Ende der Lufthoheit

Verdi verliert immer mehr Mitglieder an Kleine Gewerkschaften, die sich vor allem um ihre eigenen Belange kümmern. Und jetzt droht auch noch der nächste Abschwung.

von Peter Samol

„Die Mehrheit der Beschäftigten“ habe das Ergebnis der Verhandlungen mit der Lufthansa AG akzeptiert, teilte Erhard Ott, der Verhandlungsführer von Verdi, vorige Woche mit. Das war nicht gelogen, aber denkbar knapp: Genau 51 Prozent sprachen sich in der Urabstimmung für die Einigung aus.

Nach nur vier Streiktagen hatten sich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Lufthansa AG Anfang August überraschend schnell auf einen Kompromiss geeinigt. Am Tag darauf war der Ausstand beendet. Neben einer geringfügigen Einmalzahlung erhalten die Beschäftigten rückwirkend zum 1. Juli 5,1 Prozent mehr Lohn, ein Jahr später noch einmal eine Erhöhung um 2,3 Prozent. Insgesamt 7,4 Prozent Lohnerhöhung, das klingt nicht schlecht. Berechnet man jedoch bei 21monatiger Laufzeit des Vertrags die jährliche Steigerung, dann beträgt die Lohnerhöhung 4,2 Prozent. Das liegt nicht nur knapp über der derzeitigen Inflationsrate von vier Prozent, sondern auch sehr nah am letzten Angebot von Lufthansa vor dem Streik. Das waren 3,8 Prozent gewesen. Verdi hatte ursprünglich 9,8 Prozent verlangt.

Verdi hat bei Lufthansa immer stärker mit konkurrierenden Kleingewerkschaften zu kämpfen. Neben Cockpit, der Standesorganisation der Piloten, ist bisher vor allem die Flugbegleitervertretung Ufo in Erscheinung getreten. Hinzu kommen mit „Kabine Klar“ eine weitere Vertretung der Flugbegleiter, die „Vereinigung Boden“ für das Bodenpersonal und die kürzlich gegründete Organisation „Mitarbeiter für Mitarbeiter“. Im März hat Verdi bei den Wahlen für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Lufthansa AG eine herbe Niederlage erlitten. Hatte die Großgewerkschaft dort ursprünglich sechs von zehn jener Plätze inne, so stellt sie inzwischen nur noch drei Arbeitnehmervertreter. Die anderen Sitze gingen an die fünf Minigewerkschaften.

Nirgends hat Verdi in den vergangenen Jahren so viel Einfluss verloren wie in der Luftfahrt. Daher wird gemunkelt, dass es der Großgewerkschaft bei dem Streik eher darum ging, die flüchtenden Mitglieder aufzuhalten und mehr Einfluss auf den Konzern zu gewinnen, als um höhere Tarife. Demnach wollte die Gewerkschaft Verdi mit der ursprünglichen Forderung von 9,8 Prozent ihren Mitgliedern zeigen, dass sie alles tut, um das Maximale herauszuholen.

Diese Absicht wurde jedoch mit dem erreichten Abschluss vermasselt. Hatte Verdi während des Streiks noch begeisterten Zuspruch von den Beschäftigten erhalten, regte sich danach Unmut. Viele Verdi-Mitglieder empfinden den gefundenen Kompromiss als zu schwach. Nicht wenige reagieren mit Austrittsdrohungen, insbesondere die Techniker, die den Betrieb bei Luft-hansa effektiv blockieren konnten. Eine neue Splittergewerkschaft mit dem Namen „A. R. T. E.“ (Aircraft Releases by Technical Engineers) steht schon bereit. Sie hat sich Tarifabschlüsse für die Flugtechniker in einer Höhe zum Ziel gesetzt, wie sie in den vergangenen Jahren nur die Lokführer und die Piloten erreichten. Die Techniker, Verdis letztes schlagkräftiges Segment in der Belegschaft bei Lufthansa, könnte somit perspektivisch auch noch verloren gehen. Das verbleibende Personal verfügt über bedeutend weniger Macht, die Betriebs-abläufe der Fluglinie zu stören.

In der Luft hat Verdi sowieso schon die Hoheit verloren. Der ausgehandelte Tarifabschluss gilt nämlich zunächst nur für das Bodenpersonal. Für das Kabinenpersonal will Lufthansa den Abschluss nur dann übernehmen, wenn auch die Flugbegleiterorganisation Ufo zustimmt. Die hat derzeit schon mehr Mitglieder unter dem Kabinenpersonal als Verdi, und sie hat angekündigt, den Vertrag nicht zu akzeptieren. Ufo will im kommenden Jahr eine Lohnerhöhung von 15 Prozent für das Kabinenpersonal erreichen. Die Pilotenvereinigung Cockpit verlangt gar eine eigene Personalvertretung im Konzern und droht deswegen mit einem Ausstand. Rechtlich ist noch gar nicht klar, ob die Piloten überhaupt für einen eigenen Betriebsrat streiken dürfen. Es wäre ein Präzedenzfall, denn bisher wurde noch nie ein Arbeitskampf mit einem derartigen Ziel organisiert.

