Skandal als Skandalisierung

Schrägstellungen zur Anatomie gesellschaftlicher Affären

Streifzüge 43/2008

von Franz Schandl

„Die Skandalrepublik Österreich gibt es nicht mehr, das ist endgültig vorbei. “

(Alfred Worm (2000), zit. nach: Medien und Zeit, 1/2008, S. 44)

Es ist ein echter Nestroy. Auch wenn fast alle meinen, dass er zu diesem Zeitpunkt schon hinüber gewesen sei, schrieb Johann Nepomuk Nestroy im Herbst 1862 an einer neuen Posse mit dem schlichten Titel: „Die Bank“ oder: „Der Erfolg und sein Geheimnis“. Die Hauptrolle darin spielt der flotte, aber letztlich gescheiterte Bankier Marcel Elster, weiters treten auf die Hausspekulanten Abgang und Flöten, die Aufsichtsräte Weniger und Verstehtnix, Elsters Nachfolger Nowoswasi und der Geldbote Sacklhater. In Nebenrollen finden sich die Parteisekretäre Misston und Kaliber, der Polizeipräsident Horny und seine Geliebte, abwechselnd Hanni oder Honey geheißen, die wenig liebevoll „Aufdeckhengste“ genannten Reporter Fell, Schwamm und Heiß, nicht zu vergessen die der Bank aufs Engste verbundenen Großunternehmer Schaff, Saus und Meinis, ein umtriebiger Finanzminister namens Krasser und die über alles streng urteilende Richterin, Frau Bandit-Ordner. Zwischen den Szenen singt der Krötenchor, so heißt der Gesangsverein der Wiener Polizei nicht nur aufgrund seiner dunkelgrünen Uniform, seine Gstanzln. Echter geht’s nicht.

Zweifellos, der Dichter war auch nach seiner Zeit seiner Zeit weit voraus: „Was hat Nestroy gegen seine Zeitgenossen? Wahrlich, er übereilt sich. Er geht antizipierend seine kleine Umwelt mit einer Schärfe an, die einer späteren Sache würdig wäre“, schreibt Karl Kraus in einem der wenigen Kommentare zu unserem Stück, das von Germanisten leider nie zur Kenntnis genommen wurde. Bestenfalls galt es als verschollen. Unverschämterweise wurde es aber in den Vorstädten tradiert, mündlich, daher auch alterierend „Honey“ und „Hanni“ oder die Komprimierung der Spekulanten auf eine Person. In den letzten Jahren wurde das Schauspiel zur allgemeinen Überraschung in der Hauptstadt von echten Personen in echten Positionen uraufgeführt. Derzeit läuft der letzte Akt, es ist ein Gerichtsakt.

Dieser Schluss war lange umstritten. Und wirklich, es hätte auch so ausgehen können: Bei einem vom ÖGB veranstalteten „Fest für Fritz“, das für den langjährigen Gewerkschaftspräsidenten Fritz Verzetnitsch im September 2010 ausgerichtet wird, unterstreicht Alfred Gusenbauer in seiner Laudatio ausdrücklich die „nie in Frage zu stellende Untadeligkeit meines Freundes“, der „liebe uneigennützige Fritz“ sei einer, der „sich aber auch nie, ich betone: nie, das Geringste zu Schulden hat kommen lassen“, der kulturbeflissene Kanzler beschwor sogar „die Glorie von Uneigennützigkeit“. Tags zuvor hatte er Ibsens „Stützen der Gesellschaft“ im Burgtheater besucht.

Absolute Seriosität und Pakttreue werden dem geehrten Gefährten auch vom Wirtschaftskammerpräsidenten Christoph Leitl bestätigt. Alle Parteien zollen Anerkennung. Zu seinem Abschied im Nationalrat gibt es stehende Ovationen. In der Krone findet sich ein Vierseitenporträt. Verzetnitsch wird unisono beschieden, ein ganz Großer der Zweiten Republik zu sein. Vom Bundespräsidenten wird ihm das Goldene Kreuz ob seiner Verdienste für die Republik Österreich verliehen. 23 Jahre steht er nun schon an der Spitze der Gewerkschaft. Ein paar Jahre will er, so er gesund bleibt, noch anhängen. Auch der Kanzler habe ihn darum gebeten.

Monate vorher, am 12. Mai 2010 feiert Helmut Elsner in einem vollgestopften Innenstadtpalais seinen 75. Geburtstag. Die Lobesrede hält niemand Geringerer als Josef Taus. Er nennt „unseren Freund Marcel“ einen „tatkräftigen Mann“, dieser sei, „und das sage ich nicht nur so dahin, wirklich einer, der sich was traut, einer, der Grenzen nicht nur auslotet, sondern gelegentlich auch überschreitet“. „Wir alle haben ihm viel, sehr viel zu verdanken.“ „Manchmal hamma auch zittert, lieber Marcel, aber das ist alles Schnee von gestern“, so der Industrielle ganz launig am Schluss seiner Rede. Großes Gelächter und tosender Applaus folgen.

Unter vorgehaltener Hand ist freilich auch heute (also im Frühjahr 2010) noch des öfteren zu hören, dass es wirklich ein Wunder sei, dass oder besser noch wie Marcel die wilden Neunzigerjahre heil überstanden hat. Gerüchten zu Folge soll es Ende des Jahrtausends zu wilden Spekulationen gekommen sein. BAWAG und ÖGB sollen damals am Abgrund gestanden sein. Angeblich. Denn Genaues weiß man nicht. Der unaufhaltsame Aufstieg der BAWAG im ersten Dezennium hat das zu Nichtigkeiten degradiert. Auf die Frage, was er zu den nicht verstummenden Geschichten zu sagen habe, macht Elsner nur eine lapidare Handbewegung, lächelt süffisant, und murmelt fast sanft ein einziges Wort ins Mikrophon: „Makulatur“. Was Rechtes ist auch nie aktenkundig geworden. Letztlich hat Elsner die Bank nicht nur zu einer nationalen Größe aufgebaut, sondern gar zu einem internationalen Player gemacht, steht sein Name eindeutig und auf ewig für den Erfolg der ehemaligen Arbeiterbank. Was zählt und bleibt, das ist diese Leistung. Wer möchte da die Ehre versagen? Keiner!

Im Vorjahr, also 2009, ist die Bank auch äußerst lukrativ veräußert worden. „Die BAWAG ist zu einem transnationalen Institut geworden, bestens postiert, nicht nur am heimischen Markt. Der Verkauf an einen US-amerikanischen Fonds, bescherte ihrem ursprünglichen Eigentümer einen satten Verkaufserlös. Der ÖGB gilt nicht erst seitdem als (nicht nur bezogen auf seine Mitglieder) reichster Gewerkschaftsverband der Welt“, ist im profil 38/2009 nachzulesen, auf dessen Frontseite sich Verzetnitsch und Weninger im Nadelstreif gratulierend die Hand reichen. Darunter steht in fetten Lettern: „WIRTSCHAFTSWUNDER ÖGB“. Das vergrößerte Cover hängt übrigens seitdem in der Eingangshalle der aufwendig renovierten Gewerkschaftszentrale in der Hohenstaufengasse. „Und da sage noch einmal jemand, die Gewerkschaft könne nicht wirtschaften“, sagt Fritz Verzetnitsch lachend in einem ORF-Interview. Und niemand sagt sowas. Es ist ja auch alles gut gegangen.

