von Andreas Exner
So lautet der Titel einer Broschüre, die das Hans-Jürgen-Krahl-Institut im Oktober 2007 einer internen Diskussion hat folgen lassen. Der Untertitel verspricht eine „Antwort auf die Krise der Gewerkschaften“, was zugleich das ursprüngliche Motiv der kleinen Schrift benennt: gesellschaftskritischen Menschen, die in Gewerkschaften tätig sind, einen „allgemeinen Strategievorschlag zur gesellschaftlichen Transformation“ zur Diskussion zu stellen.
Die Broschüre rückt dabei die „historische Produktion“, die „Produktion der Verkehrsform selbst“, ins Zentrum der Betrachtung. Nicht also die Produktion von allerlei Gebräuchlichem ist das Thema, sondern die gebräuchliche Art der Produktion als solche. Es geht, kurz gesagt, um die Produktions- und Lebensweise dieser Tage und darum, was die Gewerkschaften dazu tun könnten, um diese zu verändern. Keine kleine Aufgabe, in der Tat. Ein „obskures und monströses Projekt“, meinte dazu ein Kritiker vorab.
Seiner Aufgabe nähert sich das Krahl-Institut mit Bedacht. Was es offensichtlich von allem Anfang dabei umtreibt, benennt es ganz am Ende seiner Schrift: „Die scheinbare Alternativlosigkeit des dekadenten Kapitalismus ist seine schärfste ideologische Waffe, weil sie Anklang findet in der alltäglich erfahrenen Ohnmacht der von der Gesellschaft entfremdeten Einzelnen und deren Resignation“. Folglich wäre die „eigentliche Aufgabe“, heißt es weiter, „eine neue, eine andere Kulturidee“ zu entwickeln und diese dem „System der Bedürfnisse“, auf dem das Kapitalverhältnis beruhe, entgegenzustellen. Was das Institut jedoch in seiner Broschüre, neben jener eigentlichen Aufgabe, versucht, ist, „der Überwindung des Kapitalverhältnisses eine Verlaufsform zu geben“.
Die Argumentation, die es zu diesem Zweck entwickelt, nimmt zwei Einsichten in sich auf. Sie reflektiert zum einen, dass den Kapitalismus bestimmte Strukturen kennzeichnen. Allerdings, so die andere Einsicht, beruhen diese darauf, dass „die sie konstituierenden Praxisformen und deren Implikationen von den Individuen beibehalten werden und so einen bestimmbaren Modus Operandi der gesellschaftlichen Entwicklung […] abgeben“. Privateigentümliche Produktion, geldvermittelter Warentausch und Lohnarbeit – darin erkennen die Autoren die wesentlichen Strukturen des Kapitalismus – sehen auf den ersten Blick nicht so aus, als wären sie ein Produkt des menschlichen Handelns. Umgekehrt scheinen diese Phänomene vielmehr das Handeln zu bestimmen. Sie nehmen die Form von festen Strukturen an, gelten als unveränderlich, prägen als Sachzwänge den öffentlichen Diskurs. Tatsächlich aber liegen diese Strukturen keineswegs jenseits allen Handelns, sondern sind nichts anderes als Folge dessen, was die Einzelnen fortlaufend tun und was sie akzeptieren, dass andere tun.
Von hier aus wird es möglich, das bis zu einem gewissen Grad theoretisch zu behandeln, was häufig als eine Frage gilt, die allein die Praxis, das Handeln selber lösen könne. Die Frage nämlich, wie wir kapitalistisches Handeln aufgeben und so den entsprechenden Strukturkomplex überwinden können. Dies führt uns zu der unmittelbaren Aufgabenstellung der Autoren: Wie muss eine Antwort auf die Gewerkschaftskrise aussehen?
Gewerkschaft und Staat
Zu diesem Zweck versucht der erste Teil der Broschüre eine Wesens- und Begriffsbestimmung der Gewerkschaft. Welche Strukturen bestimmen eine Gewerkschaft, was ist sie ihrer Natur nach eigentlich? „Gewerkschaften sind Angebotskartelle von Arbeitskraftbesitzern“, stellen die Autoren gleich zu Anfang fest und leiten daraus eine allgemeine Entwicklungslogik der Gewerkschaft ab. Erstens, so der Schluss, könne keine Gewerkschaft ein Interesse daran haben, die Lohnarbeit zu überwinden, ja sie müsse, zweitens, jeden Versuch, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (und damit auch die Arbeitsverhältnisse) substanziell zu verändern, als organisationsfeindlich bekämpfen.