Cockpit macht so einiges möglich. Ohne großen Vorlauf bestreikten die Piloten eine Woche nach Verdi ein Tochterunternehmen von Luft-hansa, City-Line, das im Konzern für Regionalflüge in Europa zuständig ist. Cockpit verlangte, dass die Beschäftigten bei City-Line künftig ähnlich viel Geld verdienen sollen wie die Piloten, die für Lufthansa selbst fliegen. In nur 36 Stunden ließen die Piloten 500 Flüge ausfallen. Das waren über 70 Prozent aller Starts bei City-Line.

Verdi leidet bereits seit Jahren unter Mitgliederschwund. Die Interessenvielfalt der Gewerkschaftsmitglieder ist groß und kaum noch unter einen Hut zu bekommen. Nicht nur bei Lufthansa, auch bei der Bahn und in den Krankenhäusern werben inzwischen kleine Standesorganisationen um die Mitarbeiter. Insbesondere Beschäf-tig-te, die in betrieblichen Schlüsselpositionen sitzen und daher über die Möglichkeit verfügen, ihr jeweiliges Unternehmen fast völlig stillzulegen, sondern sich immer häufiger ab. Das Ausscheren solcher Kleingewerkschaften geht allerdings auf Kosten der Solidarität. Die jeweiligen Berufsgruppen kümmern sich vor allem um ihre eigenen Belange und nur wenig um die Kollegen in anderen Bereichen. Es droht die Gefahr, dass Verdi am Ende nur noch die Vertretung schwacher Beschäftigtengruppen ohne große Verhandlungsmacht ist.

Konkurrenz für Verdi geht aber nicht nur von mächtigen Gruppen von Arbeitnehmer aus. Auch Angestellte, die keine Schlüsselpositionen innehaben, setzen sich ab. Sie werfen Verdi vor, zu unternehmensfeindlich zu sein und Arbeitsplätze aufs Spiel zu setzen. Ein Beispiel ist die „Vereinigung Boden“. Ihre Mitglieder verteilten während des Verdi-Streiks Flugblätter mit der Forderung, die Tarifpartner sollten die Verhandlungen wieder aufnehmen. Die „Vereinigung Boden“ verfolgt noch viel bescheidenere Ziele als Verdi, darunter vor allem eine Arbeitsplatzgarantie.

Auf der einen Seite melden sich die Kleingewerkschaften zu Wort, denen die Tarifabschlüsse zu bescheiden sind, auf der anderen Seite jene, die um ihre Arbeitsplätze fürchten. Und dazwischen steht Verdi. In absehbarer Zeit dürften sich weitere kleine Sparten verabschieden und eigene kleine Standesvertretungen gründen. Vor diesem Hintergrund dürfte der künstlich hochgespielte Skandal um den Freiflug des Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske das geringste Problem der Gewerkschaft sein, zumal Bsirske inzwischen Besserung gelobt hat und künftig auf solche Leistungen verzichten will.

Die Entstehung der Kleingewerkschaften ist auch ein Krisensymptom. Der so genannte Aufschwung, der sowieso nie so richtig bei allen Menschen „angekommen“ ist, nimmt gerade seinen Abschied. Seit Jahresbeginn gehen die Aufträge für die Industrie kontinuierlich zurück, was auch Lufthansa bereits langsam zu spüren bekommt. So hat etwa die Zahl der Frachtflüge in die USA stark abgenommen. Hinzu kommen steigende Kerosinpreise, die sich entweder in einem geringeren Unternehmensgewinn niederschlagen oder durch eine Erhöhung der Ticketpreise ausgeglichen werden können, was wiederum zu einem Rückgang bei den gebuchten Flügen führen dürfte. Die Zeit der halbwegs passablen Lohnabschlüsse dürfte bald vorbei sein. Denn tatsächlich gibt es bei weniger Aufträgen weniger zu verteilen. Unter den Belegschaften werden weitere Gegensätze aufbrechen.

Generell liegt das Problem der Gewerkschaften darin, dass sie nur Anteile an den unternehmerischen Wertsteigerungen beanspruchen können, die auch tatsächlich erzielt werden. Sie befinden sich in dem Dilemma, einerseits eine Lohnerhöhung für ihre Mitglieder herausholen zu müssen, andererseits die Rentabilität „ihres“ Unternehmens nicht gefährden zu wollen. Brechen die Umsätze ein, wird es schwierig, beide Ziele zu erreichen. Es kann sogar zu Lohnsenkungen oder zur Pleite des Unternehmens kommen. Solange man die allgemeine kapitalistische Logik anerkennt – und die Gewerkschaften sind Teil von ihr -, kann man dieses Dilemma nicht unterlaufen.

Neu ist, dass die fortgesetzte Krise mit einer Zersplitterung der Gewerkschaften einhergeht. Immer mehr Gruppen von Beschäftigten versuchen, für sich ihre innerkapitalistischen Ziele zu erreichen.

(Erschienen in der Jungle World im August 2008)

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