Die private Seite der Demokratie
Streifzüge 43/2008
von Peter Klein
Die Wechselwähler, die sinkende Wahlbeteiligung, die eher mäßigen Sympathiewerte, die der Beruf des Politikers in den Umfragen zu erzielen pflegt – diese und viele andere Phänomene haben längst dazu geführt, dass in der veröffentlichten Meinung das Schlagwort vom „Politik-Verdruss“ die Runde macht. Große Richtungsentscheidungen sind auf den traditionellen Feldern der Politik nicht mehr in Sicht. Das ewige Gefeilsche um die Prozentzahlen, die hier ein wenig angehoben, dort ein wenig gesenkt werden, lässt der politischen Leidenschaft keinen Raum. Überall haben wir es mit Sachthemen zu tun, die in moderatem Tonfall von den entsprechenden Sachverständigen diskutiert werden. Von Profis formuliert findet so gut wie jede Meinung ihr Plätzchen in der demokratischen Öffentlichkeit. Wozu sollte man da noch selbst aktiv werden?
Nicht einmal die Frage von Krieg und Frieden bringt die Menschen in nennenswerte Bewegung. Auch in diesem Jahr ist die Teilnahme an den Oster-Friedens-Spaziermärschen eher bescheiden ausgefallen. Die politischen Parteien, allesamt demokratisch, merken es am Mitgliederschwund, dass es so etwas wie eine „politische Identität“ nicht mehr gibt. Gleichgültigkeit, Distanz, Misstrauen und Skepsis gegenüber der Politik – das sind wohl die Worte, mit denen man die Haltung der meisten Menschen, und zwar in allen Staaten der westlichen Welt, charakterisieren muss. „Es ist eine Tatsache, dass sich immer weniger Bürgerinnen und Bürger an der Politik und in der Politik beteiligen.“ So ließ sich der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits 1997 vernehmen. Und der Autor des Artikels, in dem dieser Satz zitiert wird, vergisst nicht hinzuzufügen, dass die Bürger stattdessen etwas (vermeintlich) anderes tun: Sie haben sich „in ihrer Mehrheit – undemokratischerweise? – in eine exzessive Privatheit und Verschiedenheit der Lebens- und Unterhaltungsformen zurückgezogen (Johan Schloemann: Ach nähmen sie nur teil wie wir, SZ vom 28.10.2006).
Undemokratisch
Unmokratischerweise? Das Fragezeichen, mit dem der Autor diesen Einschub versieht, hat seine Berechtigung. Ist die politische Apathie tatsächlich ein Zeichen für das Schwachwerden des demokratischen Systems? Etliche der politischen Beobachter sehen es so. Die einen fürchten um die Demokratie, weil sie meinen, dass sie auf das aktive Mittun der Bürger angewiesen sei. Da ist es fatal zu sehen, dass die Bürger dermaßen privat geworden sind, dass sie sich nicht einmal zum Schutz der eigenen Privatheit aufraffen können. Der Protest gegen den seit dem 11. September rasant ausgebauten „Überwachungsstaat“ findet lediglich in einigen Zeitungen statt. Andere wiederum fürchten, dass sich hinter den langweiligen Ritualen des demokratischen Alltagsbetriebes ein durchaus unerwünschtes Mittun der Massen vorbereiten könnte. Das Volk, wenn es im Originalton seine Stimme erhebt, weiß seit jeher, wer schuld ist. Es hat eine vermaledeite Vorliebe für schnelle, gewaltsame Lösungen, die sich im Handumdrehen in Katastrophen verwandeln. Wer das Volk ruft, muss mit den primitiven Ressentiments der ewig Neidischen und ewig zu kurz Gekommenen rechnen, die die Konkurrenzgesellschaft ja am laufenden Band produziert. Nach dieser Ansicht haben wir es mit einer Ruhe vor dem Sturm zu tun und es droht eine Neuauflage der totalitären Demokratie.
