Auf Besuch in Israel. Einige Randlossen
Streifzüge 44/2008
von Lorenz Glatz
Die junge Frau von der Security am Busbahnhof in Haifa will meinen Pass sehen. Die alte Dame neben ihr erkennt mich: groß, graues Haar, Brillen und einen großen schwarzem Rollkoffer. Sie streckt mir die Hand entgegen. Die junge ist beruhigt, winkt mich durch samt dem Gepäck – nicht einmal der Detektor schlägt an. Ich bin der erste Mensch aus meinem Heimatdorf, der sich seit 1938 bei ihr gemeldet hat, sagt Frau Lilli A. Sie war seit Krieg und Shoah zweimal wieder dort, das erste Mal ist sie nicht ausgestiegen aus dem Auto, das zweite Mal hat sie mit niemandem geredet. Sie sagt, sie weiß nicht warum. Sie kann sich auch nur an wenig erinnern aus ihren ersten zehn Lebensjahren. Sie wundert sich darüber, ich wundere mich über ihr Staunen. Erinnern ist auch in der Ortschaft meiner Kindheit nicht angesagt. Im Heimatbuch steht viel über Geschichte, auch über die Dreißigerjahre und den Krieg, bloß dass hier einmal Juden lebten und was man ihnen angetan hat, ist mit keinem Wort erwähnt.
„Niemandem wollen wir zu nahe treten, allen wollen wir die Freude vermitteln, die wir in der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte gefunden haben“, steht im Vorwort. Klar, dass da die Geschichte der Juden nicht so recht dazupasst. Niemandem zu nahe treten ist auch meine Stärke. In Summe habe ich im Lauf der Jahre einiges erfahren, aber nie beharrlich nachgefragt, wenn ich in den Ferien aus dem Internat nach Hause gekommen bin. Es hätte mir ja vielleicht die Freude und das Vertrauen verdorben, die ich so dringend gebraucht habe. Aber es ist viel länger so geblieben. Ich war schon Ende fünfzig, bis mir die Erinnerung an den März 38 unter die Haut gegangen ist. Und das war weit weg von daheim. Keine Ahnung, warum es mich ausgerechnet im Holocaust Museum in Washington DC gepackt hat, als ich in einem Computer unter den Daten von „survivors of the Holocaust“ den Namen einer Nachbarin gefunden habe, von der ich meine Eltern habe reden hören. Viel neu war mir da nicht, aber wissen und spüren ist nicht dasselbe. Wissen ist eher harmlos. Jedenfalls tut es nicht weh. Ich habe mehr als ein Jahr gebraucht, bis ich Frau A. ausfindig gemacht hatte. Die Verzögerung hatte mit äußeren Schwierigkeiten weniger zu tun als mit Empfindungen. Gedrängt danach habe ich mich nicht, mit sechzig noch die einigermaßen heile Welt der Kindheit zu demontieren.
Ich wohne zuweilen noch im Elternhaus, sogar meine Babysachen sind noch dort. Die paar Fotos und das bissl Pofel der Familie von Frau A. , mit denen sie es bis in Haifas Hafen geschafft hatten, liegen seit November 40 auf dessen Grund. Der Vater wollte nach England, es ist eine Flucht nach Palästina geworden. Vor Haifa lud die britische Mandatsmacht die Flüchtlinge – zur Beruhigung der militanten Araber – auf die „Patria“ um, für die Weiterfahrt nach Mauritius. Leute der Haganah haben das Schiff mangels Erfahrung mit Explosiva nicht bloß seeuntüchtig gemacht, sondern gleich gesprengt. Lillis Familie hat – anders als 270 Schicksalsgenossen – auch das noch überlebt. Die Schwester allerdings ist im 48er Krieg durch ägyptische Flieger umgekommen.
Vom Balkon des komfortablen Altenwohnheims sieht man Bucht und Hafen, auf dem Tisch des Zimmers liegen die Kopien der Dokumente, mit denen die Juden unseres Dorfs ihre Besitztümer der Gemeinde „geschenkt“ haben. „Dann tun wir euch nichts“, hat der Ortsgruppenleiter gesagt, erinnert sich Frau A. an die Räuberparole. Ich habe ihn gekannt. Auch den Volks- und Parteigenossen, der diese Art, die Heimat judenfrei zu machen, in einem Brief nach oben als vorbildlich preist. Die Bevölkerung war eingeladen, die beiden Geschäfte leer zu räumen. Ein Freund, sagt Frau A. , hat ihrem Vater den Termin verraten. Der Mann, so kommen wir drauf, war mein Opa. Mein Vater – und daher auch ich – hat das nicht gewusst, schließlich war er schon mit allen andern Buben frisch und fröhlich bei der HJ.