Nun ist freilich augenfällig, dass sich Gewerkschaften selbst häufig in Widerspruch zum Kapital empfinden, Kapitalvertreter behaupten das oft genug. Die beiden Parteien existieren offensichtlich nicht in Eintracht. Allerdings, der gewerkschaftliche „Widerspruch gegenüber dem Kapital überschreitet nicht den allgemeinen Interessenkonflikt von Vertragsparteien“. Beide Parteien sind am Vertrag interessiert, wenn auch in gegensätzlichem Sinn. Möchte die eine Vertragspartei (der Unternehmer) die Ware Arbeitskraft möglichst billig kaufen, so achtet die andere (die Gewerkschaft) darauf, diese Ware so teuer wie möglich zu verkaufen. Damit fungiere die Gewerkschaft „objektiv als Regulator des Kapitalverhältnisses“. Sie stabilisiere das Lohnverhältnis, „das ansonsten an seinen immanenten Widersprüchen zugrunde ginge“. Das Kapital würde die Löhne andernfalls unter das Niveau reduzieren, das notwendig ist, um die Arbeitskraft zu erhalten, das heißt sich selbst zerstören.
Den Staat begreifen die Autoren als „Teil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses“. Die Vertragsform der bürgerlichen Beziehungen, die wechselseitige Anerkennung als formell gleiche Vertragsparteien erfordere eine Gewalt, die garantiert, dass diese Form auch eingehalten wird. Diese Gewalt dürfe selbst in keinem Widerspruch stehen zur Vertragsform, die sie garantiert. Sie muss daher von beiden Vertragsparteien gleichermaßen entfernt agieren. Daraus werde verständlich, dass der Staat die Gestalt eines Gewaltapparates hat, der sich von der Gesellschaft trennt. Nur in dieser Gestalt verkörpere er das allen gemeinsame Interesse daran, dass die Vertragsbeziehungen aufrechterhalten bleiben, wie gegensätzlich diese im Besonderen auch sein mögen. Darin sieht das Krahl-Institut die erste Bestimmung des Staates.
Die zweite komme ihm zu als Steuerstaat. Damit ist gemeint, dass der Staat von der Akkumulation des Kapitals abhängt, woraus er die Mittel seiner Existenz und Aktion bezieht. Beide Bestimmungen begründen eine strukturelle Selektivität des Staates hinsichtlich der an ihn herangetragenen Forderungen, insofern er ein genuines Interesse an der Aufrechterhaltung des Kapitalverhältnisses (der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit) hat. Der politisch wichtige Schluss lautet den Autoren zufolge, dass es nicht möglich sei, die Produktionsweise substanziell mit Hilfe des Staates zu verändern.
Dass der Staat gewerkschaftliche Forderungen wie etwa jene nach einer Arbeitslosenversicherung institutionalisiere, widerspreche dieser Einsicht nicht, gehe es ihm dabei doch wesentlich um die politische Stabilität des Kapitalverhältnisses, woran er nicht zuletzt ein ökonomisches Interesse haben muss. Dies bedeutet umgekehrt, dass der institutionalisierte Klassenkompromiss von bestimmten ökonomischen Grundlagen abhängt. Werden diese Grundlagen brüchig, so auch der ihnen entsprechende Klassenkompromiss.
