Streifzüge 43/2008
KOLUMNE Unumgänglich
von Franz Schandl
Dass sie gar nicht ist, wird wohl niemand mehr behaupten. Dass ihr aber durch gezielte politische Maßnahme Einhalt geboten werden kann, davon sind fast alle überzeugt. Die Ökonomie ist mehr erschüttert als der gesunde Menschenverstand. Der glaubt nach wie vor seine Plattheiten, ja er fühlt sich sogar bestätigt. Kapitalismus, das ist ihm Machenschaft, Verschwörung. Sein Antikapitalismus ist wahrlich eine Facette marktwirtschaftlicher Affirmation.
„Die Marktwirtschaft schafft als bestes Wirtschaftssystem Wohlstand“, sagt der österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer (gleichlautend in Die Presse, 21. Oktober, S. 34. und Der Standard, 25. Oktober 2008, S. 18) Nur regulieren müsse man ihn. Die beste aller Wirtschaften darf nicht den Neoliberalen überlassen werden. Nein wirklich nicht. Der Organismus sei gesund, nur den Blutkreislauf (sprich den Finanzsektor) müsse man anregen. Man braucht nicht nur an die ökologischen Zerstörungen und die Arbeitsbedingungen denken, um festzuhalten: Hier spricht der Wahnsinn.
Ausgebrochen ist ein wahres Lenkungsfieber, alle wollen regulieren oder sogar reguliert werden. Die katholische Kirche und diverse Rechtspopulisten, ATTAC und die Linksparteien, Sarkozy und Soros. „George Bush hat in den letzten Wochen mehr verstaatlicht als Hugo Chavez in seiner ganzen Amtszeit“, hält die Siemens-Österreich-Chefin Brigitte Ederer fest. (Kurier, 16. Oktober 2008) „Mehr Staat, weniger privat“, ruft auf einmal auch die Menge. Manche Formeln werden nicht richtiger, wenn man sie umkehrt.
Zu den Abhängigkeiten der Realwirtschaft von Kredit und Spekulation wird in dieser Nummer ja einiges gesagt. Dass die Realökonomie selbst so marode ist, dass sie nur durch das globale Finanzcasino aufrecht erhalten werden konnte, das will freilich nur wenigen einleuchten. Ein Zurück zu einem „normalen“ Kapitalismus, zu einer gefesselten Marktwirtschaft wird es jedoch nicht spielen.
Die Fernsehdebatten sind gespenstisch. Da kann es schon vorkommen, dass zwei hochkarätige Finanzexperten einander erklären, was ein Derivat ist, und nicht wissen, wovon der jeweils andere spricht. Aber wissen sie, wovon sie selbst sprechen? Ein Vertreter der Industrie erklärt, der Staat werde mit seinen Geschenken ein Bombengeschäft machen, dann, wenn zurückgezahlt wird. Niemand lacht. Ein Ex-Finanzminister möchte mit dem Hubschrauber Geld abwerfen. Da lacht auch niemand. Noch ein anderer Ex-Finanzminister verkündet, dass die Bankgarantien dem Steuerzahler eine Stange Geld kosten wird. Da ist nun allen das Lachen vergagnen. Aber vermögen die Staaten überhaupt zu zahlen, was sie versprochen haben? Ist das realistisch? Oder drucken sie ganz einfach das Geld? Oder borgen sie es sich bei den Banken, denen sie es zuschießen? Oder ist eh alles wurscht?
Ehrlich gestanden: Kennt sich jemand wirklich aus? Wahrscheinlich nicht. Vorgestern dachte niemand an eine Bankengarantie, gestern noch behauptete man, dass die Banken sie gar nicht brauchen, heute schon greifen sie zu. Was wird morgen sein? Vielleicht sollten wir Gerda Rogers fragen, die ist doch Wahrsagerin. Oder Karten legen oder in den Kaffeesud schauen. Deren Befunde sind nicht schlechter als jene der Experten. Trotzdem ist es nicht auszuschließen, dass neue Blasen sich auftun, die gar als Lösungen erscheinen und doch nur den großen Crash verzögern. Der größte Kredit, auf dem das Kapital gegenwärtig seine Herrschaft errichtet, ist weder seine ökonomische noch seine militärische Kraft. Es sind vielmehr die sich beharrlich reproduzierenden Fiktionen und Halluzinationen der Alltagscharaktere. Diese Krise mag fundamental sein, doch wenn wir gar nicht daran glauben, wird sie aber schön schauen, die Krise.
Der staatliche Schutzschirm hat vor allem ideologischen Charakter. Dieser kann aber durchaus zeitweilig manifest werden, und zwar dann, wenn Banken und Kunden fest darauf vertrauen. Die letzte Hochburg des Kapitals ist der schier unheimliche Glaube an das Geld. Denn ohne Geld kann eins nicht leben, daher brauchen wir Geld, egal woher, egal wohin, egal wozu. Und wenn der Planet vor die Hunde geht und wir uns gegenseitig in kriegerische Konfrontationen hetzen, Hauptsache der Fetisch lebt.
Es ist schon eine paradoxe Situation: Das Geld stürzt ab, aber wir richten uns nach wie vor an ihm existenziell auf. Wir klammern und krallen uns ideologisch fest, auch wenn oder gerade weil wir zusehends vom Geld entkoppelt werden. Mit dem Geld funktioniert es nicht, also müssen wir alles tun, damit es mit dem Geld wieder funktioniert. Die ganz banale Vorstellung, dass es vielleicht auch ohne Geld ginge, ja überhaupt erst dann möglich sei, menschliche Beziehungen aufzubauen und zu verallgemeinern, will in die Birnen nicht rein.
Ökonomie ist Metaphysik der übelsten Sorte, die nur „funktioniert“, solange die Leute deren Betrieb stützen. Solange sie an ihre Erscheinungen glauben, werden sie Erscheinungen haben. Da reicht es oft, den bloßen Schein in Händen zu halten, der ja real wird, wenn sich mit ihm etwas kaufen lässt. Doch wie wir soeben erleben, ist das keine Garantie, sondern lediglich eine Voraussetzung. Stabil ist gar nix.
Neben dem Untergangsszenario spüren wir freilich auch einen „Hauch von Übergang“ (Peter Klein). Doch dieses Übergangsprogramm, das ist noch nicht geschrieben, ja nicht einmal noch richtig angedacht. Zeit also, genau den Schwerpunkt darauf zu legen. Bedingung dafür ist, dass das Nein zum Kapitalismus zu einem Nein zur Marktwirtschaft wird. Denn genau da liegt die Scheidelinie zwischen Ressentiment und Kritik. Nein zum Markt! Nein zur Konkurrenz! Nein zum Geschäft! Nein zu Karriere, Leistung, Risiko! Das gute Leben liegt jenseits davon.