Wieder andere, antikapitalistisch Gesinnte, betrachten die Abkehr von der Politik mit Wohlgefallen. Denn die Demokratie, das wissen sie, ist ja nichts anderes als jene Form der gesellschaftlichen Organisation, in welcher die Menschen frei sind, dem überaus weit verbreiteten Trieb zum Gelderwerb zu gehorchen – womit sie so nebenbei das automatische Subjekt der kapitalistischen Wertverwertung bedienen. Das Erlahmen des politischen Interesses könnte bedeuten, dass sie den Blick von den Prinzipien und Ideen abwenden, um ihn auf den kapitalistischen Boden zu richten, der ihnen alles andere als Sicherheit bietet. Krise der Demokratie – der direkte Weg zur Kritik des Kapitalismus?
Alle diese Positionen, auch die zuletzt genannte, für die ich selbst ein Faible habe, scheinen mir daran zu kranken, dass sie die Demokratie zu sehr als ein Produkt des gesellschaftlichen Bewusstseins betrachten, dessen Wohl und Wehe von einem ausdrücklich darauf gerichteten Wollen und Bekennen abhängt. Wird der politische Wille schwach, greift der „privatistische“ Lebensstil um sich, dann ist das auch ein Schwachwerden der Demokratie. Die Weimarer Republik, der es bekanntlich an überzeugten Demokraten fehlte, ist das geläufige historische Vorbild, aus dem dieser Gedanke sich speist. Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass es damals der Masse der Bevölkerung auch an jener „exzessiven Privatheit“ gebrach, mit der wir es heute zu tun haben. Man braucht sich nur die gedrückte Lage der ostelbischen Landarbeiter vor Augen zu halten, wie sie etwa Joseph Roth in „Das Spinnennetz“ (Wien 1923) schildert, um verstehen zu können, dass Privatsein und Privatsein zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes bedeutet. Das Problem, das Leben nach eigenem Geschmack und in freier Selbstverantwortung gestalten zu müssen, war seinerzeit, als die „bessere Gesellschaft“ in ihrem Denken und Handeln noch viele Züge der patriarchalen Arroganz und Selbstherrlichkeit aufzuweisen hatte, sicherlich weniger weit verbreitet als heutzutage, wo das Proletariermädchen die wichtige Frage zu entscheiden hat, ob es sein Geld für die coole Brustvergrößerung oder doch lieber für den Urlaub ausgeben soll.
Privatheit als Verstaatlichung
Denn das darf man eben nicht vergessen: dass es sich bei der Privatheit per se um eine gesellschaftliche Kategorie handelt. Sie ist ein Moment des als Staat organisierten Gemeinwesens, sie spiegelt den Entwicklungsstand der staatlichen Organisation wieder und ist, was ihren politischen Stellenwert betrifft, nur im Rahmen dieser Organisation zu verstehen. Und da ist es doch eigentlich klar, dass die private Form nur in dem Maße vordringen konnte, in dem die Staatstätigkeit sich ausdehnte und nach und nach alle Arten von Beziehungen in solche von gleichrangigen Rechtspersonen verwandelte. Die kapitalistische Marktgesellschaft verlangt den persönlich freien Marktteilnehmer und Geldverdiener. Dementsprechend wurden die vormodernen Abhängigkeits-, Treue-, Gefolgschafts- und Fürsorgebeziehungen unhaltbar. Sie wurden ersetzt durch Verträge zwischen gleichberechtigten Personen, deren jeweilige Tätigkeit und Lebenssituation dabei als Rechtsmaterie beschrieben (und dementsprechend einheitlich organisiert) werden musste. Selbstverständlich, dass damit die Recht setzende und Recht sprechende Gewalt, der Staat mit einem Wort, an Umfang und Gewicht zunahm. Wenn aber der freie Wille als die Grundausstattung einer jeden Rechtsperson, die sie zum Verträgeschließen benötigt, auf der Ebene des einzelnen Individuums angelangt ist, dann heißt das eben, dass die Individuen voneinander getrennt und unabhängig, dass sie durchgängig zu Privatpersonen geworden sind.
Etwas anderes haben die philosophischen Vordenker des modernen Staates unter Freiheit und Gleichheit nie vestanden. Die Menschen sind nach dieser Auffassung a priori voneinander getrennte Einzelwesen, Freiheit ist die Freiheit voneinander, weshalb der Zusammenhang der Menschen als eine extra Veranstaltung konzipiert werden muss: als ein System allgemeiner Gesetze, das es den empirischen Unterschieden zwischen den Menschen nicht mehr gestattet, irgend Einfluss auf ihren rechtlichen Status zu nehmen.
