form der abstrakten Allgemeinheit annimmt.“ (Zur Kritik der politischen Ökonomie)
Marx hatte damit aufgedeckt, dass „konkrete Privatarbeit“ nur in Form ihres Gegenteils, nur als abstrakt-allgemeine Arbeit gesellschaftliche Gültigkeit erlangen kann. Dies gilt ausschließlich für den Kapitalismus, nicht aber für vorkapitalistische Produktionsweisen, wie Marx klarstellt: „Hier ist der gesellschaftliche Charakter der Arbeit offenbar nicht dadurch vermittelt, dass die Arbeit des Einzelnen die abstrakte Form der Allgemeinheit, oder sein Produkt die Form eines allgemeinen Aequivalents annimmt. Es ist das der Produktion vorausgesetzte Gemeinwesen, das die Arbeit des Einzelnen verhindert Privatarbeit und sein Produkt Privatprodukt zu sein, die einzelne Arbeit vielmehr unmittelbar als Funktion eines Gliedes des Gesellschafts-Organismus erscheinen läßt. “
Gibt es nun Güter im Kapitalismus, die dem Abstraktionsvorgang nicht unterliegen und direkt gesellschaftlich Geltung besitzen? Ja, diese gibt es: freie Universalgüter. Beispiele sind Freie Software und Wikipedia. Freie Universalgüter werden von vornherein als gesellschaftliche Güter produziert und verteilt. Sie stehen mit dem Akt ihrer Herstellung der Menschheit frei zur Verfügung. Im Gegensatz zu Waren unterliegen sie keinem Abstraktionsvorgang, sondern besitzen als Resultate konkret-allgemeiner Arbeit, als je besondere Produkte, unmittelbar gesellschaftliche Geltung. Sie weisen damit über den Kapitalismus hinaus.