Eine meiner Tanten hat von der Patin ein Kostüm bekommen aus dem „verschenkten“ Stoff. Zu Lilli ist der Oberlehrer in die Klasse gegangen und hat sie vor allen fortgeschickt. Man werde es ihr sagen, wenn sie wieder kommen darf. Sie kennt keinen Namen, kein Gesicht mehr von denen, die dabei waren, bloß das Faktum. Sie sagt, das ist ihre schlimmste Erinnerung. Sie hat den Vater mit Erfolg bestürmt, sie sofort zur Tante nach Wien zu bringen. In der relativen Anonymität der Großstadt hat es ihr gefallen, die Beschimpfungen, Drohungen und die paar Male, wo sie bloß mit Masel der Verhaftung und Deportation entgangen sind, gingen ihr nicht mehr so nah, sie erzählt im Plauderton. Doch wer kein Masel hatte und nicht rechtzeitig fortkam, ist heute schon über sechzig Jahre ausgerottet, tot. So wie die Familie ihres Mannes, der als einziger überlebt hat. Nach meiner Heimkehr habe ich an Bürgermeister und Pfarrer geschrieben, sie mögen den bevorstehenden 80. Geburtstag von Frau A. nutzen, um mit ihr nach 70 Jahren wenigstens noch Kontakt aufzunehmen. Der Bürgermeister hat gratuliert, der Pfarrer hat geschwiegen.
Immer „auf gepackten Koffern“?
„Es könnte so ausschauen, dass ich immer lustig bin“, meint Aryeh, 70, Sohn eines sozialdemokratischen Wiener Ehepaars, das 34 vor Dollfuß nach Palästina floh. Es ist der Abend nach einem schönen Nachmittag in Yafo mit einigen alten Freunden. Er wache oft nächtlich auf, sagt er, und sei verzweifelt. Er glaubt nicht so recht, dass es auf die Dauer gut geht mit Israel. So viel sei falsch gemacht worden, aber die Araber wollten nicht sehen, dass das auch für sie gilt. Es gebe ein Cafe in Yafo in gemeinsamem jüdisch-palästinensischen Besitz und mit Besuchern von beiden Seiten. Und doch gebe es kein Gespräch unter den Gästen, das diesen Namen auch verdiene.
Im letzten Libanonkrieg, berichtet Daniela S. in Tel Aviv, habe sie seitens eines Internet-Frauenportals Kontakt mit palästinensischen Frauen in Haifa aufgenommen, aber bei der Diskussion seien diese nichts als anklagend und abweisend gewesen. Dass Israelis sich bedroht fühlen, verstehen die nicht. Die Israelis verstehen nicht, dass dies für die Palästinenser kein horizontaler Konflikt sei, meint dazu Roger Heacock, amerikanischer Diplomatensohn und seit 25 Jahren Historiker an der Palästinenseruni in Birseit. Der Konflikt ist vertikal, Besatzer gegen Besetzte. Und es gebe daher keine wirklichen Gespräche als darüber, die Besatzung zu beenden. Für die Palästinenser eine Selbstaufgabe, davon abzurücken, für die Israelis die Angst davor, sich selbst zu schwächen. Mir fällt ein, dass mit den Palästinensern nicht einmal dann über den Abzug geredet wurde, als die IDF (Israel Defense Force) Gaza geräumt hat. Vertikalität bis zum Schluss?
Wie stark das israelische Militär auch ist – die meisten, mit denen ich rede, sprechen von Angst. Und wer von ihnen aus der EU oder USA stammt, hat einen zweiten Pass oder denkt daran, um ihn anzusuchen. „Man spricht nicht drüber, es ist zur Sicherheit“, sagt mir Edna, Frau eines rechten Zionisten, beide mit Schweizer Pass. „Fear is in the genes of Jews“, meint Ruth El-Raz, grand old lady von Bat Shalom, viele rechnen stets mit dem Schlimmsten. Es passt zu Moshe Zimmermanns Auffassung, dass ein Krieg mit fünfzigtausend toten Zivilisten das Ende Israels wäre – zu viele würden die Koffer packen (Interview in Streifzüge 43).