Arbeiterpartei und staatliche Intervention
Die Parteien der Arbeiterbewegung versteht das Krahl-Institut als den „organisatorische[n] Ausdruck der notwendigen staatlichen Einbindung der gewerkschaftlichen Interessen“. Notwendig sei diese Einbindung deshalb, weil, anders als ein Kartell der Unternehmer, das gewerkschaftliche Arbeitskraftkartell seine Grenze an der persönlichen Freiheit der Lohnabhängigen findet. Zwar ist die wesentliche Funktion der Gewerkschaft, die Konkurrenz unter den Arbeiterinnen zu unterbinden. Doch bleibt der individuelle Arbeiter die reelle Partei jedes Vertragsschlusses zwischen Kapital und Arbeit. Damit ist ein Machtungleichgewicht gegeben, das die Gewerkschaft alleine nicht überwinden kann. Es ergibt sich daraus die Notwendigkeit, auf den rechtlichen Rahmen der Verträge einzuwirken. Die Instanz dafür ist der Staat.
Im politischen Bewusstsein der Arbeiterparteien steht nun die staatsbürgerliche Gleichheit im Widerspruch zur Ungleichheit der Klassenlage. Übersehen werde dabei, dass die staatsbürgerliche Freiheit lediglich die andere Seite der Verdinglichung darstelle, die der Arbeiter im Produktionsprozess erfährt. Ob die Arbeiterin ihre Ware Arbeitskraft an einen Kapitalisten verkauft, der sie als Produktionsinstrument anwendet, oder ob sie die bürgerliche Freiheit genießt, sich ganz im Besitz ihrer selbst und niemandes sonst zu befinden – beide Male verhielten sich die Arbeiter in Beziehung auf sich selbst wie zu einem ihnen äußerlichen Ding. In der politischen Praxis folge aus der staatsbürgerlichen Orientierung der Arbeiterparteien, dass Befreiung nur als verallgemeinerte Proletarisierung denkbar sei, dass also alle zu Arbeiterinnen und Arbeitern, dass alle Menschen im gleichen Maß zu Dingen werden; zu Anhängseln des Kapitals, ohne über die Mittel zur Produktion ihres Lebens zu verfügen. Die Politik der Arbeiterparteien ist nicht zuletzt davon bestimmt, die Verdinglichung der Arbeiterinnen aufrechtzuerhalten. Das ist ihr institutionelles Eigeninteresse, denn sie existiert auf dieser Basis.
Der Staat ist nicht nur Steuerstaat, sondern auch Interventionsstaat, insofern sein Bemühen aktiv darauf abzielt, die Kapitalakkumulation zu sichern. Die Akkumulation des Kapitals ist für das Krahl-Institut nicht eine Wirkung der Konkurrenz, sondern wesentlich darin begründet, dass private Produktion für einen gesellschaftlichen Bedarf erfolgt. Dieses widersprüchliche Verhältnis erfordere die Vermittlung der Produktion durch Geld. Arbeit und Produktion für Geld erzeugen schließlich ein Bedürfnis, das an keinen endlichen Gegenstand gebunden ist (sondern an Geld). Maßlosigkeit der Produktion sei die Konsequenz, politische Regulierung eine Notwendigkeit.
Dies deshalb, weil die maßlose Ausdehnung der Produktion von Mehrwert, der einzige Zweck der kapitalistischen Produktionsweise, unter Einsatz technischer Mittel erfolge, die zugleich dem Zweck, Mehrwert zu produzieren, zuwiderlaufen. Die einzelbetriebliche Strategie der Mehrwertsteigerung reduziere die Mehrwertproduktion gesamtgesellschaftlich. Das Krahl-Institut schließt sich darin dem Marx’schen Theorem vom tendenziellen Fall der Profitrate an. Die Tendenz zum Fall der Profitrate provoziere die notwendige Wiederkehr von Überakkumulationskrisen, in denen Kapital im Verhältnis zu den Möglichkeiten, es profitabel anzulegen, im Überschuss vorhanden ist.
Der Staatsinterventionismus versuche genau dieser Tendenz entgegenzuwirken. Er vernichte Kapital auf kontrollierte Weise, indem er es kapitalistisch unproduktiven Zwecken zuführe und reduziere so den Überhang von Kapital. Den Abzug desjenigen Kapitals, das mangels Rentabilität brachliegt bzw. nach Anlage drängt und so die Profite weiter drückt, vermittelt die staatliche Kreditaufnahme. Insoweit dieses Kapital investiert werde, ohne Profit abzuwerfen, das heißt ohne zu akkumulieren, werde es (als Kapital) quasi vernichtet. Damit vermindert sich die Überakkumulation. Die Zinsen der Staatskredite bilden allerdings einen Profit für das Finanzkapital, das die Kredite an den Staat vermittelt. Für diese Profite müssen die Besteuerten aufkommen, letztlich die Arbeiter, an die die Zusatzkosten weitergegeben werden. Der springende Punkt: Der Staatsinterventionismus könne die Überakkumulationskrise nicht lösen, nur verschieben. Ihre Ursachen lässt er bestehen, sie bleiben staatlichem Zugriff entzogen.