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Nun, wie wir wissen, ist es gar nicht gut gegangen. Es ist anders gekommen, obwohl die oben ausgeführte Parallelwelt das wahrscheinlichere Szenario gewesen wäre. Ohne die fulminante REFCO-Pleite 2005 hätten sich die angesprochenen Herren der höchsten Auszeichnungen der Republik, des größten Respekts und der besten Reputation sicher sein können. Nichts hätte dem Abbruch getan, keine karibischen Turbulenzen und auch kein Casino-Crash in Jericho. Gar nichts wäre passiert, das meiste wäre geheim geblieben. Ob Verzetnitsch, Elsner oder Flöttl gemeinhin als Falotten gelten oder als Stützen der Gesellschaft, das hing an einem seidenen Faden. Und es ist des Öfteren so: Zwischen flotten Burschen und windigen Burlis, da ist nicht viel um. Manche werden Manager des Jahres, andere sitzen hinter Schwedischen Gardinen. Was auch hintereinander möglich ist.

Ohne hier ein verallgemeinerndes Istgleichzeichen zu setzen, aber: Falotten sind verdiente Mitglieder der Gesellschaft und verdiente Mitglieder der Gesellschaft sind Falotten. Da mag man nun einwenden, dass solch eine Sichtweise aber die Bülcher bagatellisiert und die ehrbaren Leute diskreditiert. Nichts anderes ist beabsichtigt. „Die Vorliebe des Bürgertums für Räuber erklärt sich aus dem Irrtum: ein Räuber sei kein Bürger. Dieser Irrtum hat als Vater einen anderen Irrtum: ein Bürger sei kein Räuber“, wusste schon Bertolt Brecht.

Zwei zentrale Kriterien gesellschaftlicher Durchsetzung und Anerkennung sind, wie Nestroy im Untertitel richtig erkannte, der Erfolg und sein Geheimnis. Es steckt zwar in ihm, aber heimtückischerweise versteckt, d. h. jedes Werden verschwindet im Resultat. Normalerweise fragt dann niemand mehr. Im Erfolg demonstriert man, was man erreicht hat, im Geheimnis verschweigt man, wie man es bewerkstelligt hat. Geht Ersterer daneben oder wird Letzteres aufgedeckt, wird jeder Bursch zum Burli. Diesen Prozess einer öffentlichen Degradierung oder besser noch Depotenzierung erleben wir gerade.

Mit ein bisschen Glück hätten Flöttl senior und junior auch als die Fugger der österreichischen Arbeiterbewegung gelten können. Möglicherweise hätte Wolfgang Flöttl noch den Bestseller „Das karibische Abenteurer“ veröffentlicht. Wären Flöttls Geschäfte aufgegangen (und sie hätten dann die selbe kriminelle Energie gehabt wie im Verlustfall! ), wäre dieser Mann wohl als eines der größten Finanzgenies in die Geschichte des Landes eingegangen. Aus dem wird nichts, im Gegenteil, er gerät in eine Reihe mit dem Schiffeversenker Udo Proksch. Sagte Flöttl noch im September 2006: „Schlechte Geschäfte sind kein illegaler Akt“ (Österreich, 21. September 2006, S. 8), so ist das zwar richtig und stimmt doch nicht. Geld versenken ist ein Kapitalverbrechen, weil ein Verbrechen am Kapital.

Es hat nicht sein sollen. Im Erfolgsfall hätte der Spekulant Wolfgang Flöttl nicht eine Sekunde an ein Schuldbekenntnis denken müssen, wäre ihm doch jedwedes Verständnis entgegengebracht worden. Sein Fehler bestand darin, als Loser und nicht als Winner daherzukommen. Die Teilgeständnisse einiger Angeklagten im BAWAG-Prozess haben also mehr mit Kalkül als mit Wahrheit oder Lüge zu tun. Sie folgen der Einschätzung, dass Verurteilungen wahrscheinlicher sind als Freisprüche, Geständnisse aber Erstere mildern. Und niemand sage, das alles habe mit der gesellschaftlichen Dynamik des Falls nichts zu tun. Sie beherrscht diesen weitgehend. Dass der unkooperative Elsner als einziger Angeklagter in U-Haft sitzt, ist vorrangig auf die veröffentlichte Meinung der Medienpropaganda zurückzuführen.

Die Justiz agiert in solchen Prozessen jenseits der Grenzen ihrer Disziplin. Sie hat über etwas zu richten, was sie mit ihren Instrumentarien gar nicht richtig begreifen kann. Sie hat Urteile zu sprechen, ohne Beurteilungen treffen zu dürfen. Ihre Ermessensentscheidungen sind jenseits des positiven Rechts angesiedelt, auch wenn sich ordentliche Begründungen für Frei- wie Schuldsprüche in den Paragraphen finden lassen. Noch deutlicher als anderswo ist hier das Gesetz Knetmasse der Advokaten. Sie könnten auch würfeln. Dass Frau Bandion-Ortner in den letzten Monaten psychosomatisch auf den Fall reagierte, spricht übrigens für sie.

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Skandale stärken die bürgerlichen Werte und Normen, weil die Skandalisierung deren Zustimmung voraussetzt wie einfordert. Skandalisierung dient zur Selbstversicherung der Ideale, zur Selbstverständigung des Selbstverständlichen. Sie ist eine Art Crash-Kurs in Sachen Staatsbürgerkunde. Auf ideologischer Ebene haben die Skandalisierer leichtes Spiel, weil die Skandalisierten defensiv, nie offensiv agieren, eben weil sie selbst der gleichen Moral aufsitzen wie ihre moralischen Richter. Zumeist wollen jene es nicht getan haben. Wenn das nicht geht, ist es ihnen passiert und sie versprechen Besserung. Niemand hingegen sagt: „Ja zur Steuerhinterziehung! “ „Hoch die Schmiergeldzahlung! “ „Es lebe die Vetternwirtschaft! “ – Das ist eigentlich schade. Denn die Fragen nach Beziehungen, nach Provisionen und der Drang, es sich zu richten, der ist uns allen nicht unbekannt. Insgeheim wissen wir, was wir nicht sagen dürfen. Es ist wieder einmal eine dieser Eigenarten, wo die Differenz von Praxis und Theorie niemandem auffallen will: Alle Gesellschaftsmitglieder sind skandalfähig und skandalanfällig, aber keines bekennt sich zu ihm. Im Gegenteil, der Skandal, das sind immer die andern.

