Notizen aus der Begriffswerkstatt (2)

Kinder

Streifzüge 42/2008

von Ulrich Enderwitz

Kinder sind Mangelware – und das in einem ganz unmetaphorischen Sinn, wie die Bemühungen, dem Mangel abzuhelfen, beweisen, die zunehmenden Werbekampagnen fürs Kinderkriegen und Kinderhaben, die Fernsehspots und Reklametafeln, die, statt Autos, Waschmittel und Süßigkeiten zu plakatieren, fröhliche Kinder und Genrebilder vom Elternglück und vom Familienidyll malen. Dass bei der Ware Kind die Reklame anders als bei den üblichen Waren die Adressaten nicht als gesellschaftliche Konsumenten zum Gang auf den Markt zu motivieren, sondern als persönliche Produzenten zum Gang ins Bett zu bewegen dient – dieser Unterschied erklärt sich aus den besonderen Produktionsbedingungen dieser Ware und fällt gegenüber ihrer Gleichartigkeit mit den anderen Waren, die eben ihre Integration in den Reklamezusammenhang, eben die Tatsache stiftet, dass für sie kommerziell geworben wird, kaum ins Gewicht.

Unlust

Dabei ist der reklamatorische Kampf gegen die Fortpflanzungsunlust in unseren hochindustrialisierten Konsumgesellschaften ein Kampf gegen Windmühlenflügel, da sich die Unlust doch ganz folgerichtig aus der Beschaffenheit dieser Gesellschaften ergibt, eine quasi natürliche Konsequenz der die letzteren durchwaltenden Logik ist. In Gesellschaften wie den unseren, in denen relativer Überfluss, ein Armut zur marginalen Erscheinung, zum Stigma von Minderheiten machender Reichtum, herrscht, entfallen die wichtigsten Motive fürs Kinderkriegen. Nicht nur werden Kinder nicht mehr für die Alterssicherung, sprich, dafür gebraucht, die alt und arbeitsunfähig gewordenen Eltern als quasi Kinder zweiter Ordnung durchzufüttern, in einer Situation, in der die direktem staatlich-rechtlichem Schutz unterstellte Kleinfamilie als sprichwörtliche Keimzelle der Gesellschaft in einem weitgehend gefahrlosen Naturmilieu friedlich mit ihresgleichen koexistiert, spielt außerdem eine möglichst zahlreiche Nachkommenschaft nicht mehr die Rolle, die sie zu Zeiten spielte, da die als Grundeinheit der Gesellschaft firmierende Stammesgemeinschaft, Großfamilie oder Sippe sich gegen die Aggressionen der gar nicht oder kaum durch ein allgemeines Recht und eine öffentliche Ordnung in Zaum gehaltenen Artgenossen und gegen die Unbilden einer nur unvollständig unterworfenen und beherrschten natürlichen Umwelt behaupten musste.

Hinzu kommt, dass die lebensverlängernden Fortschritte in der Krankheitsbekämpfung, der Hygiene und der Ernährung die durchschnittliche Lebensdauer in solchem Maße verlängert haben, dass die Fortpflanzung ihre Bedeutung als eine Art von Überlebensstrategie, von die frühe Sterblichkeit kompensierender Lebensübertragung, verloren hat und der Einzelne eher die Illusion der eigenen Unsterblichkeit kultivieren kann, als dass er seine Zuflucht zu der tröstlichen, weil mit dem Tod halbwegs versöhnenden Idee eines Fortlebens in den eigenen Kindern nehmen müsste. Und auch die als List der Natur erscheinende Lustprämie der sexuellen Betätigung, mit der die Fortpflanzung von Haus aus verknüpft ist, hat ihre Verführungskraft verloren, da effektive Empfängnisverhütungsmethoden dafür gesorgt haben, dass eben jene Verknüpfung keine Verbindlichkeit mehr besitzt und der Organismus die Lust genießen kann, ohne den generischen Zweck erfüllen und die Last der biologischen Reproduktion in Kauf nehmen zu müssen.