Dies gelte auch dann, wenn der Staat versucht, durch Sozialleistungen den Massenkonsum zu stützen und auf diesem Weg die Akkumulation des Kapitals. Der Massenkonsum, so das Institut, ist für die Akkumulation nur so lange funktional, als es Potenziale der inneren Landnahme gibt, Bereiche also, die noch nicht der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen sind. In der Nachkriegszeit handelte es sich dabei vor allem um die Sphäre der Reproduktion (Wiederherstellung) der Ware Arbeitskraft. Früher oder später stößt eine Strategie des Binnenmarkts jedoch an Grenzen und muss sich dem Vergleich mit der Rentabilität einer Exportorientierung stellen. Dies umso mehr, als die Zentralisation und Konzentration des Kapitals dazu führen, dass die Produktionsvolumina der einzelnen Betriebe die Grenzen der Aufnahmekapazität der Binnenmarkts erreichen. Das sei historisch auch der Fall gewesen. Das Kapital kündigte den institutionalisierten Klassenkompromiss auf und der Staat revidierte in der Folge seine binnenmarktzentrierte Beschäftigungspolitik.
Soweit die Argumentation des Krahl-Instituts. Anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass der tendenzielle Fall der Profitrate, den die Autoren als Ursache der Überakkumulation angeben, keine strikt allgemeine Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus sein kann (M. Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie, 2004, S. 148ff.). Allerdings ist umgekehrt ebenso wenig garantiert, dass die Profitrate im Zuge der Produktivkraftsteigerung auf längere Sicht stabil bleibt. Dies kann nur zufälliges Ergebnis sein (D. Harvey, Limits to Capital, 2006, S. 189). Sehen wir von dieser allgemeinen kapitalismustheoretischen Ebene ab, bleibt der Sachverhalt, dass die durchschnittlichen Profitraten am Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre tatsächlich deutlich fielen (R. Brenner, Boom & Bubble, S. 53f.; P. Armstrong et al., Capitalism since 1945, 1991, S. 248ff.; M. Husson, in: Die globale Enteignungsökonomie, 2004, S. 128).
In diesem Sinn macht die Argumentation des Krahl-Instituts die historische Funktion des Staatsinterventionismus der 1970er Jahre also durchaus verständlich und zeigt auch seine prinzipiellen Grenzen auf. Dieses Ergebnis ist wichtig, herrscht doch in Gewerkschaftskreisen die Ansicht vor, dass der Staat die ökonomischen Grundlagen eines Klassenkompromisses hätte garantieren können (woraus gefolgert wird, er wäre nach wie vor in der Lage, diese herzustellen). Das können staatliche Investitionsprogramme oder ein Ausbau des Massenkonsums jedoch nicht bewerkstelligen.
Gewerkschaftliche Krise
Die Ursachen für die gewerkschaftliche Krise machen die Autoren des Instituts vorrangig an zwei Momenten fest: an der Differenzierung der Arbeitsverhältnisse und der Internationalisierung der Produktion. Damit einher gehe eine vermehrte Konkurrenz der Nationalstaaten um die Anlage internationalen Kapitals. Die Unternehmensstrukturen gleichen sich dem Shareholder-Value-Modell an, womit sich das Kapital von einzelnen Betrieben unabhängiger mache. (Die Profite der Kapitalgeber zu steigern, steht deshalb im Fokus des betrieblichen Managements.)