In diesem Sinne wäre ein Staat dann vollendet, wenn er, als Rechtssystem allgegenwärtig geworden, für sich selbst keine Aufmerksamkeit mehr beansprucht. In einem solchen Staat, der gleichsam ohne ideologischen Eigennamen funktionieren würde, rein als eine Recht setzende, Recht ausführende und Recht sichernde Maschine, hätte die Rechtsform sozusagen in jedem einzelnen Individuum Wurzeln geschlagen. Die Bürger dieses Staates würden sich immer schon, ohne dass es ihnen noch zu Bewusstsein käme, als Rechtspersonen verstehen, und das private Dasein wäre zum selbstverständlichen Ausgangpunkt all ihrer Interessen und Bedürfnisse geworden. Selbst noch die Weltanschauung würden sie – unter Außerachtlassung der Welt, in der sie sich tatsächlich befinden – für ihre private Angelegenheit halten. Die Rede ist natürlich von der modernen Demokratie. Sie scheint mir diesem Idealbild von einem Staat, der nichts weiter mehr ist als ein Funktionsraum für private Interessen, in der Tat nahe zu kommen. Die Single-Gesellschaft unserer Zeit ist nicht die vom Staat abgewandte, sondern die total verstaatlichte Gesellschaft.
Funktion als Charakter
Die Pioniere dieser Art von individualistischer Privatheit, die ihren Konstitutionsbedingungen gegenüber blind ist, konnten die Abkehr von der „Herde“ und dem „Herdenbewusstsein“ noch als ein aufregendes und belebendes Abenteuer empfinden. In Zwiesprache mit sich selbst treten, sich selbst finden, zu sich selbst stehen – das sah damals nach Fülle und Reichtum aus. Die Nietzsche und Hesse vermochten die Schmerzen und Wonnen der „Einsamkeit“ noch zu kultivieren. Damit ist es in den Zeiten der „einsamen Masse“ (Riesman) vorbei. Die Herde besteht heute aus lauter „selbstverantwortlichen Individuen“, die in ihrem „Selbst“ vergeblich nach einem Inhalt suchen.
Es liegt auf der Hand, dass dieser Vergesellschaftungszustand, bei dem gigantische, weltweit dimensionierte Produktivkräfte von Leuten gehandhabt werden, die allesamt in der privaten Form eingesperrt und mit der privaten Lebensgestaltung beschäftigt sind, äußerst katastrophenträchtig ist. Schon die Weltkriegsepoche hat ja gezeigt, welche gewaltigen Destruktionspotentiale die kapitalistische Gesellschaft gerade dadurch zu mobilisieren vermag, dass sie in weiten Bereichen als eine rein nach objektiven Kriterien der Effizienz organisierte Maschine funktioniert, die das private Meinen und Trachten der Menschen unberührt lässt. Adolf Eichmann, der „, persönlich‘ … nie das Geringste gegen die Juden gehabt“ hat (S. 54), aber gleichwohl ihre Ausrottung organisierte, gilt seit Hannah Arendts berühmtem Buch (Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964) als der Prototyp des modernen Menschen, bei dem die private Motivlage und das praktische Funktionieren im Rahmen der bürokratischen Maschinerie weitgehend voneinander dissoziiert sind. „Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive“ (ebd. , S. 15 f. ).
Obwohl die Hitler-Diktatur in hohem Grade ideologisch aufgeladen war, obwohl sie sich als ein geschichtsmetaphysisches Werk in Szene setzte, bei dem das Schicksal Deutschlands, der weißen Rasse und überhaupt der Kultur auf dem Spiele stand, war sie längst genug Staat, um in massenhaftem Umfang diese Eichmann-Problematik hervorbringen zu können. Hinterher gaben die meisten der Beteiligten zu Protokoll, dass sie sich lediglich in der Rolle des Zuschauers, wenn nicht gar des Opfers befunden hätten. Sie hätten nichts weiter getan, als im Rahmen des allgemein Üblichen ihrer Pflicht zu genügen.