Vor allem aber das Leben in der hochindustrialisierten Konsumgesellschaft selbst verträgt sich denkbar schlecht mit dem Kinderkriegen, besser gesagt, mit den sozialen Konsequenzen des biologischen Vorgangs: der Aufzucht der in die Welt gesetzten Kinder. Wie sollten die mittlerweile fast unterschiedslos beide Geschlechter okkupierenden gesellschaftlichen Verpflichtungen des Konsums und der Karriere noch Raum lassen für die ebenso zeitaufwendige wie beschäftigungsintensive, die ebenso emotional engagierende wie real vereinnahmende Aufgabe, Kinder bis zur Reife zu versorgen und zu erziehen, wenigstens achtzehn Jahre lang rund um die Uhr für sie da zu sein und sie zu betreuen?

Wie sollte die doppelte, von der Gesellschaft gebieterisch erhobene Forderung, an der kapitalistischen Wertschöpfung nach Kräften mitzuwirken und sich nicht minder engagiert an der für den Kapitalprozess unabdingbaren Realisierung der geschaffenen Werte, sprich, dem ökonomisch als Überführung der materialen Wertgestalten in allgemeines Äquivalent, Geld, erscheinenden Konsum des Geschaffenen zu beteiligen – wie sollte diese doppelte Forderung mit dem Vorhaben vereinbar sein, im Rahmen der als Keimzelle der Gesellschaft hochgehaltenen Kleinfamilie Kinder in die Welt zu setzen und durch jahrelange Ernährung, Pflege, Erziehung und Unterweisung in der Welt heimisch werden und zu vollgültigen Mitgliedern des Sozialcorpus heranwachsen zu lassen?

Überbeanspruchung

Dass die Kinderaufzucht im Rahmen der Kleinfamilie zu geschehen hat und dass dem für die Fortpflanzung sorgenden Paar die Hauptlast und entscheidende Verantwortung aufgebürdet wird, ist das offenkundige Dilemma, das zur Überbeanspruchung der Betroffenen führt und sie im Zweifelsfall dazu bringt, aufs Kinderkriegen zu verzichten, um wenigstens den genannten gesellschaftlichen Forderungen genügen und sich ungeteilt in den Arbeitsprozess und die damit verknüpfenden sozialen Aktivitäten einbringen beziehungsweise sich mit ganzer Kraft konsumtiv betätigen, sich ein trautes Heim einrichten und Anschaffungen leisten, die Gastronomie unterstützen, Reisen machen und an der Kultur- und Vergnügungsindustrie partizipieren zu können. Damit das Kinderkriegen sich mit jener konsumgesellschaftlichen Beanspruchung vereinbaren ließe, müsste den Eltern die Last der Kinderaufzucht teilweise oder gar weitgehend abgenommen, müssten Institutionen geschaffen werden, die die Erhaltung und Erziehung des Nachwuchses sozialisierten, als gesamtgesellschaftliche Aufgabe realisierten.

Nicht, dass es an solchen Einrichtungen – Krippen, Kindergärten, Kinderläden, Ganztagsschulen, Jugendklubs – vollständig mangelte! Zu offenkundig ist unter den gegebenen konsumgesellschaftlichen Bedingungen die hoffnungslose Überforderung der Kleinfamilie, als dass ohne solche Einrichtungen die Aufrechterhaltung wenigstens eines Minimums an demographischer Reproduktion überhaupt noch möglich wäre. Aber weil an der Kleinfamilie als der gegen alle Empirie zur Keimzelle der Gesellschaft verklärten sozialen Grundeinheit aus ökonomischen ebenso wie aus ideologischen Gründen festgehalten wird, weil die kapitalistische Gesellschaft auf sie als Stätte eines hypertrophen Konsums und als Bollwerk gegen sozialistische Kollektivierung und Gleichschaltung ebenso sehr ökonomisch baut wie ideologisch schwört, bleiben jene Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Kinder ebenso peripher wie rudimentär und ebenso unsystematisch wie umstritten.

Ein der konsumgesellschaftlichen Negation trotzendes positives Verhältnis zur Fortpflanzung findet sich noch am ehesten dort, wo das Kinderkriegen Sukkurs durch einen starken sozialen Traditionalismus oder religiösen Dogmatismus erhält, wo also ethnische Minderheiten sich in ihren mitgebrachten, herkömmlichen Verhaltensweisen einigeln oder Nationen aus welchen Gründen auch immer einen inkonsequenten Säkularisierungsprozess durchlaufen haben und ihrer auf die Heiligkeit von Ehe, Fortpflanzung und Familie pochenden Religion die Stange halten.