Vor diesem Hintergrund erkläre sich die Strategie der Sozialdemokratie, Investitionen in die Bildung zu forcieren. Die Autoren sehen darin den Versuch, den Wert der Ware Arbeitskraft unter den Bedingungen einer internationalisierten Konkurrenz zu sichern. Eine Perspektive für die Modernisierungsverliererinnen der unteren Beschäftigungssegmente, die Arbeitslosen und die vielen Opfer des Leistungsdrucks erkennen sie darin freilich nicht.
Für die Gewerkschaften ergebe sich somit ein doppeltes Organisationsproblem: Prekarisierte und gering qualifizierte Arbeiterinnen entziehen sich der traditionellen gewerkschaftlichen Organisierung tendenziell und verfügen aufgrund ihrer schwachen Stellung im Produktionsprozess nur über eine geringe Durchsetzungsmacht. Hoch qualifizierte Lohnabhängige dagegen sind aufgrund von Gewinnbeteiligungen für die Gewerkschaften immer weniger ansprechbar.
Eine Strategie der Transformation
Diese theoretischen Ausführungen sind im Grunde eine Vorrede für das Herzstück der Broschüre. Darin widmet sich das Institut nun der Frage, wie die Gewerkschaften in Anbetracht ihrer strukturellen Krise und des Scheiterns traditioneller Sozialismen sich strategisch neu orientieren können. Seine diesbezüglichen Überlegungen knüpft es an das Konzept eines radikalen Reformismus (Joachim Hirsch): Ein Projekt der grundlegenden Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen müsse sich „innerhalb der von diesen Strukturen gesteckten Rahmenbedingungen entwickeln und zugleich als Gegenmacht selbst konstituieren“.
Ihrer Struktur nach sind Gewerkschaften nicht in der Lage, das Lohnverhältnis und damit den Kapitalismus zu überwinden. Darin ist dem Krahl-Institut sicher Recht zu geben. Wie aber ist angesichts dieser Ausgangslage überhaupt an eine antikapitalistische, emanzipative Funktion gewerkschaftlicher Organisation zu denken? Die Rückführung von Strukturen auf gesellschaftliche Praxisformen heißt umgekehrt, dass Strukturen durch neue Praxisformen verändert werden können. Um diese Perspektive theoretisch auch entwickeln zu können, ist es, so die Autoren, legitim, den Modus Operandi der kapitalistischen Praxisformen zu negieren „und in den Widersprüchen der kapitalistischen Entwicklungslogik Ansätze für die praktische Verwirklichung dieser Negation zu benennen“.
Der grundsätzliche Ansatzpunkt ist dabei für das Krahl-Institut, dass sich die realen Beziehungen der Menschen unter der Herrschaft des Kapitals verkehren. Gegenständlich betrachtet produzieren die Menschen unter dieser Herrschaft füreinander. Die kapitalistische Verkehrsform (der Tausch von Ware gegen Geld) allerdings abstrahiert von dieser gegenständlichen Realität. In ihr ist die Produktion auf einen anderen, von konkreten menschlichen Bedürfnissen entkoppelten Zweck gerichtet, das Geldeinkommen und den Profit.
Gesellschaftliche Verkehrsformen einzurichten, die dieser gegenständlichen Verbundenheit entsprechen, ist, so die Autoren, nicht die Frage einer bestimmten gesellschaftlichen Komplexität, denn „[d]ie bestehenden Kollektive könnten in der bewussten Übernahme der bestehenden gesellschaftlichen Verantwortung, die objektiv ohnehin auf ihren Schultern lastet, ihre bestehenden Verbindungen zu anderen Kollektiven nach dieser Maßgabe neu gestalten, auch ausgehend von den gegebenen realen Verhältnissen als Bedingungen der Neugestaltung, neue Kollektive schaffen und alte auflösen, anderes und anders produzieren“.
Voraussetzungen des strategischen Wechsels
Um die Möglichkeit einer solchen Neugestaltung auch realisieren zu können, wären freilich einige Voraussetzungen zu erfüllen.
Zuerst einmal sei unabdingbar, dass „die Linke der Versuchung widerstehen [muss], ihr politisches Bewusstsein als sozialen Distinktionsgewinn zu missbrauchen“. Wichtig wäre dagegen, „in den anderen Proletarisierten ebenfalls ‚bewusst handelnde kompetente Akteure‘ zu sehen“. Der zentrale Schluss, den das Krahl-Institut aus dieser Prämisse zieht, scheint mir darin zu bestehen, dass diese Akteure, wie es heißt, „nur mit einer praktischen Alternative für das alltägliche Leben zu gewinnen sind“.