Erfindergeist, Hi Tech und Sicherheit
Auf der Autofahrt von Tel Aviv nach Jerusalem zeigt mir Michael, was einmal judäische Wüste war und heute kultiviertes Land ist – das Aufbauwerk der jüdischen Kolonisation. Er erzählt von britischen Luftaufnahmen aus der Mandatsmandatszeit, die noch eine öde Landschaft zeigen. Der Unterschied macht stolz und gehört zum jüdisch-israelischen Nationalgefühl. Der Glaube an die Macht des Erfindergeists, an Machbarkeit und „technische“ Lösungen für alle Probleme scheint mir hier viel weiter verbreitet als in „Old Europe“.
Das Wasserproblem ist keins, erklärt mir der Prinzgemahl der Gastgeberin einer Lehrerrunde, man müsse bloß die hier entwickelten Entsalzungstechnologien nicht bloß exportieren, sondern auch daheim anwenden. Die projektierten Rohrleitungen vom Mittelmeer oder vom Roten Meer zur „Dead Sea“ soll man endlich umsetzen, und schon hätte man auch das Energieproblem gelöst durch eine Kette von Kraftwerken entlang des Gefälles in die Depression. Der Mann ist ein Dampfplauderer und ein Extremist, wie meine Nachbarin mir entschuldigend andeutet, als er gegen die Araber und die unfähigen Politiker, die mit jenen wie mit allen anderen Problemen nicht fertig werden, loszuziehen beginnt.
Aber auch ein sanfter, kompetenter älterer Wissenschafter erklärt mir ein paar Tage später, dass man das Klima in der Region technisch ändern könnte, damit es in der Negev regnet. Das gehört zu seinem Fach, ein bisschen wildert er auch in anderen Sparten: Für den Müll der wieder stark forcierten AKW stellt er sich als Lösung vor: mit Raketen in die Sonne schießen. Den Gedanken an auch nur einen einzigen missglückten Start nimmt er bei weitem nicht so ernst wie ich.
Ein Spaziergang durch das Technion, die technische Universität von Haifa, eins der Hi-tech-Zentren des Landes, die Israel einen Spitzenplatz in der Technologieentwicklung verschafft haben. Immer wieder Tafeln, die die Spender, oft aus Amerika, ehren. Mein Führer bestätigt mir, dass die Uni mit solchen Geldern reich gesegnet ist. Er witzelt, wie schwierig es sei, die „Donor“-Plaketten auf den nicht immer großen Geräten auch gebührend anzubringen. Der Konnex von Wissenschaft und Militär wird in dem, was er erzählt , und in manchem, das es hier auf Hinweistafeln zu lesen gibt, recht offenkundig, von neuen Werkstoffen bis zur Hirnforschung und Psychologie. „Sicherheit“ und ihre Erfordernisse prägen schließlich den ganzen Alltag, nicht zuletzt auch der lange Dienst in der IDF, für Männer wie für Frauen. Als wir den Campus verlassen, grüßt mein Begleiter einen stämmigen, drahtigen Herrn im besten Alter, der uns federnden Schritts entgegenkommt. Ein Rabbi und Karatemeister unterwegs zum Gottesdienst in seiner Synagoge.
Ein großer Teil des Umgangs mit den Palästinensern ist besatzungs- und sicherheits“technisch“ organisiert, was seit den beiden Intifadas sicher noch ungemein zugenommen hat. Im mehr zivilen Alltag lebt man sehr getrennt. Von denen in den „Gebieten“ sowieso, aber selbst von denen, die israelische Bürger sind. Die Erzählung einer Lehrerin, wie sie als Kind mit der Familie in den Gazastreifen baden fuhr und mit den Arabern einen relativ entspannten Umgang hatte, ist heute wohl pure Nostalgie. Die „Gebiete“ nebenan kennt man fast nur als Soldat(in). In Zivil dorthin zu fahren, fällt – außer den „Siedlern“ – kaum wem ein. „Dort wird man umgebracht.“
Moschav. Kibbuz. Marktwirtschaft
Patricia und ihre Familie wohnen in „Waldheim“. So hieß die hiesige Siedlung der deutsch-christlichen „Tempelgesellschaft“, bis sie von den Engländern nach dem letzten Weltkrieg endgültig aufgelöst wurde. Das Gebiet bekam eine jüdische Agrargenossenschaft auf der Basis von Familienwirtschaften – ein Moschav. Dieser wurde vor einigen Jahren hohe Schulden los, indem er Teile seines Gebiets für Häuselbauer verpachtete, Reihenhäuser baute und verkaufte und mit diesem Business einen äußeren Kreis der Genossenschaft ohne Anteil an deren Wirtschaft schuf.