Was das Empirische betrifft, ist der Skandal oft wirklich so, wie ihn sich der kleine Maxi vorstellt, nur komparativer. Das ist darauf zurückzuführen, dass der kleine Maxi im Kleinen nichts anderes tut als die großen Maxln in Politik und Wirtschaft. Aber das sagt man nicht. Maxi weiß, was er Max vorwirft, weil er sich, obwohl er sich verleugnet, kennt. Ihn entsetzt, was er tut, bei den andern, die nichts anderes tun. „Das gewöhnliche Leben ist ein Mittelzustand aus allen uns möglichen Verbrechen“ (Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 474), wusste schon Robert Musil. „Alles Verbrechen ist gewöhnlich, gerade wie alle Gewöhnlichkeit ein Verbrechen ist“, heißt es in Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ (München 2004, S. 240). Es ist durchaus richtig, dass die Worte „üblich“ und „Übel“ sehr nahe beieinander liegen.

Der Skandal gehört nicht bloß zur Normalität, er ist Normalität. Keine Entgegensetzung, nicht einmal ein Querschläger! Im Skandal immunisiert sich die Geläufigkeit des Normalen, indem sie eine zugehörige Besonderheit als ungeheuerliche und ungehörige Absonderlichkeit auftreten lässt. Im Skandal tritt die Banalität gerade so auf, als sei sie eine Sensation. Skandalisierung stilisiert bestimmte Erscheinungen, reißt sie aus ihrem struktiven Zusammenhang und bläst sie via medialer Berichterstattung und politischem Befund zur Wichtigkeit par excellence auf. Skandale sind da zum Abreagieren. Sie lenken ab von der Alltäglichkeit des Geschehens, indem sie nicht dieses, sondern dessen Affären zum Thema machen. Im Skandal substituiert der gesellschaftliche Lärm den gesellschaftlichen Lauf. Im Getöse verlieren die Strukturen ihre Kenntlichkeit.

Rufen wir uns auch in Erinnerung, weil es von zentraler Wichtigkeit ist: Der Skandal bedroht nie den gesellschaftlichen Zweck, Geld zu machen, sondern erfüllt ihn nur mit Mitteln, die sitten- oder rechtswidrig sind. Aber das ist ein Detail. Was sind schon die Mittel gegen das Ziel, das kaum jemandem als fragwürdig erscheint? Skandale sind in erster Linie als Folgen und Funktionen der Geldwirtschaft zu dechiffrieren. Und zwar als solche, die zwar den Zweck teilen, aber die Regeln flexibel bestimmen möchten und das auch tun. Im schier ewigen Spiel der Geldmacherei ist der Skandal nicht Bedrohung, sondern Stachel. Dass man Geld haben soll und soviel wie möglich, nimmt kaum jemand so ernst wie diese Delinquenten. Keine Regel soll aufhalten und behindern. Illegal gewesen ist auch nicht das, was illegal gewesen ist, sondern nur das, was der Illegalität überführt werden konnte. Illegale usu legale fit.

Das Gesetz ist diesbezüglich ein recht harmloser Geselle. In 95 Prozent der Fälle, also jenen, die nicht durch Aufdeckung a posteriori zu Unfällen werden, ist der Rechtstaat recht stad, um nicht zu sagen: ganz still. Manchmal ist er trotz aller Offensichtlichkeiten hilflos und zur Untätigkeit verurteilt. Warum sollen keine „Sympathiezahlungen“, wie Frau Wolf (Nachname wie Wortschöpfung lassen auf einen weiteren unbekannten Nestroy schließen) ihre Geschenke aus dem Geschenkskorb der EADS völlig korrekt tituliert, an diverse Sympathieträger erfolgen? Der freie Markt lässt das nicht nur zu, er fördert diese freie Übereinkunft. Und warum soll die Frau Auffangjäger Erika Rumpold nicht aus ähnlichen Eignungshonoraren ein kleines Wirtschaftsimperium aufbauen? Es sage mir doch bitte mal jemand einen wirklichen Grund? Ursprüngliche Akkumulation, die nie aufgehört hat, verläuft so. Dass Geschäft und Verbrechen beide dem Aneignungs-, somit dem Entwendungstrieb folgen, liegt auf der Hand. Und bestaunen wir nicht eigentlich derlei Bravourstücke? Sind wir nicht alle irgendwie süchtig auf einen Coup, wenngleich die meisten wohl eher auf die Lotterie oder gar einarmige Banditen setzen, was übrigens nicht für allzu große Intelligenz spricht.

Ob Helmut Elsner ein Gauner ist, will z. B. ein hellsichtiger Kopf wie Wolfgang Reithofer nicht einfach bejahen. „Man soll vorsichtig sein, andere so locker zu verurteilen. Man weiß nicht, was einem selber unterkommt“, (Datum, Februar 2007, S. 25) sagt einer der führenden Unternehmer des Landes, einer, der wahrscheinlich genau weiß, was einem so alles unterkommt. Klug auch dieses: „Niemand ist frei. Auch der Vorstand eines Unternehmens nicht, der hat andere Zwänge. Vielleicht macht man das den Menschen zu wenig bewusst.“ (Ebenda, S. 22. ) Was zwar nicht für die Zwänge spricht, sondern gegen die kollektive Halluzination der Bewusstlosigkeit, sich als freier Wille zu verstehen.

Doch weil wir das alles nicht debattieren, sondern uns bloß über dieses und jenes das Maul zerreißen, gehen Funktion und Substanz des Skandals gerade in der grassierenden Skandalisierung unter. Über Elsner und Flöttl, Verzetnitsch oder Horngacher wird viel geredet und geschrieben, aber sie werden nicht erörtert, sondern beschuldigt oder entschuldigt. Indes wäre eine Diskussion über die Konstitution solcher Typen, nicht die individuelle, sondern die gesellschaftliche von außerordentlichem Interesse. Doch darf das interessieren? Ist das nicht fad? Ist nicht jeder er selbst, ein verantwortungsbewusstes Individuum, nicht ein zuordenbares Subjekt? Haben wir es nicht so gelernt? Und warum soll es nicht stimmen?

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Ob etwas zum Skandal gereicht oder nicht, entscheidet primär die mediale Verwertbarkeit. Nicht objektive Tatbestände machen den Skandal zum Skandal, sondern eine entsprechende kulturindustrielle Produktionsform des Investigierens. Wie der Begriff sagt, geht es dabei um Investment und Gier. Ein ganzes Journalistenvolk gibt sich gegenwärtig dem investigativen Taumel hin, dieser ist Inbegriff des professionellen Leitbilds. „Journalismus. Das heißt: aufdecken, enthüllen“, sagte Josef Votzi vor mehr als zehn Jahren. (tv-Media 5/97) Kurzum: „Schreibe, was ist.“ (profil 28/96) Nicht was warum ist, ist der Anspruch, sondern der losgelöste Sachverhalt soll auf den Punkt gebracht werden. Zweifelsohne ein dürftiges Programm. Das Dasein, woher es rührt und wohin es führt, was ist das schon gegen die schlichte Aufforderung zur Darstellung sogenannter Fakten und Vorkommnisse?