Weniger religiöser Dogmatismus als die Reaktion auf politischen Fanatismus dürfte für das entgegengesetzte Extrem auf der Skala konsumgesellschaftlichen Verhaltens in Sachen Kinderkriegen, nämlich für die aus dem Rahmen fallende Fortpflanzungsunlust in Deutschland und Österreich, den Kerngebieten des nach zwölfjähriger Schreckensherrschaft zu Fall gekommenen Tausendjährigen Reiches, verantwortlich sein. Angesichts der Schamlosigkeit und Penetranz, mit der das seinen globalen Krieg zu führen und die weiten Räume, deren Eroberung es plante, mit Volksgenossen zu füllen entschlossene nationalsozialistische Regime Mutterschaft und Kinderreichtum unter dem Deckmantel ihrer Glorifizierung instrumentalisierte, kann schwerlich verwundern, dass in einer klassischen, durch das Schuldbewusstsein, das ihre bereitwillige Mitwirkung beim mörderischen Geschäft ihrer Führer in ihnen hinterlassen hat, noch verstärkten Reaktionsbildung die beiden Völker sich heute mit besonderer und die Determination, die sich aus dem konsumgesellschaftlichen Milieu erklärt, übertrumpfender Entschiedenheit der also pervertierten und in ihrer lebensbejahenden Bedeutung von Grund auf diskreditierten Fortpflanzung enthalten.

Unbeschadet indes der unterschiedlichen Ausprägungen und Stärkegrade der Fortpflanzungsunlust bleibt sie eine für die zurzeit noch vorwiegend westlichen Konsumgesellschaften durchweg charakteristische Tatsache. Eine Tatsache, an der eigentlich auch gar nichts auszusetzen ist, die vielmehr aus geopolitischer Sicht eindeutig begrüßenswert scheint. Schließlich kann eine Verlangsamung oder auch Einstellung des demographischen Wachstums angesichts des Volumens, das die Erdbevölkerung mittlerweile erreicht hat, und angesichts der ökonomischen und ökologischen Belastungen, denen die in den letzten Jahrhunderten solchermaßen ins Kraut geschossene menschliche Spezies ihre Brutstätte, die Erde, nachgerade aussetzt, für beide, für die Erde und die auf sie nolens volens angewiesene Menschheit, nur von Vorteil sein.

Und selbst wenn die in den avancierten Konsumgesellschaften offenkundige Fortpflanzungsunlust das demographische Wachstum nicht bloß hemmt oder zum Stillstand bringt, sondern mehr noch in einen Schrumpfungsprozess umschlagen lässt, scheint das doch alles andere als ein Unglück, da ja in anderen Weltteilen das Wachstum nach wie vor relativ ungebremst vor sich geht und also unter den gegebenen Umständen der Bevölkerungsschwund hier einen Beitrag zur Kompensation der Bevölkerungsexplosion dort und zur dringend nötigen Stabilisierung der demographischen Entwicklung der menschlichen Spezies bedeutet. Wer es mit der Menschheit irgend gut meint und nicht einem bornierten Stammesdenken den Oikos Erde aufzuopfern bereit ist, wird eine künftige Erdbevölkerung, die sich weitgehend aus Chinesen und Indern rekrutiert, gewiss nicht für ein Skandalon halten.

Fortpflanzungseifer

Wieso aber dann die oben erwähnten Werbekampagnen pro domo des Kinderkriegens und des Kleinfamilienidylls? Wieso das in ihnen zum Ausdruck kommende, ebenso lächerliche wie verkrampfte Bemühen, den unter der Last der konsumgesellschaftlichen Anforderungen erlahmten Fortpflanzungseifer der Staatsbürger neu zu entfachen? Ist bei den Initiatoren jener Reklamefeldzüge für die Mangelware Kind besagtes borniertes Stammesdenken am Werk? Auch wenn fixe Ideen nationalistischen Inhalts beziehungsweise rassistische Wahnvorstellungen in den Köpfen bajuwarischer, westfälischer oder sächsischer Kinderfreunde als Zusatzmotiv eine Rolle spielen mögen, der entscheidende Grund für ihre Werbekampagnen sind sie nicht! Der nämlich ist nicht rassistischer oder nationalistischer, sondern schlicht ökonomischer Natur.