Der Boden gehört im Großteil Israels dem Jewish National Fund, die Genossenschaften haben verlängerbare Pachtverträge für 49 und 99 Jahre und verpachten ihrerseits seit längerem Teile ihrer Gründe weiter, um zu Geld zu kommen. Das tun auch die Kibbuzim, die als sozialistische Projekte auf der Gemeinwirtschaft aller Mitglieder beruh(t)en. Patricias Mann stammt aus einem Kibbuz ganz in der Nähe. Seine Eltern leben dort. Die Mutter ist eine „Kibbuzidealistin“, sagt Patricia, als wir sie im Kibbuz treffen. Sie arbeitet mit ihren 65 Jahren noch in der Fabrik und als Physiotherapeutin.
Ihr Gatte ist eher eine Ausnahme, nämlich Kameramann beim TV, hat drei Jahre im Ausland studiert mit Zustimmung und Stipendium des Kibbuz, an den er früher auch sein ganzes Gehalt abführte. Die egalitäre und geldlose (Selbst)Versorgung der Kibbuzniks ist heute dahin. Sie bekommen Gehälter vom Kibbuz, unterschiedlich je nach der Funktion, sonst das der Firma, bei der sie auswärts arbeiten. Vom unterschiedlichen Gehalt zahlen alle den Preis für die bezogenen Leistungen der Genossenschaft (Wohnung, Strom, Heizung, Sportstätten etc. ) plus einer progressiven Abgabe zum sozialen Ausgleich. Der Kibbuz ist ähnlich einer Firma, er erwirtschaftet Geld – in der Landwirtschaft und Geflügelzucht, durch Verpachtung (Tankstelle, McDonald, EKZ liegen auf Kibbuzgrund), durch eine Fabrik, einige Geschäfte, mehrere Kindergärten, eine Sonderschule – alle als Produktionsstätten und Dienstleistungsbetriebe auf den (inneren und äußeren) Markt gerichtet. Zwei Altenhäuser für Kibbuzniks gibt es, einen Speisesaal (das Essen ist über Catering outgesourcet). Die Alten, erzählt Patricia, kommen damit nicht gut zurecht, sie sind noch auf die geldlose Versorgung wie früher eingestellt. Aber offenbar kommt eine Transformation, die nicht ans Ziel gelangt, vom halben Weg wieder zurück. Für die Jüngeren ist es ein Prozess der „Normalisierung“. Schließlich ist Israel seit dem Kalten Krieg ein marktwirtschaftliches Land des freien Westens und liegt, sagt Moshe Zuckermann, weltweit in der Spitzengruppe der Länder mit den größten sozialen Klüften.
Heilige Stadt
Von der Stadtmauer in der Altstadt von Jerusalem, sieht man das Heilige, vor allem den Tempelberg mit der Al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom, die muslimische Herrscher dort errichtet haben, wo Jahrhunderte davor der jüdische Tempel stand, von dem schon seit bald 2000 Jahren nur noch die Klagemauer am Rand des Berges steht. Und die Kirchen, Klöster, Patriarchate und Schulen der diversen christlich-europäischen Mächte. Die Religionen und ihr Personal, die Gläubigen, Märtyrer, Verwalter und Schutzherrn (ge)brauchen einander, um sich zu spüren. Und nirgendwo sonst im Land sind die Religiösen so in Uniform unterwegs.
Ich wohne im armenischen Hospiz, direkt an der 3. Kreuzwegstation. Ein paar Mal am Tag laufe ich irgendwo in eine Pilgergruppe mit ihrem Pfarrer und Vorbeter und den Lattenkreuzen, die man bei den Franziskanern, den custodes terrae sanctae, mieten und ohne allzu viel Leid mittragen kann. Die Grabeskirche gehört alle paar Meter einer anderen Konfession, sie ist voll von Gläubigen, die den Stein, auf dem die Leiche gelegen sein soll, abküssen, Öl ausgießen, Tücher darin wälzen und sich dabei filmen lassen oder in den diversen heiligen Ecken und Winkeln um die Wette beten und singen. Bloß die Schlüssel stehen außer Streit – die werden angeblich von einer Muslimfamilie verwaltet. Die Österreicher haben neben ihrem Hospiz noch ein Spital, die Franzosen ein viel größeres, außerdem sind sie die Geldgeber der Armenier, die Russen haben vor hundert Jahren ein zusätzliches Stadttor für die Pilger durchgesetzt, der Vatikan hat ein lateinisches Patriarchat und auch ein griechisch-katholisches auf der Gehaltsliste, der Kaiser Willem hat die Erlöserkirche eingeweiht, für was Älteres waren die Protestanten etliche Jahrhunderte zu spät dran, auch in dem teutonisch-neuromanischen Kloster auf dem Zionsberg steckt deutsches Geld.