Der Skandal ist eindeutig männlich konnotiert, es geht ums Stierln, ums Abgreifen und ums Abschießen. Jemanden bis auf die Unterhose ausziehen, das hat was. Was interessiert, sind die Dessous der Macht. Der Skandal ist eine Peep Show der Kulturindustrie, allerdings eine, wo eins es sich nicht aussuchen kann, jene zu besuchen oder nicht. Wir sind zugeschaltet, es gibt kein Leben abseits des medialen Banns. Elsner und Zumwinkel sind aktuelle Berühmtheiten, auch wenn sie in einigen Jahren kaum jemand mehr kennen wird. Sendungen und Zeitungen gleichen „peeping organs“. Es wird aufgegeilt, bis es fahl und fad wird. Daher geht es auch Schlag auf Schlag, folgt Fall auf Fall, Kriminal auf Kriminal. Die BAWAG-Affäre, obwohl noch nicht ganz ausgestanden, ist bereits ein Skandal von gestern. Neue stehen auf der Tagesordnung. Die Lieferung bleibt nicht aus. Verschnaufen ist nicht. Abfüttern schon.

Skandale aufdecken meint Selektion geheimen Wissens durch Offenbarung sogenannter Indizien und Tatbestände. Der Rezipient ist freilich kaum fähig, Gerücht und Wahrheit zu unterscheiden bzw. den jeweiligen Stellenwert zu ermessen. Er ist angewiesen und abhängig, ja ausgeliefert. Bei gezieltem Investigieren kommt auch kein Skandalisierter unbeschädigt davon. Irgendetwas bleibt hängen. Dass jedem und jeder etwas anzuhängen ist, sollte klar sein. Ob jemand unter Verdunkelungsgefahr leidet oder schon Opfer einer Enthüllungsentzündung ist, ist manchmal schwer festzustellen. Man kann über Lappalien oder gar haltlose Bezichtigungen stürzen, wie es etwa dem ehemaligen SP-Zentralsekretär Heinrich Keller passiert ist. Man kann aus Skandalen, die jeden anderen zur Strecke bringen, auch gestärkt hervorgehen: Jörg Haider ist das zwischen 1986 und 2000 einige Male gelungen.

Skandale werden nicht einfach enthüllt, sondern folgen einer strategischen Dramaturgie. Die Wahrnehmung gilt aber nicht vorrangig dem inkriminierten Fall, also dem Skandal, sondern vor allem der genüsslichen Aufbereitung desselben, also der Skandalisierung. Die Affäre ist das beste und einträglichste Mittel der Erregung unmittelbarer Aufmerksamkeit. Der Skandal kommt erst durch die Aufdeckung zu sich. Das Ereignis gerät erst in ihm außer sich zu seinem nachträglichen Begriff. Ein Skandal ohne Aufdeckung ist keiner gewesen, mag gewesen sein, was immer auch gewesen ist.

Kein Skandal ohne Skandalisierung! Gibt es Letztere nicht, hat es Ersteren nie gegeben, egal nun, wie hoch die kriminellen Ingredienzien der jeweiligen Geschäfte und Politiken zu veranschlagen gewesen wären. Der Skandal kann ohne öffentliche Kenntnisnahme nicht gedacht werden. Letztlich verschleiert die Skandalisierung mehr als sie aufdeckt, eben weil sie sich beharrlich weigert, Missstände und Zustände als Einheit zu denken, sondern deren immanente Diskrepanz stets zur kontrafaktischen, aber kategorischen Zweiheit aufbauscht. In der Aufdeckung und Konstruktion von Skandalen demonstriert das System nicht seine Instabilität, sondern im Gegenteil seine Stabilität. Trotz aller Aufregung und Empörung folgen zum Schluss Ermattung und Indifferenz. Sie sind das ungenannte, ja oft unbewusste Ziel.

Die Voraussetzung einer Affäre mag ein krimineller Sachverhalt sein, ihre Bedingung ist aber ihre Inszenierung. Um den Skandal als soziale Größe zu erfassen, ist es vor allem notwendig, die Methoden der Skandalisierung genauer zu untersuchen und zum Gegenstand der Kritik zu machen. Dreckmacher und Dreckstierler bilden zwar keine symbiotische, ab er doch eine synergetische Einheit. Sie gehören zusammen und führen gemeinsam ihre Stücke auf. So wie der Kasperl und das Krokodil. Gewinnen tut immer der Kasperl, sofern das Krokodil auf der Bühne erscheint. Verbleiben die Krokodile im Sumpf, dürfen sie anstellen, was sie wollen und fressen, wen sie wollen. Dass fast alle Krokodile dort sind, ist anzunehmen, im Fernsehen trocknen sie schnell aus und in der Öffentlichkeit kommen sie um. Aber im Sumpf der Zivilgesellschaft gedeihen sie prächtig. Da mögen die Kasperln denken, was sie wollen.

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Skandalisierung und Skandal verhalten sich wie Verlogenheit und Lüge. Erscheint Letztere offensichtlich, bleibt Erstere, gerade weil sie beleuchtet, im Dunkeln. Wir wissen (oder glauben zu wissen) von den Geschäften der Aufgedeckten, haben aber wenig Ahnung von den Geschäften der Aufdeckung. Natürlich kommt es schon mal vor, dass ein Blatt ein anderes bezichtigt, Geld angeboten oder angenommen zu haben, aber das ist die Ausnahme. Und zumeist folgenlos, denn jeder darf jedem Geld geben für eine bestimmte Leistung. Warum soll man durch eine Auskunft keine Einkunft erzielen? Das sei unlauter? Nicht mehr als jedes andere Geschäfte auch.

Viele Fragen bleiben offen: Wer beliefert die Aufdecker? Wer bezahlt die Lieferanten? Worin unterscheiden sich Bestechung und Aufdeckung? Wo werden welche Waren gehandelt? Wie hoch sind die Preise? Abgehörte Telefonate, bespitzelte Personen, umgeleitete E-Mails, veröffentlichte Steuerbescheide, weitergereichte Rechnungshofrohberichte, gestohlene Akten, Erpressungen – das alles, obwohl tatsächlich, ist kaum präsent. Nichts ist transparent, aber alles undicht. Der Skandal, so zeichnet es sich ab, ist nur auf skandalöse Art und Weise zu bekämpfen. Oft weiß man nicht, wer der Üblere ist, der Aufdecker oder der Zudecker? Wobei die natürlich auch von Fall zu Fall die Positionen tauschen könn(t)en. Aufdeckung erfordert dieselben Methoden, gegen die sie auftritt. Wer die Dialektik des Skandals eingehend studiert, könnte wissen, dass der Saubermann oft jener Mann ist, der am meisten mit dem Dreck zu tun hat. Indes, Thema ist die Enthüllung der zu Enthüllenden nicht die Enthüllung der Enthüller. Wer sollte die auch einbringen? Die nichtbeobachteten Beobachter, die Aufdecker selbst? Die können absolut kein Interesse an solchen Geschäftsstörungen haben.