Er ist in der kapitalistischen Ökonomie unserer Gesellschaften zu finden, genauer gesagt, in dem für diese Ökonomie und ihren Akkumulations- oder Verwertungsdrang grundlegenden Prinzip, dass aller im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise geschaffene Mehrwert, wenn irgend möglich, in neue Wertschöpfungsprozesse investiert und zur weiteren Entfaltung des gesellschaftlichen Produktionsapparats verwendet werden, sprich, einem ad infinitum fortlaufenden Wirtschaftswachstum zugute kommen muss und dass deshalb die Subsistenzbedürfnisse der den Wert schöpfenden arbeitenden Bevölkerung ausschließlich aus dem ihr als Arbeitslohn zufallenden Teil der produzierten Wertmasse befriedigt werden darf – wobei mit Subsistenzbedürfnissen nicht etwa nur das Auskommen der Arbeitenden selbst und der von ihnen unterhaltenen Familien, sondern auch und mehr noch die Versorgung der wegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit oder aus Altersgründen am Wertschöpfungsprozess unbeteiligten Bevölkerungsgruppen gemeint ist.

Um Letzteres, die Versorgung der aus dem Arbeitsleben Ausgeschiedenen, zu gewährleisten, gibt es das Rentensystem, ein System, bei dem die arbeitenden Gruppen einen Teil ihres Arbeitslohns an eine gemeinsame Kasse abführen, aus der die Subsistenz der nicht mehr arbeitenden Gruppen finanziert wird. Was die in die Rentenkasse einzahlenden Gruppen zur Mitwirkung motiviert, ist die Aussicht, in Zukunft, wenn sie selbst aus dem Arbeitsleben ausscheiden, ihrerseits aus der Kasse remuneriert zu werden. Hier genau aber wird die besagte Fortpflanzungsunlust der konsumgesellschaftlichen Populationen zum Problem. Ausreichende Zuwendungen aus der Rentenkasse können die aufs Altenteil Gesetzten nur erwarten, wenn die folgenden Generationen die Kasse hinlänglich bestücken. Und das können letztere nur, wenn sie – das zusätzliche Problem der Beschäftigungssituation einmal ausgeklammert – zahlreich genug sind, um die richtige Proportion zwischen den in die Kasse Beiträge Einzahlenden und den aus der Kasse Beiträge Beziehenden zu gewährleisten.

Hier also liegt das eigentliche, ökonomische Problem, das konsumgesellschaftliche Fortpflanzungsunlust schafft – dass die zahlenmäßige Stagnation oder gar Schrumpfung der folgenden Generationen die Versorgung der vorangehenden Generationen in Gefahr bringt, wobei diese Bedrohung des Rentensystems durch mangelndes Bevölkerungswachstum noch durch die erwähnte gleichzeitige Tendenz einer Zunahme des durchschnittlichen Lebensalters verschärft wird. Beides, dass zu wenig Nachwuchs geboren wird und dass die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, wirkt zusammen, um das System der bürgerlich-bürokratisch zum Generationenvertrag erklärten generischen Solidarität ins Wanken zu bringen.

So jedenfalls die Argumentation der Initiatoren der aufs Kinderkriegen zielenden Werbekampagnen. Wohlgemerkt, einen Sinn gewinnt diese Argumentation nur unter der oben angegebenen kapitalistischen Voraussetzung der strikten Trennung von Lohn und Mehrwert und der darauf fußenden Kautel, dass der Mehrwert dem Verwertungsprozess zuzuführen und für weiteres Wirtschaftswachstum zu verwenden ist, während alle subsistenziellen und konsumtiven Bedürfnisse der an der Wertbildung gegenwärtig, zukünftig oder vormals beteiligten Gruppen ausschließlich aus der Lohnsumme befriedigt werden müssen. Würde dieses Prinzip aufgegeben und wäre die Bereitschaft da, auf Kosten weiterer Akkumulation und weiteren Wachstums den jeweils produzierten Mehrwert ganz oder teilweise für die Altersversorgung zu verwenden, die durch den Bevölkerungsrückgang in die Rentenkassen gerissenen Löcher ließen sich mühelos und vermutlich lange genug stopfen, um den betreffenden Gesellschaften die Gelegenheit zu geben, sich entweder in aller Ruhe abzuwickeln und friedlich dahinzuscheiden oder aber ein neues Äquilibrium in der Generationenabfolge zu erreichen und durch das – notfalls mithilfe einer Erhöhung des Rentenalters – wiederhergestellte Gleichgewicht zwischen den arbeitenden und den aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Bevölkerungsteilen das Altersversorgungsproblem aus der Welt zu schaffen.