Dort steht auch der Saal des Letzten Abendmahls – die Architektur schaut sehr gotisch aus. Eine nigerianische Pilgergruppe singt und tanzt sich weg. Einige reife deutsche Damen tun begeistert mit. Mir gefällt der Tanz, bis mir ein unguter Gedanke kommt. Meine Gastgeberin, eine Fremdenführerin, sagt, dass die afrikanischen Pilger oft fanatisch wundergläubig sind und bei jedem „angeblich“ heftig protestieren. Ob die Fanatics von der Lord’s Resistance Army, wenn sie im Blutrausch singen und tanzen, auch so klingen?
Vom 7. Jh. bis zum Ende von WK I herrschten hier Araber, dann Osmanen. Zwischendurch kamen die Kreuzritter. Nach Meinung nicht weniger Araber ist jetzt wieder so ein Zwischendurch. Die Bausubstanz der Altstadt ist großteils osmanisch, die meisten Leute sprechen arabisch. Die goldene Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg neben der Al Aqsa-Moschee ist das herausragendste Gebäude, die Zugänge sind streng bewacht. Zutritt die meiste Zeit nur für Moslems, sagt mir ein diensthabender Soldat, als ich zusammen mit ein paar Männern zum Eingang gehe. Ich muss draußen bleiben. Moslemische Pilger gibt es kaum, Arabien ist Feindesland. Unterm Berg an der Klagemauer wippen Juden im Gebet (dahinter gehen orthodoxe Leute mit ihren Handys auf und ab), sortiert nach zwei Drittel Platz für Männer, eines für die Frauen. Jede Menge jüdische Besucher aus dem Ausland, wohl kaum weniger als Pilger bei den Christen. An Heiligtümern freilich haben die Juden definitiv die wenigsten. Aber dafür ist Israel hier der Platzhirsch, nur seine Fahnen wehen. Auf dem Platz vor der Klagemauer und sonst an vielen Stellen der Stadt. Ostjerusalem, darunter die Altstadt, ist annektiert, überall trifft man auf Trupps Soldaten, die aber trotz ihrer Gewehre ziemlich lässig daherkommen oder herumlümmeln. Schon länger nichts passiert. Von Arabern werden sie demonstrativ ignoriert.
Wenn hier Sharon auf al-Haram Asch-Scharif (den Tempelberg) ging, war das die Demonstration eines eigentlich religiösen Anspruchs und zugleich eine Vereinnahmung der Juden/Israelis gegen die Palästinenser. Und wenn sich die dann folgende zweite Intifada nach der Moschee benannte, war das der Versuch, alle gläubigen Moslems hinterm Aufstand zu vergattern. Auf der symbolischen Ebene wird Krieg und Sieg schnell zum göttlichen Gebot. Es ist ein Fluch, wenn eins ein heiliges Land ist, wo am selben Tag die einen die Staatsgründung im „Land der Väter“ feiern und die andern ihrer „Katastrophe“ gedenken.
Tödliche Nation
Wo Nation ist, da ist Ausgrenzung und Gewalt. Eine Ausnahme kenne ich nicht. In ruhigen Zeiten erstarrt Gewalt zu Struktur und Institution. Im Nahen Osten waren die Zeiten seit einem Jahrhundert nie ruhig. Man hat dort beides, sowohl Struktur als auch Blut und Bomben. Bei ihrer Schaffung sind die Nationen meist über die Religionen hinweggangen. Inzwischen werden sie von diesen wieder eingeholt. Oder soll man sagen: heimgeholt?