Die deutsche Postbankaffäre um Klaus Zumwinkel offenbart da mehr, als allen Aufdeckern recht sein kann. Der offiziell bekannt gewordene Ankauf von Daten über Steuersünder mag ein Novum sein. Dass mit solchen Sachen gehandelt wird, liegt aber auf der Hand. Wer Informationen sammelt und besitzt, der will und darf sie doch auch verkaufen. Da mag die Beschaffung auch selbst nicht ganz legal sein. Egal. Rein formal wird ein Angebot gelegt, das auf Nachfrage hofft. Hätte der BND nicht gekauft, hätte die deutsche Finanz sich zahlreiche große Fische durch die Lappen gehen lassen. Zumwinkel & Co. wäre nichts nachzuweisen gewesen. Nicht die Zivilgesellschaft entledigt sich der Korruption, sondern neben der Korruption wird auch die Skandalisierung zu einer ordentlichen Businesssparte mit flexiblen Preisen. Hehlen mit brisanten Daten, da tut sich ein großes Geschäftsfeld auf.

Besonders gefährlich sind Leute, die prophylaktisch (oft ohne konkrete Absicht und spezifischen Hintergrund) Daten sammeln, Dateien speichern, Dossiers anlegen. Denn jene sind meist unauffällige und unverdächtige Elemente, die unmittelbar gar nicht als Gefahrenquelle erfasst werden können. Keine Spionageabwehr rechnet mit ihnen. Sie sind also unberechenbar. Wer weiß, was passiert, wenn sie übergangen, gemobbt, degradiert, gedemütigt oder arbeitslos werden? Wenn sie meinen, sie kämen zu kurz oder auch einmal ein bisschen mächtig erscheinen möchten? Wenn sie jemandem eins auswischen wollen? Oder einfach nur geldgierig sind? Soll vorkommen. Da können aus biederen Sammlern gierige Jäger werden, wahre Denunziationsbomben. Sie brauchen sich nur zu entsichern, also bei Redaktionen oder Behörden vorstellig werden und andeuten, dass sie unter Umständen was hätten, wenn…

Wir müssen davon ausgehen, dass auch von privater Seite kontinuierlich Berichte und Notizen angelegt werden, um sie gegebenenfalls auf dem Markt zu verhökern. Wo die Integrität sinkt, häufen sich die Intrigen. Vertrauliche Geschäfts- und Amtskenntnisse erzielen lukrative Preise am Markt. Das läuft so, nur weiß man eben nicht genau, welche investigativen Leistungen mithilfe welcher Transaktionen erzielt wurden. Dafür sorgen ironischerweise das Amts-, Geschäfts- und Redaktionsgeheimnis, deren Umgehung die Voraussetzung jeder Enthüllung ist. Faktum bleibt: Dem kriminellen Handeln erster Ordnung folgt unweigerlich eines zweiter Ordnung. Der Verrat ist nur eine besondere Form des Rats, gerade deswegen erzielt er auch einen besonderen Preis.

Möglicherweise inauguriert sich hier ein neuer Typus des Alltagsspitzels als Heckenschützen. Das Hehlen mit fremden Daten wird zum Geschäftszweig. Erinnern wir uns kurz an eine andere zeitgenössische Nestroy-Figur, an Josef Kleindienst. Dieser ehemalige FPÖ-Gendarm nutzte als Aufdeckungsgehilfe einer längst vergessenen Spitzelaffäre sein Geheimwissen äußerst geschickt zur ersten Akkumulation seines Vermögens, das sich zwischenzeitlich zum Immobilienimperium entwickelt hat. Aus dem Aufdecker wurde jedenfalls ein Abzocker, die Verwandtschaft der Arten ist wiederum offensichtlich. Und jeder Affirmatiker der praktizierenden Mehrheit würde hier bestätigend ausrufen: Genau so musst du’s machen! Zweifellos, wollen tun’s viele, können nur einige.

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Anstand ist ein menschliches, kein ökonomisches Kriterium. Wer sich am Markt auf den Anstand beruft, ist in einem wirtschaftlichen Notstand. Wer anständig Geschäfte machen will, kann keine anständigen machen. Böse Zungen wie glaubhafte Sachverständige im BAWAG-Prozess behaupten gar, dass man in letzter Konsequenz nur jenen Bilanzen vertrauen dürfe, die man selber gefälscht hat. „Letztlich ist jede Bilanz objektiv unrichtig“, sagt der Gutachter Thomas Keppert, der es wissen muss. (Kronen Zeitung, 10. Februar 2008, S. 36) Nun, wir wollen’s nicht übertreiben, aber verantwortungsvoll im Sinne eines Unternehmens zu agieren, heißt nicht, nicht zu lügen. Es heißt, zu lügen. Zwar nicht notorisch, aber kalkulierend und spekulierend. In der Welt von Geschäft und Politik gilt: Wenn eine Wahrheit schlecht ist, ist sie schlecht und daher zu unterdrücken; wenn eine Lüge gut ist, ist sie gut und daher zu verbreiten.

Lüge ist ein probates Mittel, genauso wie die Wahrheit. Man muss flexibel sein und auch gut mixen können. Und jetzt bitte keine Kindersprüche wie etwa, dass die Wahrheit immer ans Licht kommt, dass Lügen kurze Beine haben, oder gar, dass man jemandem, der dreimal lügt, nicht mehr glaubt. So ein Blödsinn. Plausibilitäten von Täuschungen beherrschen unsere alltägliche Kommunikation. Oberflächlich betrachtet sind Unternehmen Erscheinungen von Inseraten und Resultaten, in Wirklichkeit aber sind sie Black Boxes, wo es dann regelmäßig verwundert, was bei Siemens und BAWAG, bei VW und Postbank alles möglich ist. Aber auch wenn gelegentlich die Eingeweide nach außen treten, sind es bloß Organe, die austreten, und nicht Organismen, die sich offenbaren. Die öffentliche Beschau der Gedärme, lässt vielleicht erkennen, was in der Scheiße ist, was deren Träger gefressen und ausgefressen haben, nicht aber, wie das große Fressen und das Abfüttern im Konkreten funktionieren. Das, was wir wissen, ist harmlos gegen das, was wir nicht wissen. Und das meiste wissen wir schlicht und einfach nicht. Gerade deswegen sollten wir uns Sorgen machen.