Wie ist eine solche praktische Alternative zu entwickeln? Im Kontrast zur abstrakten Begriffsbestimmung der Gewerkschaft als eines Arbeitskraftkartells, verweist das Krahl-Institut bei seinen strategischen Überlegungen nun auf den reellen, widersprüchlichen Doppelcharakter der Gewerkschaften. Dieser Doppelcharakter zeige sich im „Forminhalt derjenigen Praxis, die den gewerkschaftlichen Forderungen ihre Durchsetzungskraft verliehen hat“, das heißt im Streik. Im gewerkschaftlichen Protest bestätigen und behaupten die Arbeiter, die formell nach Abschluss des Arbeitsvertrags auf den Stellenwert von Instrumenten reduziert sind, ihre Menschlichkeit, ihre Autonomie gegen das Kapital. Sie machen praktisch mit ihrer Verdinglichung Schluss.
In der Verdinglichung meint das Krahl-Institut etwas zu erkennen, was die Proletarisierten real verbindet, was uns allen, über alle Lohnunterschiede und Lebenslagen hinweg, gemeinsam ist. Dies gelte auch für die dagegen gerichtete gewerkschaftliche Praxis. Die Aufhebung der Verdinglichung im Produktionsprozess sei also keineswegs utopisch. Sie stelle, ganz im Gegenteil, einen konstitutiven Bestandteil der Arbeiterbewegung dar. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass diese Praxis auch auf eine emanzipatorische Weise begriffen wird. Ein solches Verständnis ist erst zu entwickeln.
In der reellen Gewerkschaftspraxis sieht das Krahl-Institut auch eine mögliche Entwicklungslinie angelegt, die, entsprechende Bewusstseinsbildung vorausgesetzt, den Anspruch einzulösen in der Lage wäre, eine Antwort auf die Gewerkschaftskrise zu finden, indem sie gesellschaftliche Emanzipation nicht als Eroberung oder Reform der Staatsmacht begreift, sondern als eine „Kulturrevolution“, die zugleich „klare, eindeutige Distinktionen setzt, um sich in einem antagonistischen Umfeld erhalten zu können“.
Diese Entwicklungslinie wurzelt nach Ansicht der Autoren in der Notwendigkeit, gewerkschaftliche Streikfonds zu bilden. Um die Streikrisiken zu minimieren, werden diese Fonds nicht nur als Reserve gehalten, sondern wird „das Vermögen vermögensmehrend“ eingesetzt. Aus dieser Überlegung heraus entstehe die gewerkschaftliche Konsumgenossenschaft. Sie dient der Anlage von Geldern aus den gewerkschaftlichen Streikfonds und garantiere, dass die Streikkasse nicht dem Gegner in die Hände falle. Damit läge nach Meinung des Krahl-Instituts auch prinzipiell in Reichweite, eine solche gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft auf Produktionsgenossenschaften und auf Banken auszudehnen und erwerbslose Menschen darin zu integrieren. Das liefe zugleich darauf hinaus, die industrielle Reservearmee zu demobilisieren und der Konkurrenz unter den Proletarisierten einen effektiven Riegel vorzuschieben. Nur wenn es gelingt, die Konkurrenz nicht nur zwischen den Arbeiterinnen zu reduzieren, sondern auch zwischen den Arbeitern und den Erwerbslosen und zwischen den Erwerbslosen untereinander, können Arbeitskämpfe mit Erfolg geführt werden.
Dazu wäre freilich eine neue organisatorische Basis der Gewerkschaften notwendig. Der gegenwärtige Trend geht, wie wir wissen, in die Gegenrichtung.