Das Tel Aviver Diaspora – Museum stellt Jude-Sein dar als den Leidensweg eines religiös bestimmten „Volkes“, der von der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 an durch die Finsternis von Diaspora, Machtlosigkeit und Verfolgung über das Entsetzen der Shoa ziemlich zielgerichtet zur säkularen zionistischen (Er)Lösung des nationalen Problems durch die Gründung des Staates Israel geführt hat, der Heimstätte der Nation und des Orts des Schutzes und der Sammlung für die weltweit Zerstreuten und Verfolgten. Im Foyer wird das in einer temporären Ausstellung aktuell für die sowjetischen Juden noch einmal durchdekliniert.
Doch vom „neuen, reinen Leben“ „im Zeichen der Arbeit“ im „Altneuland“ (Herzel) ist nur die Arbeit geblieben, denn die passt zur Nation, die aus dem Projekt geworden ist und sich in Einwanderung und blutigem Kampf gegen die arabische Konkurrenz zu konstituieren hatte. Nationale Ansprüche und ihre Begründungen und gegenseitigen Verurteilungen sind so irreal und irrational wie unmenschlich. Aber zeitweise ungemein wirksam und mörderisch. Leider ist jetzt so eine Zeit. Nation dehnt sich, konglomeriert sich mit „Kultur(kreis)“, lädt sich auf mit Religion. Und es ist schwer in dieser Gegend, sich der berüchtigten „Schicksalsgemeinschaft“ zu entziehen – wenn eins erschossen oder in die Luft gesprengt werden kann, bloß weil man bei den einen oder den andern wohnt.
Es wird schon stimmen, was meine Gastgeber mir unisono sagen, dass die Wahrscheinlichkeit im Straßenverkehr zu Tod zu kommen noch immer um einiges höher ist, als von Terroristenhand zu sterben. Vielleicht stimmt das mutatis mutandis sogar auch „drüben“ bei den Palästinensern, auch wenn deren Todesrate im heiligen Kampf ums Land gut zehnmal höher liegt. Aber die aktuelle Gefahr, getötet zu werden, einfach weil eins Jude ist oder Araberin, ist nirgends größer als hier im Land der Väter usw.
Generell steht die Nation wohl weltweit weit vorne auf den ersten Plätzen bei Todesarten durch Gewalt. Nur logisch, dass ihre Pioniere heutzutage sich auf Gott berufen und aufs Jenseits hoffen. Die Menschen sollen leben dürfen, hier und überall, nicht sterben müssen an der Nation und ihren Metastasen. Wie groß der Beitrag dieser historischen Gewaltkonstruktion zum Schutz der Juden und Jüdinnen gegen den Antisemitismus sein kann, scheint mir jedenfalls recht zweifelhaft. Es ist doch eine nach Nationen und dergleichen sortierte Menschheit, die den Antisemitismus „braucht“.
Gegeneinander leben, miteinander sterben?
Topographische Angaben sind in ganz Israel dreisprachig: hebräisch, arabisch und englisch. Alle jüdischen Israelis lernen in der Schule drei Jahre Arabisch. Ich reise mit Servas, einer internationalen Organisation (servas. org) von Hosts und Travellers, die durch Kennenlernen und Verständigung der Menschen zum Frieden beitragen will. Unter den israelischen Hosts finden sich kaum welche, die auch nur Grundkenntnisse in Arabisch angeben, kaum wer, der von sich mitteilt, dass er es flüssig spricht. Der erste von diesen raren Leuten, zu dem ich komme, unterrichtet sogar Arabisch an der Uni. Aber dass es alle in der Schule lernen, hält er für nutzlos. Die Sprachen sind zwar recht nah verwandt, aber kaum jemand könne nachher sprechen, meist nicht einmal die Wörter lesen. Es sei auch unnötig: Überall müssten die Minderheiten die Sprache der Mehrheit lernen und nicht umgekehrt. Punkt. Auch das scheint so ein Unterschied zu sein zwischen dem Traum eines Herzl und früher Pioniere und der Realität eines Nationalstaats, noch dazu eines mit einer starken Minderheit und Nachbarn, die den nicht wollen, vielfach nicht akzeptieren.
Ruth El-Raz in Jerusalem ist eine von den Israelis, die, so gut sie können, Soldaten überwachen beim Kontrollieren der Palästinenser und bei Einsätzen in den besetzten Gebieten – und nicht selten dafür angepöbelt und bespuckt werden. Moshe Zuckermann meint, diese Leute bewahrten einen vor Verzweiflung an den Menschen, sie ändern aber nichts. Ruth sieht das nicht viel anders. Aber sie müsste sich schämen, täte sie nicht, was sie tut. Ihr Vater hat ihr gesagt, Juden könnten nicht foltern. Die Psychotherapeutin meint, es sei wie mit geschlagenen Kindern: Sie werden selbst leicht zu Schlägern. Eine Gesellschaft, deren Menschen unter der Erinnerung einer furchtbaren Tradition von Gewalt leiden, kann zum Paradox leicht selbst in diese kippen.