Henrik Ibsen lässt in „Die Stützen der Gesellschaft“ (1877) seine Hauptfigur Konsul Bernick sagen: „Und zwingt uns nicht die Gesellschaft selbst, krumme Wege zu gehen? Was wäre hier geschehen, wenn ich nicht in der Stille gehandelt hätte? Alle würden sich auf das Unternehmen gestürzt haben, würden die ganze Geschichte geteilt, zersplittert, verdorben und verpfuscht haben.“ (Sämtliche Werke, Dritter Band, Berlin, o. J. , S. 512) Der höchste Eigentümervertreter der BAWAG, Fritz Verzetnitsch, hat tausendmal recht, wenn er sagt, dass er das wahre Ausmaß der Verluste von 1999/2000 vor dem ÖGB-Vorstand im Interesse von Unternehmen und Gewerkschaft hat verschweigen müssen. Hätte er geredet, hätte er BAWAG und ÖGB schon einige Jahre zuvor ins ökonomische Desaster getrieben. Derlei Wahrheiten stören nämlich nicht nur Geschäfte, sondern richten Unternehmen zugrunde.

Und tatsächlich, hätte ihnen REFCO 2005 nicht das Licht ausgeblasen, hätten die Spitzen in Bank und Gewerkschaft diese Chance der Vertuschung auch ordentlich genutzt und die Sache heil überstanden. Gerade der Misserfolg ist oft ein Verräter bitterer Wahrheiten, während der Erfolg der Hüter diverser Geheimnisse ist. „Zuweilen ist der Kaufmann, der Konkurs macht, ehrlicher als der, der es zu Reichtum bringt“, schreibt Vilfredo Pareto in seinem Werk „Das soziale System“ (§ 2264): „Ähnlich ist es häufig bei den Politikern so, dass die erwischten zu den weniger Schuldigen gehören. … In diesen Schlachten der Politiker retten sich häufig die Schlechtesten. Es ist komisch, wenn man sie hinterher die weniger Schlechten im Namen der Tugend und der Moral richten und verurteilen sieht.“ (Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1976, S. 287. )

Auch Politik kann nicht nicht korrupt sein. Helfen und Nachhelfen sind obligatorisch. Es ist schwierig, den Punkt anzugeben, wo Protektion aufhört und wo Korruption beginnt. Im Prinzip gehören sie derselben Welt an. Die Übergänge sind fließend wie der Fluss von Information und Geld. Austausch und Zueignung von Gefälligkeiten (Jobvergaben, Wohnungsmittlungen, Beförderungen u. v. m. ) gehören seit ehedem zum politischen Geschäft, und es ist ein Geschäft. Die Intervention ist nicht gänzlich anderen Charakters als diverse andere Interessen. Politiker sind Protektionsassistenten und daher prädestiniert für korrupte Machenschaften. Da eine Gefälligkeit und dort eine, der man sich nicht entziehen kann, und bald mag etwas notiert, aufgezeichnet oder gespeichert sein, was einmal gefährlich werden könnte. Das Problem der Politik ist nun, dass selbst die maßgeblichen Politiker nicht mehr Herren der Gefälligkeiten sind, sondern den Gefälligkeiten nicht mehr Herr werden können. Der Sog ist mächtiger als alle Sauger und Ausgesaugten.

„Kann man da nichts machen? „, ist eine Frage, die jeder von uns schon mal in verfänglichem Zusammenhang gestellt oder gestellt bekommen hat. Insbesondere von Politikern wird des Öfteren verlangt und erwartet, etwas zu tun, was sie nicht dürfen, wohl aber können. „Die Hälfte der Interventionen ist jenseits der Legalität. Die können wir nicht alle erfüllen“, sagte sinngemäß ein nicht nur mir bekannter Politiker. Off records. Der Politiker ist kein größerer Lump als der Bürger, den er vertritt und bedient. Wer eine Bagage sehen will, werfe zuerst einen Blick in den Spiegel. Das sollte aber weder Trost noch Anklage sein, sondern lediglich eine ernüchternde Feststellung.

Erkannt (nicht zu verwechseln mit anerkannt! ) werden sollte, dass Korruption erfolgreichen Handlungen wie Verhandlungen nicht abträglich ist, sondern zumeist ungemein förderlich. Das sagt man zwar nicht, aber alle Praktizierenden wissen es. Nicht zu Unrecht spricht man davon, dass Geschäfte wie geschmiert laufen. Korruption, richtig dosiert, ist zweifelsohne ein wichtiges Schmier-, ja Treibmittel: Beschleuniger, Abkürzer, Erleichterer. Das, was hochkommt, ist ein Bruchteil dessen, was skandalträchtig sein könnte. Wobei der Prozentsatz, der auffliegt, nicht unbedingt steigt, denn der ist abhängig von der begrenzten Aufnahmekapazität des Publikums, wohingegen der Prozentsatz, der auffliegen könnte, im Steigen begriffen ist, weil die Informationskanäle sich immer vielfältiger gestalten und Geheimhaltung schwieriger wird. Wir wissen alle nicht, was von uns alles gewusst wird oder gegebenenfalls in Erfahrung gebracht werden könnte.

Kriminelle Energie ist ein Kennzeichen unserer Normalität, keines der Divergenz. Sie ist in dieser Gesellschaft eben nicht in erster Linie als persönliches Manko, sondern als strukturelle Setzung zu charakterisieren. Man mag Delinquenten also verurteilen und strafen, aber damit ist wenig gelöst und schon gar nichts geklärt. Wenn jemand aus dem Verkehr gezogen ist, ändert das für den Verkehr wenig, vor allem, wenn das Skandalisieren zum Verkehr gehört und nicht, wie allgemein angenommen, der Skandal eine Verkehrsstörung ist. Mit Affären immunisiert sich das Gesellschaftssystem gegen substanzielle Angriffe, indem es regelmäßig Säuberungen und Opferungen veranstaltet. Esoterisch sind diese ein quasi religiöses Ritual der Reinigung, exoterisch ein Räuber- und Gendarmspiel für Erwachsene.

Objektiv versucht die Skandalisierung nichts anderes, als die Korruption zu optimieren, d. h. Über- und Unterproduktion zu vermeiden. Bis zu einem gewissen Maß wirft Korruption Erträge ab, aber ab einem gewissen Übermaß wird sie uneinträglich und gerade deswegen unerträglich. Doch das wäre bereits ein eigenes Thema. Aufgabe von Politik und Justiz ist es jedenfalls nicht, die Korruption zu beseitigen, sondern sie entsprechend zu verwalten, ein bestimmtes Verhalten als Schuld zu definieren, und unentwegt von Fehlern und Schwächen einzelner Täter zu schwätzen. Das ist zwar auch nicht ganz falsch, aber es ist nur ein untergeordneter, wenn auch offensichtlicher Aspekt, vorausgesetzt er erblickt überhaupt das Licht der Welt. Jeder Skandal gerät so zur Beschau des Personals unter Ausblendung der es bedingenden Struktur. Wölfe sagen, dass es unter ihnen auch schwarze Schafe gibt. Was alle Schafe sofort glauben.