Meines Erachtens handelt es sich bei dieser Wahrnehmung keineswegs bloß und nicht einmal in erster Linie um Heuchelei, sondern um ein Problem, das der moderne verstaatlichte Mensch mit der Wirklichkeit überhaupt hat. Eben in der Rede von dem, was allgemein üblich ist oder allgemein gilt, scheint diese Problematik auf. Denn die Allgemeinheit ist diejenige Kategorie, auf der das beruht, was wir Objektivität nennen. Und das ist, wie wir seit Kant und seiner Formulierung des Ding-an-sich-Problems wissen, etwas durchaus anderes als die konkret gelebte Wirklichkeit.
Auch in moralischer Hinsicht ist die Allgemeinheit das ausschlaggebende Kriterium für die Unterscheidung von objektiv richtig und falsch. Forderungen, die im Namen der Allgemeinheit an ihn herangetragen werden, empfindet der bürgerliche Mensch als verpflichtend, auch wenn er ihnen gefühlsmäßig ablehnend oder distanziert gegenübersteht.
Weil die Objektivität das ist, was allgemein gilt, betrifft sie mich in dem, was ich persönlich bin, gerade nicht. Im Hinblick auf die Objektivität muss ich von meiner konkreten Situation und Befindlichkeit abstrahieren. Hier ist meine Vernunft gefordert, dasjenige von mir, was sich auf Objektivität beziehen, was mit Objektivität umgehen und also in den Kategorien von Richtig und Falsch denken kann. Richtig im Sinne Kants und des modernen Staates ist aber immer das, was mich und alle anderen Privatpersonen, die über einen freien Willen verfügen, in dieser Subjektform bestätigt. Dagegen muss das, was mich als empirisch konkrete Person kennzeichnet und ausmacht, einschließlich meiner Gefühle und Neigungen, zurückstehen. Es findet diesseits davon statt, eben in jenem Bereich, in dem ich nicht der Allgemeinheit und ihren Sachzwängen gehöre, sondern, dank meines privaten Daseins, von ihr getrennt bin.
Takt der Objektivität
Nun ist aber, siehe oben, dieses private Dasein inzwischen auf das Niveau des vereinzelten Individuums heruntergekommen. Irgendwelche organisatorischen Erfordernisse, Beziehungen zu anderen Menschen, die in persönlicher Verantwortung zu gestalten wären, fallen auf diesem ebenso reduzierten wie verallgemeinerten Niveau von Privatheit nicht mehr an. Der Bourgeois und der Gutsbesitzer des 19. Jahrhunderts hatten es innerhalb ihrer Privatsphäre, für welche ihnen ihr Betrieb und Hausstand gelten mussten, mit Untergebenen und Schutzbefohlenen zu tun hatten. So verpflichtete sich, „wer in der Darmstädter Firma E. Merck 1853 einen Arbeitsvertrag unterschrieb, … gegenüber dem , Brodherrn‘ nicht allein zur pünktlichen Ausführung aller Arbeiten sowie zur unbedingten Übernahme notwendiger Überstunden, sondern auch dazu, , durch Fleiß, Treue und ordentlichen Lebenswandel die Zufriedenheit seines Herrn zu erwerben'“ (Jens Bisky, Ein Volk bei der Arbeit, SZ vom 24.4.08). Die moderne Privatperson jedoch hat es bloß noch mit anderen Privatpersonen zu tun. Deren Beziehungen gehören aber von vornherein ins Jenseits der vom allgemeinen Gelten des Rechtssystems gewährleisteten Objektivität. Organisatorische Kompetenzen werden von der Privatperson nicht erwartet und nicht trainiert. Sie ist nur für sich selbst verantwortlich, alles andere regeln die Gesetze. Kaum eine Management-Entscheidung, bei der nicht der Justitiar zu Rate gezogen werden müsste, kaum eine Familie, die ihre Zwistigkeiten ohne den Beistand der Rechtswissenschaft beizulegen vermöchte. Selbst die Frage, ob und in welchen Zeitabständen ein Vater sein außerehelich geborenes Kind sehen darf oder muss, wird öffentlich diskutiert – als eine Herausforderung für das Rechtssystem.