Den zweiten, der gut arabisch kann, treffe ich in Haifa. Auch Gil war wie der Dozent beim Militär mit dem Auswerten arabischer Medien und mit dem Übersetzen bei Verhören beschäftigt. Er glaubt nicht mehr, dass er Israels Sicherheit damit gedient hat. Er und Chava tun mit bei Sadaka-Reut („Freundschaft“ auf Arabisch und Hebräisch) „for social and political change in Israel through the promotion of a bi-national, multicultural and egalitarian society based on social justice and solidarity“ (reutsadaka. org). Sie meinen, mit der herrschenden Politik geht es in den Untergang, das Zusammenleben mit den Palästinensern muss vom Alltag her geändert werden. Sie gehören offenbar auch zu den ca. 5000 Leuten, von denen Moshe Zuckermann sagt, dass sie wie er zur nicht-zionistischen Opposition gehören, die machtlos ist.
Gil arbeitet beruflich als Coach, er möchte die Methoden auf Sadaka-Reut anwenden, aber mit dem Konkurrenzdenken, das auch das Coaching durchseuche, müsse Schluss gemacht werden. Er scheint unbekümmert, aber Chava, seine Frau, hat eine dünne Haut, sie leidet sichtlich unter dem, was sie ändern will. Die beiden Söhne haben es schwer gehabt in der Schule mit den Ansichten und Umgangsweisen, die sie von den Eltern haben. Sie haben schließlich im Ausland maturiert. Fürs Militär war der Ältere untauglich, der Jüngere hat die Prozedur der Wehrdienstverweigerung bestanden und arbeitet als Zivildiener in einem Jugendzentrum in einem „Problemviertel“ von Yafo. Wir fahren hin, denn an diesem Abend tritt die Rapperband des Zentrums auf. Chava würde in diesem Viertel abends nicht allein auf die Straße gehen. Die jungen Band-iten sind der Zivi, ein Immigrant aus Russland, ein arabisches Mädchen, ein ebensolcher Bursch. (Dass dessen Gang die gestohlenen Computer zurückgebracht hat, war der Durchbruch fürs JZ. ) Ein amerikanischer Soulsänger, ein Profi, jammt mit ihnen. Die Texte greifen an, was die jungen Leute in ihrem Leben stört: Konformitätsdruck in Schule und Familie, Polizei, Machismo, soziale und nationale Segregation. „Wir wollen unser Haus von Grund auf neu bauen“, ist ein Refrain. Ist sehr jugendlich, aber es soll ja vorkommen, dass die Jungen einfach recht haben.
Vor allem, wenn die Alternative so schaurig ist, wie sich im Nahen Osten abzeichnet. Die Nuklearisierung der Region ist eine Frage von Jahren, meint Zuckermann. Er und Heacock hoffen auf den Überlebenswillen der Menschen, der realistischen Politikern doch noch zu einem Deal mit einer Zweistaatenlösung verhelfen könnte, bevor die Region in Flammen steht. Dann wäre vielleicht auch die nötige Zeit gewonnen für Ruth, Gil, Chava und ihresgleichen. Auf beiden Seiten.
Auf dem Flughafen lese ich vom Überfall eines palästinensischen Kommandos auf einen Treibstoff-Terminal an der Grenze zum Gazastreifen. Sie haben zwei israelische Arbeiter erschossen, die ihnen unerwartet über den Weg liefen. Die Armee griff ein, ein Teil der Angreifer kam auf der Stelle zu Tode. Zwei Tage nach meiner Rückkehr, meldet Ha’aretz, hatte es bei der Verfolgung der Attentäter und ihrer Hintermänner schon 14 Tote gegeben, zivile und kindliche „Kollateralschäden“ inklusive. Wieviele es noch geworden sind, weiß ich nicht. Roger Heacock sagt, für die Aufständischen gelte die Regel des vietnamesischen Generals Giap: Jedes Opferverhältnis unter 10: 1 ist ein Sieg für die Guerilla. Business as usual. Noch?