Bei der Frage, ob wir rein bleiben oder im Geschäft bleiben wollen, entscheidet sich das Gemüt meist für das Geschäft, auch weil da mehr rein kommt, als wenn man rein bleibt. Seriös oder unseriös, das war bei Geschäften nie die entscheidende, aber doch eine wichtige Komponente. Inzwischen ist aber auch der Kurs der Seriosität im Sinken begriffen. Zuschlag hat Handschlag ersetzt. Nur wer zuschlagen kann, erhält den Zuschlag. Mit dem Risiko steigt die Korruption. Erfolgreiche Businessexemplare sind fast ausschließlich Leute, die sich etwas trauen, aber auf nichts mehr vertauen können, weil sie in ihren Konkurrenten zu Recht ein Spiegelbild ihrer selbst vermuten. Gute Geschäfte haben immer etwas Verwegenes, ja Mafioses an sich.

Eine Studie über den tendenziellen Fall von Integrität im Geschäftsleben aufgrund objektiver Zwänge wäre von großem Interesse. Skandal und Affäre können aber nur dann die Balance halten, wenn sie nicht gänzlich aus dem Ruder laufen. Oder wie es Josef Votzi einmal in einer grenzgenialen Formulierung ausdrückte: „Macht-Missbrauch braucht Kontrolle.“ (profil 26/96) Das scheint auch Ex-Kripo-Chef Herwig Haidinger anzudeuten, wenn er gar kryptisch meint: „Korruption übersteigt erträgliches Maß“ (Kurier, 24. Februar 2008, S. 5) Das mit dem erträglichen Maß ist allerdings so eine Sache. Die, die die Erträge haben, hätten gerne, dass die anderen sauber bleiben. Und die, die die Erträge nicht haben, wollen, wenn es nicht gelingt, die anderen zu säubern, auch unsauber sein dürfen, um Wettbewerbsnachteile auszugleichen. So ziemlich alles spricht für die Verschmutzung.

Normalität ist keine Konstruktion der Norm, sondern die Norm ist eine von vielen Referenzen der Normalität, und zwar die ideelle Referenz der sich selbst täuschenden Getäuschten. Sie glauben, dass etwas so sein muss – was falsch ist, und nicht, dass sie sich etwas einbilden müssen – was richtig wäre. Auch wenn die Norm sich als Vorgesetzte referiert, sollte keine ernsthafte Analyse auf diese Anmaßung hereinfallen. Wenn etwa die Grünen im Nationalratswahlkampf 2006 Inserate schalten mit „Es geht auch ohne Skandale und Machtmissbrauch. Garantiert“, dann ist das schlichtweg Volksverblödung.

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Im politischen Betrieb, und es ist ein Betrieb, geht es heute hauptsächlich darum, den Kontrahenten Dreck am Stecken nachzuweisen oder anzudichten. Der immanente Ruf nach der großen Säuberung ist da fast eine logische Konsequenz. Der Skandal schreit nach dem Aufräumer, der da den Saustall ausmistet und endlich für Ordnung sorgt. Da rappt dann der H. C. Strache: „Skandale, Bestechung, Korruption und Verrat/ Das sind die Eckpfleiler in unserem Staat. / Es wird Zeit, dass da jemand dagegen anrennt/ Der aufpasst, der aufschreit, Missstände aufzeigt…“ usw. , usf. Dass das Rappen etwas für Deppen sei, ist übrigens schon Nestroy aufgefallen, nur weiß ich nicht mehr, in welchem Stück.

Unsere emotionale Empfindung pendelt zwischen Empörung und Indifferenz. Kurzatmige Aufgeregtheit und dumpfe Gleichgültigkeit reichen sich oft die Hand. Alles spielt auf der Ebene „unproduktiver Empörung“ (Karl Kraus). Medien stacheln, Politiker sticheln, das Publikum gibt sich entsetzt, die Volksseele kocht und die Wähler denken an den Denkzettel, also kaum. Empörung würde erst dann produktiv, wenn sie sich nicht auf eine Sache kapriziert, sondern sich selbst und die Gesellschaft insgesamt zum Gegenstand der Betrachtung macht. Nur so kann Unbehagen sich in Kritik transformieren. Was kaum passiert.

Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen, ist schon eine Wahrheit. Allerdings, was folgt gewöhnlich daraus? Nun eben, dass die Kleinen auch die Großen hängen sehen wollen und nicht, dass das mit dem Hängen überhaupt eine verkehrte Weise sei, dem Verkehrten zu begegnen. Die hängen gelassen werden, haben immer einen Hang zum Hängen. Sie lieben den kurzen Prozess, wohl auch deswegen, weil sie andauernd erleben, wie grob abgefertigt und billig abgespeist sie werden. Sie wollen abrechnen und heimzahlen. Sie sind adäquater Ausdruck der Verhältnisse, Opfer, die sich gerne als Täter aufspielen würden. Ihre Richtung heißt Hinrichtung. Wir werden keinen Richter brauchen, sagen zugerichtete Laienrichter. Heißgemachte wollen kaltmachen.

Solch Kundschaft ist ohne entsprechende Botschaft nicht denkbar. Vice versa. Vorlagen reproduzieren Kurzschlüsse, die wiederum Vorlagen erzeugen. Sie schaukeln sich gegenseitig auf. Publikum braucht Medium braucht Publikum… Natürlich werden manche Aufdecker, die sich als Aufklärer verstehen, das nicht wollen, aber was sie treiben, treibt dorthin. Ihre Handlungen legen diese Konsequenzen nahe. Doch auch die Medien sind nicht nur Betreiber, sondern auch Betriebene im Kampf um Quote und Absatz. Massenmedien stehen unter dem Gebot permanenter Sensationierung. Sie werden es so lange tun, so lange es ein Geschäft ist. Und der Skandal ist der Verkaufsschlager. Ganze Medienkonzerne bauen drauf auf, setzen auf ihn. Was wäre etwa die Fellner-Company ohne Skandalisierung? – Nichts!

Die Attraktivität von Affären liegt auch in der Tristesse des Alltags. Da ist wenigstens was los, da tut sich was. Jene befriedigen ein Bedürfnis. Wobei sich die Haltung nicht aus dem Delikt ergibt, sondern daraus, ob Coups gelungen sind oder nicht. Große Gauner sind oft ein Objekt der Verehrung, gestrauchelte hingegen ein Objekt der Verachtung. Leistet man Ersteren ideell Gefolgschaft, so sind Letztere als Schufte enttarnt und der Verfolgung preisgegeben. Es geht nie gegen die Deliquenz an sich, es geht auch hier gegen die Loser.