Mit dem persönlichen Leben ist es unter diesen Umständen nicht weit her. Hannah Arendt hatte schon zu ihrer Zeit Recht, dieses Wort, mit dem Eichmann sich „persönlich“ zu entlasten suchte, in Anführungszeichen zu setzen. Um wieviel mehr ist die Relevanz des „Persönlichen“ heute in Zweifel zu ziehen, wo die Objektivierung aller Lebenslagen noch viel weiter fortgeschritten ist! Auf allen Seiten ist das private Individuum von Normen und Regeln umstellt, überall gibt die Objektivität den Takt vor, überall handelt es sich darum, die Entscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ zu treffen. Da bleibt für das Fühlen und Spüren, das in früheren Zeiten immerhin beim weiblichen Geschlecht ein Unterkommen gefunden zu haben schien, freilich auch nur im Rahmen der seinerzeitigen Privatsphäre, nicht mehr viel Platz.
Zunächst waren es die sozialen Rangunterschiede, die sich im Jahrhundert des (mal mehr, mal weniger nationalen) Sozialismus zu bloßen Funktionskategorien objektivierten. Dank des ziemlich in die Breite gegangenen Wirkens von Psychoanalyse und Feminismus sind inzwischen auch die Gefühle auf die „andere Seite“, nämlich der Objektivität, übergegangen und zum Gegenstand kluger Erörterungen in klugen Büchern geworden. So schreibt Eva Illouz in ihrem Buch „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“, im Zuge der Rationalisierung von Beziehungen komme es zu der Vorstellung, „dass Emotionen ins Selbst gesperrte separate Entitäten sind, die durch Verschriftlichung zu fixierbaren, vom Selbst ablösbaren Entitäten werden, denen mit Beobachtung, Manipulation und Kontrolle beizukommen ist“ (Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno-Vorlesungen 2004, Frankfurt/M 2006. Besprechung durch Jens Bisky, SZ vom 28.7.06). Das existenzielle Bedürfnis, das einmal viele bewegte, ist domestiziert und eingehegt worden durch das Recht, das die Menschen nur als Vereinzelte respektive Private kennt, die der Versicherungspflicht unterliegen. Wo immer eine empirische Unebenheit auftritt, die das runde Laufen der kapitalistischen Maschine stören könnte, ist flugs ein „Antidiskriminierungsgesetz“ zur Stelle, das sie glatthobelt. Wenn es nach der Transgenderszene geht, der „letzten Bürgerrechtsfront“ (SZ vom 3.5.08), wird demnächst auch der Geschlechtsunterschied zu jenen empirischen Tatsachen gehören, die es juristisch nicht mehr gibt.
Die Demokratie ist logischerweise die Endstation der Demokratisierung. Als solche ist sie der Friedhof, auf dem all die Hoffnungen, Träume, Leidenschaften und Illusionen begraben sind, die die verschiedenen „Materien“ auf ihrem Weg zur Rechtwerdung begleiteten. Die Zeit der kollektiven Bewegtheiten ist jedenfalls vorbei, und die Frage, wie sie sich bei dem, was allgemein gilt und ihr Verhalten bestimmt, fühlen, besitzt für die meisten Menschen bloß noch einen hypothetischen, wenn nicht utopischen Charakter. Einen Beitrag zur Veränderung dessen, was sie für die einzig denkbare Realität halten, können sie darin nicht erkennen. Fühlen kann man sich bekanntlich, wie man will – im Übrigen gilt, frei nach Kants Kategorischem Imperativ: „Wat mutt, dat mutt. “
Mit anderen Worten: Für die Insassen der modernen Demokratie ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie objektiv definierte Funktionen ausüben, die mit ihnen „persönlich“ nichts zu tun haben. Da ihr persönliches Leben von Objektivität wie von einer Plastikfolie versiegelt ist, sind sie bei dem, was sie tun, grundsätzlich nicht präsent, sie sind niemals mit ganzem Herzen bei der Sache, an welche sie persönlich nichts, die „objektive Notwendigkeit“ des Gelderwerbs dafür umso fester bindet. In diesem Sinne schreibt der französische Philosoph Bernard Stiegler, dass die „psychosoziale Verfassung der Gegenwart“ als „globales Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ zu bezeichnen sei. Er spricht von einer „Gesellschaft verantwortungs- und rücksichtsloser Wesen, die keine Sorge – weder die Sorge für sich, noch für die anderen, noch die Welt – mehr kennt“ (Bernard Stiegler: Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. (Frankfurt/M 2008. Besprechung durch Erich Hörl, SZ vom 22.4.08. Peter Sloterdijk beurteilte in den achtziger Jahren das Phänomen, das damals locker und spaßig aussah, noch positiv. Es schien ihm die „kynische“ Gegenthese gegen die herrschende „zynische Vernunft“ zu sein).