In Wahrheit findet, aller kapitalistischen Prinzipienreiterei zum Trotz, dieses Löcherstopfen ja auch bereits traditionell statt – und zwar sowohl direkt und regelmäßig, nämlich im Rahmen der Sozialversicherung, die die Zahlung eines Arbeitgeberanteils in die Rentenkasse vorsieht, als auch indirekt und ausnahmsweise, in Form von staatlichen Zuschüssen zur Altersversorgung, von Steuermitteln, die der Staat in die Rentenkassen fließen lässt, um diese gegebenenfalls vor der drohenden Zahlungsunfähigkeit zu bewahren. Angesichts dieser mittlerweile ebenso eingefahrenen wie bewährten Praxis einer die Finanzierung des Rentensystems aus der Lohnsumme ergänzenden Bezuschussung der Rentenkassen aus der Mehrwertmasse wirkt das Insistieren der heutigen konsumgesellschaftlichen Demokratien auf dem Prinzip einer strikten Trennung von lohnfinanzierter Altersversorgung und wachstumsdienlicher Mehrwertverwendung und wirken zumal die unter der Devise einer Senkung der Lohnnebenkosten unternommenen Versuche, dem Prinzip wieder in praxi und uneingeschränkt Geltung zu verschaffen, wenig realistisch und als Ausfluss einer marktwirtschaftlich-liberalistischen Wachstumsideologie reichlich borniert.

Irrenlogik

Schaut man indes genauer hin und sieht ab von jenem wachstumsideologischen Alibi, um die wirkliche Lage unserer nationalen Volkswirtschaften in den Blick zu bekommen, gewahrt man die eigentliche Motivation hinter jener vermeintlichen Prinzipienreiterei. Von einer Verwendung des gesellschaftlichen Mehrwerts zum Zwecke eines positiven gesellschaftlichen Wirtschaftswachstums kann nämlich angesichts der weltweiten Überproduktion und Überfüllung der Märkte schon längst nicht mehr die Rede sein. Gebraucht wird der Mehrwert vielmehr einzig und allein dazu, durch Rationalisierungsanstrengungen und Preisdumping der jeweiligen Volkswirtschaft zu ermöglichen, ihre Waren so billig auf dem Weltmarkt feilzubieten, dass sie mit der Konkurrenz Schritt halten kann und, wenn schon keine Marktanteile hinzugewinnt beziehungsweise neue Märkte erobert, so jedenfalls doch ihre Marktposition behauptet und nicht der Verdrängung vom Weltmarkt anheim fällt.

Wenn also auf dem Prinzip der Trennung von Lohnsumme und Mehrwertmasse und der weitest möglichen Unverfügbarkeit des letzteren für soziale Zwecke in genere und für die Altersversorgung in specie insistiert wird, dann deshalb, weil der Mehrwert gebraucht wird, um im internationalen Kampf um die Märkte die nationale Stellung zu halten und weil seine Verwendung für andere Zwecke als den einer Verbilligung der Produktion durch Rationalisierung oder den einer Verbesserung der Konkurrenzsituation durch Preissenkungen und Rabatte gleichbedeutend wäre mit einem Ausstieg aus dem entfesselten globalen Wettrennen um Absatzchancen und einem in solchem Ausstieg nolens volens beschlossenen Zusammenbruch des in Verfolgung eines Wachstums, das nur mehr den unvermeidlichen Schrumpfprozess zu suspendieren dient, überdrehten Wirtschaftsmotors, der im Bemühen um nichts weiter mehr als die Erhaltung ihres eigenen Betriebes heißgelaufenen Produktionsmaschinerie.