Der alles entscheidende Punkt, ich stimme darin mit den Autoren überein, ist in dieser Hinsicht, die „Abschaffung des Lohnsystems“ als eine gewerkschaftliche Basisforderung zu etablieren. Der Ausstieg des Deutschen Gewerkschaftsbundes aus der Gemeinwirtschaft 1987 illustriert nach ihrer Meinung genau diesen Zusammenhang. Die Gemeinwirtschaft weiter aufrechtzuerhalten, oder sie gar auszubauen, hätte an diesem Punkt vorausgesetzt, sich perspektivisch vom Kapitalverhältnis abzulösen.
Völlig klar ist in der Sicht des Krahl-Instituts, dass auch eine gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft vorderhand ein vom Kapital abhängiges Produktionsverhältnis bleibt. Allerdings unterläge es schon nicht mehr dem Zwang der Rentabilität, würde es durch Mitgliedsbeiträge und Steuerabgaben finanziert. Und noch etwas käme ihr dann zugute: die vom Kapitalstandpunkt aus veralteten, jedoch funktionsfähigen Produktionsanlagen und die ungenutzten, jedoch lebendigen menschlichen Potenzen, die das Kapital verwirft, weil es sie nicht profitproduktiv einzusetzen weiß. In einer gemeinwirtschaftlichen Produktionslogik wären Brauchbarkeit und konkrete Effektivität – im Gegensatz zu einer abstrakten Effizienz – entscheidend. Rentabilität ist nicht erforderlich. So könnte vieles in Gebrauch genommen werden, was dem Kapital nicht mehr dienen kann.
Mit dieser strategischen Zielvorstellung propagiert das Krahl-Institut keinen unvermittelten Exodus. Vielmehr plädieren die Autoren dafür, die Gemeinwirtschaft auf enge, ja integrale Weise damit zu verbinden, die Arbeitskämpfe in den kapitalistischen Betrieben selbst neu auszurichten. Ganz richtig identifiziert das Institut, „[d]as wesentliche Hemmnis in den Arbeitskämpfen […] bisher in dem gemeinsamen Interesse von Kapitalist und Arbeiter am Erhalt des Unternehmens, das Voraussetzung des Erhalts der Arbeitsplätze war“. Ohne die Drohung des Arbeitsplatzverlusts könnten dagegen die Unternehmen direkt mit dem Ziel bestreikt werden, sie zu sozialisieren und in die Gemeinwirtschaft zu überführen. Jeder erfolgreiche Arbeitskampf würde seinerseits die Gemeinwirtschaft unterstützen, wenn die Gewerkschaftsmitglieder ihre finanziellen Transferleistungen erhöhen.
Diese Organisationsweise, meinen die Autoren, könnte sich entlang der existierenden Produktions- und Verwertungsketten ausdehnen und so „über die nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg einen praktischen proletarischen Internationalismus begründen“. Zu Recht schränken sie aber ein, dass sich eine solche Organisationsweise grundsätzlich nicht darauf beschränken kann, das zu übernehmen, was das Kapital an Technologien nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Nicht nur die Organisationsweise, sondern auch die Technologien müssen neu gestaltet werden – nicht zuletzt aus ökologischen Gründen.
Den Status quo überschreiten
Nun ist freilich offensichtlich, dass die Gewerkschaften in jetzigem Zustand von einer solchen Perspektive weit entfernt sind. Und auch das Krahl-Institut hält fest, dass keinesfalls klar ist, ob die gegenwärtigen Organisationen überhaupt in der Lage sind, eine solche Transformation zu vollziehen, oder ob es notwendig sein wird, neue Gewerkschaften für einen neuen Zweck zu bilden. Dies wird nur praktisch zu entscheiden sein.
Die Verschleuderung von Gewerkschaftsvermögen und zentralen Ressourcen wie dem Streikfonds durch den Österreichischen Gewerkschaftsbund sind jedenfalls ebenso ernüchternd wie die organisatorischen Konsequenzen, die der Apparat bis dato daraus gezogen hat – sie rangieren an der Wahrnehmbarkeitsschwelle. Davon abgesehen ist derzeit keine irgendwie geartete gewerkschaftliche Perspektive ersichtlich, an die eine Strategie der Gemeinwirtschaft anknüpfen könnte. Wenn ein Gewerkschafts-Dachverband seine Streikkassa verjubelt, nicht, weil er damit besonders fahrlässig umgegangen wäre, sondern deshalb, weil seine Bank die übliche Fahrlässigkeit praktizierte und sich verspekuliert hat, so verweist das immerhin darauf, dass es sogar in einem recht bornierten Gewerkschaftsinteresse gelegen hätte, die hauseigene Bank gemeinwirtschaftlich zu führen.