Umgekehrt heißt das natürlich, dass sich das kapitalistische System vom persönlichen Meinen und Für-wahr-Halten, das die allemal privaten Individuen in bunter Vielfalt betreiben – von der Wiking-Jugend bis zum Bibel-Kreis ist jedes Hobby vertreten -, restlos emanzipiert hat. Die Maschine der Wertverwertung frisst die natürlichen Ressourcen der Erde bis zu deren völliger Erschöpfung. Urwälder werden vernichtet, Wüsten breiten sich aus, das Klima kippt, Hungersnot und Bürgerkrieg wüten in vielen Ländern, weite Teile der Welt versinken in Not und Elend – und diejenigen, die diese außer Rand und Band geratene Maschine in aller privaten Unschuld täglich bedienen, haben mit all dem nichts zu tun! Persönlich nichts zu tun, muss man sagen, denn das, was der Geschäftsverlauf und die Objektivität des Marktes verlangen, steht ja auf einem ganz anderen Blatt.
Modus als Struktur
Das Privatsein ist offensichtlich der Modus, in dem wir als Bestandteile des kapitalistischen Systems funktionieren können, ohne ausdrücklich „dafür“ sein zu müssen. Das liegt eben daran, dass uns im hoch verrechtlichten Kapitalismus der modernen Demokratie überall nur die Objektivität gegenübersteht: eine Macht, zu der wir uns als die dazu passenden bzw. passend gemachten Subjekte nicht eigens zu bekennen brauchen und die deshalb wirksamer herrscht als jede Parteidiktatur. Dieses Gegenüberstehen ist kennzeichnend für die Subjekt-Objekt-Konstellation, in der sich das moderne Denken seit Descartes herumtreibt und wir, wie Slavoj Zizek schreibt, auf dem besten Wege seien, „abstrakte kartesianische Subjekte“ zu werden (in seinem Aufsatz „Das wahre Erbe des Jahres 1968“, SZ vom 3.5.2008).
In Descartes` cogito ergo sum meldet sich erstmals jenes abstrakte Ich zu Wort, das seiner selbst ausgerechnet darin sicher zu sein meint (sum), dass es sich als solches vor allem Inhalt und unabhängig von allem Inhalt, den es etwa zu erkennen oder zu bezweifeln gibt (cogito), definiert – wodurch, nebenbei gesagt, der Inhalt automatisch zu einem Gegenüberstehenden wird, zu etwas, das in der Gegenstandsform gedacht werden muss. Nach den Jahrhunderten der Verrechtlichung, vulgo Demokratisierung, ist dieses vor und unabhängig von jedem Inhalt nicht bloß ein theoretischer Standpunkt geblieben. Vielmehr ist diese Konstellation, das Auseinander von Subjekt und Objekt, zur Funktionsbedingung der modernen Gesellschaft geworden. Wo und wann immer wir es mit „objektiven Gegebenheiten“ zu tun haben, bringt uns der Subjektstatus, in dem wir uns als private Rechtspersonen immer schon befinden, in die Position des Gegenüber- oder Außerhalbstehens.
Die Abstraktion, die dieser Konstellation zu Grunde liegt, hat Kant sehr einleuchtend als ein stillschweigend unterlaufendes „Apriori“ bezeichnet – allerdings „der Vernunft“, was heute, da das Abstrahieren keineswegs bloß im Denken stattfindet, vielleicht nicht mehr ganz so einleuchtend klingt. Für diejenigen, die in diesem Apriori befangen sind (und wer ist das nicht? ), hat es jedenfalls einen die Wirklichkeit verschleiernden Effekt. Ähnlich jenem Tarnumhang, der Harry Potter zur Verfügung stand, bringt es die Tatsache zum Verschwinden, dass es ja allemal die privaten Subjekte selbst sind, die in ihrem täglichen Funktionieren jene Objektivität erzeugen, für die sie persönlich keine Verantwortung tragen.