Es ist gerade der Aufdeckungsjournalismus, der das Unbehagen ins Ressentiment wandelt, ob er es nun bezweckt oder nicht. Es geht um Registrieren und Kassieren, nicht um Reflektieren und Kapieren. Mag das Unbehagen seine Berechtigung haben, so ist das Ressentiment eine Verunglückung. Dem unglücklichen Zustand folgt eine unglückliche Sicht. Nicht eine Gesellschaft kommt mit sich ins Reine, es werden vielmehr Rituale einer regelmäßigen Säuberungsaktion, demokratische Schauprozesse, geboten. Es geht um Ersatzbefriedigungen für ein Publikum, das nach Opfern und fremden Intimitäten giert. Die unaufhörlichen Sex-and-Crime-Spiele der Journaille befriedigen die niedrigsten, ja widerwärtigsten Instinkte, sie fördern primär Neid, Missgunst, Schadenfreude. – Rübe ab! Schwanz ab! Ab! Ab! Ab!

Skandalisierung liefert den Text (nicht bloß den Subtext) für die Aggressivierung diverser Potenziale. Dort, wo dann die Empörung „unfassbar“ schreit und „ungeheuerlich“ zu sagen pflegt, weiß man, dass das Hirn entweder ausgeschaltet oder nie eingeschaltet wurde. Wer meint, dies oder jenes sei ein Wahnsinn, gibt nur zu erkennen, nichts erkennen zu wollen. Der Satz „Das darf doch nicht wahr sein“ zeigt an, wie Leute denken. Sie wollen die Wahrheit gar nicht so recht wissen, sie ist störend, nicht befreiend, sie ist eine Enttäuschung, da gibt man sich doch lieber den Täuschungen hin. Derer sind viele und die andern machen’s doch auch. Lasset uns dumm sein! Besser gemeinsam als einsam!

So kommt man als Kritiker in die unsägliche Rolle, gelegentlich sogar die Korruption gegen die Jäger zu Pferd (Medien, Politik, Justiz) und zu Fuß (Mob, Stammtisch) zu verteidigen. Schon Karl Kraus erging es so: „Aber freuen wir uns, dass die Dummheit hierzulande wenigstens ein Korrektiv findet: die Korruption! “ (Sittlichkeit und Kriminalität, Frankfurt am Main 1978, S. 270) Es ist freilich ein schwacher, ja resignierender Trost. Es soll hier auch nicht die offizielle Politik in Schutz genommen werden, aber dezidiert ist anzusprechen, dass die Skandalisierung selbst eherner Bestandteil des kulturindustriellen Spektakels ist. Sie ist ja auch Kennzeichen der im Populismus untergehenden Politik. Kein Wahlkampf, ja keine Parteienauseinandersetzung mehr ohne systematische Skandalisierung. Sieht die eine Partei sich von der anderen kriminalisiert, kriminalisiert sie die andere ebenso. So campaignisieren sie sich regelrecht nieder.

Was für die Politik gilt, gilt für den gesamten Sektor der Kulturindustrie, insbesondere für die Medien. Wer andauernd Stimmungsbilder veröffentlicht, wo zuvor in suggestiver Weise danach gefragt wird, ob Elsner in den Häfen soll oder nicht, zeigt wie solche Organe und die von ihr Reorganisierten ticken. Es ist eine aggressive Weggetretenheit, die hier herrscht. Skandale sind Highlights, von und für Leuchten, die high sein wollen. Wenn dann 90 Prozent laut Umfrage für Einsperren sind, wie viele sind eigentlich fürs Aufhängen? Man sieht, was die Leute sehen und wie sie sich Lösungen vorstellen. Es herrscht der Volksgerichtshof der Meinungsumfrage. Ein ganzes Land entdeckt seine Lust an „klickenden Handschellen“, nicht nur der vielgescholtene Stammtisch. Kaum eine Phrase hatte im Sommer 2006 eine solche Karriere gemacht wie diese.

So sprach nicht nur einer aus, was jetzt folgt: „Dass diese Leute dann noch auf freiem Fuß herumspazieren, Golf spielen und sich in französischen Prachtvillen vergnügen und ihre Penthäuser noch immer nicht zurückgegeben haben, ist einfach unglaublich. Ich versteh‘ ehrlich gesagt nicht, wieso da die Handschellen noch nicht geklickt haben.“ Im populistischen Wordrap: „Diese Leute“, „Golf spielen“, „Prachtvillen“, „Penthäuser“, „frei herumspazieren“, „vergnügen“, „unglaublich“, – „Handschellen klicken! “ Hier offenbart sich der gesunde Menschenverstand der öffentlichen Meinung in all seiner beschränkten Gemeinheit. Wer das gewesen ist? Landesvater Haider? Die zerstrittenen Gebrüder Strache und Westenthaler? Onkel Pröll? Neffe Pilz? Natürlich hätte es jeder sein können, tatsächlich gewesen ist es aber der Kanzler höchstpersönlich, der in einem Interview mit dem Kurier vom 25. Juni 2006 (S. 4) sein Volksempfinden nachdrücklich unter Beweis stellte.

Resümee gefällig? Dieser Staat mag verlottert, sumpfig, ja bananig sein, aber er ist nicht verlotterter, sumpfiger oder bananiger als ähnliche westliche Demokratien. Er ist auch kein Nachzügler, sondern Avantgarde, zumindest was die populistischen Spektakel betrifft. Dieses ist abgedrehter, zugespitzter und in gewisser Hinsicht auch lustiger als etwa bei den endlosen Langeweilern durchgeknallter Ernsthaftigkeit in deutschen Landen. Wird es mal fad, dann füllt Nepomuk Napoleon im Etablisment persönlich ab, und lässt ihn anderntags betrunken durch die Felberstraße kutschieren. Vorher hatte man in irgendeiner Sonderbar noch gemeint, jetzt traue er sich das aber nimmer. Und ob er sich traut, der Napoleon. Und dann findet man im karibischen Zweitkeller des alten Flöttl auch noch brisante Unterlagen. Man sieht, man hält uns nicht nur auf Trab, die Skandalisierung gleicht einer galoppierenden Fallsucht.

Auffällig ist die mediale wie mentale Überdimensionalisierung von Affären. In Österreich gleichen sie stets einer riesigen Rauschpartie, wo alle, je nach Milieu besoffen, bekifft oder eingekokst sind. Kein Nestroy hätte so viele Rollen zu vergeben. Das ganze Land spielt mit: die Oberen und die Unteren, die gesellschaftliche Mitte und ihre Extremisten, Aufdecker und Zudecker, Polizisten und Geschäftsleute, die Justiz, die Bürokratie, die Parteien, der Kanzler und die Ex-Kanzler, die Schlitzohren und die Neider, die Upgegradeten und die Outgesourcten, die Saubermänner und die Schmutzfinken, die Oberfläche und die Unterwelt. Auch der hier publizierende Autor bemächtigt sich bloß der Rolle eines Schreiberlings, der Krähwinkels Schande akkurat anders interpretiert sehen will. Wer braucht das? Zur Strafe findet sich übrigens eine Figur gleichen Namens, wie könnte es anders sein, in Nestroys Original.

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