Vor diesem ökonomischen Hintergrund aber verliert das reklameförmige Eintreten fürs Kinderkriegen den Anschein völlig unrealistischer Borniertheit und kehrt eine Art eigene Rationalität, eine dem Irrsinn der ökonomischen Situation geschuldete Logik hervor. Wenn wirklich für die Versorgung der nicht mehr arbeitenden Bevölkerungsgruppe einzig und allein die Lohnsumme der arbeitenden Gruppe zur Verfügung steht, dann lässt sich die Altersversorgung nur durch eine Beseitigung der konsumgesellschaftlichen Fortpflanzungsunlust und durch ein nebenbei auch noch die Verschiebung in der demographischen Alterspyramide wegen Zunahme des durchschnittlichen Lebensalters kompensierendes Bevölkerungswachstum sicherstellen. Zwar ließe sich das demographische Wachstum auch durch eine entsprechende Einwanderungspolitik, den Zuzug von ökonomischen Flüchtlingen aus der notleidenden Dritten Welt, erreichen. Aber da diese mögliche Lösung des Problems in der xenophobischen, um ihre nationale Integrität als Symbol ihres industriekapitalistischen Wohlstands besorgten Bevölkerung auf breiteste Ablehnung stößt und gesellschaftspolitisch tabuisiert ist, bleibt in der Tat nur die biologisch-natürliche Produktion ausreichender Nachwuchskontingente.

Freilich bildet dieses Rezept einer Sicherung des Sozialsystems durch ein aus völkisch eigener Kraft erzieltes Bevölkerungswachstum nur unter der Voraussetzung eine Lösung, dass für die Nachwachsenden genügend Lohnarbeit vorhanden ist, sprich, annähernd Vollbeschäftigung herrscht. Nur dann können die Betreffenden ja ihren Beitrag zur Sozialversicherung leisten, statt letzterer im Gegenteil als Empfänger von Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe zur Last zu fallen und die Nöte der Rentenkassen noch weiter zu verschärfen. Angesichts der oben erwähnten Konkurrenz um die überfüllten Märkte indes, die zu immer weiterer Rationalisierung und zu einer entsprechend fortschreitenden „Freisetzung“ von Arbeitskräften führt, die mit anderen Worten die Lohnarbeit immer stärker zugunsten einer Investition in den sächlichen Produktionsapparat zurückdrängt, lässt sich alles von der künftigen Wirtschaftsentwicklung, nur garantiert keine Vollbeschäftigung, erwarten. So gesehen, bleibt die gesellschaftspolitische Rationalität der Werbung fürs Kinderkriegen eine Milchmädchenrationalität beziehungsweise bleibt die Logik des Aufrufs zur Fortpflanzung eine dem Irrsinn der politisch-ökonomischen Situation, der der Appell entspringt, geschuldete, sprich, eine Irrenlogik.

Tatsächlich kehrt damit die derzeitige Kampagne fürs Kinderkriegen eine fatale Affinität zu den aufs Wachstum des deutschen Volkskörpers zielenden nationalsozialistischen Zuchtbemühungen hervor. Hier wie dort sollen Kinder in einer das Land heimsuchenden politisch-ökonomischen Notlage eine verzweifelte und letztlich das Scheitern höchstens vertagende Abhilfe schaffen. Dort sollen sie einer Nation, die als Konsequenz der Lösung ihrer ökonomischen Probleme einen Krieg in Kauf nimmt und die sich in Vorbereitung des Krieges als Volk ohne Raum geriert, erlauben, vor der unabwendbaren Niederlage so lange wie möglich im Feld zu stehen. Hier sollen sie einer Nation, die sich weigert, sich den ökonomischen Problemen, mit denen sie ihren konsumgesellschaftlichen Wohlstand bezahlt, zu stellen, und die dafür mit Zukunftslosigkeit bestraft wird, gestatten, so lange wie möglich in der Gegenwart zu verharren. Man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll – über den objektiven Zynismus, mit dem in beiden Fällen die künftigen Generationen für die Selbstbehauptung beziehungsweise das Wohlergehen der lebenden Generation instrumentalisiert, oder über die abgrundtiefe Dummheit, mit der Überlebensstrategien, die doch bestenfalls das Unheil aufzuschieben taugen, als seriöse Problemlösungen präsentiert werden.

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