Das gilt freilich nicht für eine Strategie, die eine Abschaffung des Lohnsystems ins Auge fasst. Ganz richtig stellt das Krahl-Institut diese Zielrichtung als die entscheidende heraus. Wie dahin zu gelangen sei, dass diese auch in einiger Breite geteilt werden könnte, ist in der Tat die „eigentliche Aufgabe“, die die Autoren aus ihrer Broschüre ausklammern. Die Grundeinkommensdebatte bietet eine Möglichkeit, hierin einige Schritte weiterzukommen. Vielleicht verlöre das Grundeinkommen etwas vom Geruch einer „Stilllegungsprämie“, würde es im Zusammenhang mit einer gewerkschaftlich-genossenschaftlichen Perspektive diskutiert.
Schließlich bietet das Grundeinkommen als ein Geldeinkommen, das sich von der Kapitalverwertung ableitet, tatsächlich keine langfristig sinnvolle Option. Sinn macht es nur dann, wenn es Freiräume für weitergehende Bewegungen eröffnet. Im Kontext einer Strategie, wie das Krahl-Institut sie vorschlägt, könnte das Grundeinkommen eine so abwegige, um nicht zu sagen „obskure und monströse“, Vorstellung, wie es die Abschaffung des Lohnsystems für eine Gewerkschaft ist, zumindest einmal in den Horizont des Aussprechbaren rücken.
Dabei dürfte es nicht bleiben. „Die vielleicht wichtigste Voraussetzung der Strategie“, schreibt das Institut, ist ein „massenhaftes strategisches Bewusstsein“. Im Unterschied zu einer „komplexen politischen Theorie“ verstehen die Autoren darunter „die Kenntnis der wesentlichen Unterschiede kapitalistischer und gemeinwirtschaftlicher Vergesellschaftung“. Dem Ziel einer Befreiung von den Zwängen der Geldform und damit von Tausch, Warenproduktion, Kapital und Staat würde unter gewissen Umständen ein „taktisches Produzieren für den Austausch bzw. den Markt, wenn es dem Aufbau der Organisation insgesamt dienlich ist“, nicht widersprechen. Entscheidend ist, dass eine große Zahl von Menschen ihr eigentliches Ziel vor Augen hat, das freilich darin bestehen muss, dass „das Produkt nicht wieder als Ware in den Markt eingeht, die Kooperation also keine Waren produzierende Genossenschaft darstellt“, wie Robert Kurz dazu bemerkt.
Ein solcher Versuch, „der Überwindung des Kapitalverhältnisses eine Verlaufsform zu geben“, provoziert den Einwand, dass er nicht mit dem postfordistischen Typus des flexiblen Einzelkämpfers (weniger der Einzelkämpferin) rechnet, der ein Projekt, das eine dauerhafte Organisierungsleistung abverlangt, schwerlich attraktiv findet. Und in der Tat stehen breiter gefächerte soziale Aktivitäten, die aus freien Stücken koordiniert sein wollen, vor der Schwierigkeit der Kooperation, der Kohärenz und davor, dass die Fähigkeit, sich für anderes als die unmittelbaren Überlebens- oder Karriereziele langfristig zu engagieren, schwindet.
Dafür gibt es keine einfachen und schon gar keine theoretischen Lösungen. Der Ansporn, solche praktisch zu entwickeln, eben eine Kulturrevolution zu entfalten, deren materielle Bewegung eine gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft dann wäre, ist jedoch um vieles größer als jene Schwierigkeit: Denn „wer auf die Beantwortung organisationspraktischer Fragestellungen verzichtet, für den wird diese Frage von den naturwüchsigen Strukturen der Wertvergesellschaftung beantwortet“, schreibt das Krahl-Institut auf seiner Homepage (www.hjki.de) – und das heißt: von Markt, von Kapital und Staat.