„Es ist Krieg“, sprach der Soldat und stieg in den Zug, der ihn nach Russland bringen sollte. „Es gibt ein Umweltproblem“, sagt der Bürger heutzutage, und dabei steigt er ins Auto oder ins Flugzeug. Da man dem System nicht mehr ausdrücklich zuzujubeln und mit „Heil“-Rufen seine Unterstützung kundzutun pflegt, besitzt dieses „Es“ heute mehr Gewicht als jemals zuvor, viel mehr als zur Zeit Adolf Eichmanns. Niemand ist da, der die Katastrophe im Namen irgendeiner menschenfresserischen Ideologie fordern oder für notwendig erklären würde. Der Krieg gegen das reale Leben, das dem Standpunkt der Objektivität übrigens seit jeher für anrüchig galt, funktioniert heute ohne den ideologischen Aufwand, den die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts zu ihrer Zeit noch betreiben mussten. Die moderne Demokratie ist auf Lobhudeleien irgendwelcher Art nicht mehr angewiesen. Der demokratische Kapitalismus kann sich sogar den Luxus des „kritischen Bewusstseins“ leisten und angesichts der Zerstörungen, die er weltweit anrichtet, Betroffenheit zelebrieren. Die Aufrufe zum „Umdenken“ sind Legion.
Die Crux liegt nicht im Denken, sondern im Sein. Weshalb auch die Meinungsfreiheit nicht das edle Gut ist, als welches sie uns von denen, die damit Geld verdienen, angepriesen wird. Bei Hunderten Fernsehsendern und Millionen Druckerzeugnissen ist sie zunächst mal nichts anderes als die rechtlich unerlässliche Grundlage einer weit verzweigten Industrie, die immer schon die Staatsgewalt zu ihrer Voraussetzung hat. Die Zeiten, in denen das Meinen und Bekennen und Eide Schwören noch etwas geholfen hat, sind vorbei. Freiheit und Gleichheit besitzen heute nicht mehr den Stellenwert eines politischen Bekenntnisses. Sie haben sich vielmehr in dem rechtlichen Status, den wir als vereinzelte Privatpersonen innehaben, praktisch und realitätsbestimmend niedergeschlagen. Mehr als alle Glaubenssätze vor ihnen sind sie zum Bestandteil des gesellschaftlichen Seins geworden. Als solches beruht ihre Wirkung nicht auf dem Inhalt, den wir jeweils bezwecken, sondern auf dem Standpunkt, den wir dabei stillschweigend voraussetzen: auf dem stummen Apriori der Privatheit, das wir im Bemühen, „selbständige“ und „selbstverantwortliche“ Mitglieder der Gesellschaft zu werden, die ihr „eigenes Geld“ verdienen, von Kind auf eingeübt haben. So lange dieses Apriori nicht wenigstens mental einen Knacks bekommen hat, braucht uns um die Demokratie als den vollendeten Staat nicht bange zu sein – leider, muss ich sagen. Oder um einen ehemals bekannten Theoretiker zu bemühen: „Die alte Scheiße“ wird sich, Krise hin, Krise her, immer wieder von Neuem herstellen.
So lange die Menschen ihre private Freiheit nicht als das erstickend enge Gefängnis empfinden, das längst daraus geworden ist, wird auch das ominöse „Wir“, das ständig zum „Umdenken“ aufgefordert wird, nicht aufhören können, die zum privaten Ich sich komplementär verhaltende Abstraktion der staatlichen Allgemeinheit zu sein. Die verhängnisvolle Konstellation von Subjekt und Objekt, die in immer mehr Lebensbereichen die persönliche (An-)Teilnahme ausschließt und lähmt, wird sich immer noch weiter ausdifferenzieren, und über kurz oder lang dürfte eine Situation entstehen, die uns alle, die ideologischen Lobredner und Gegner des Systems gleichermaßen, das Fürchten lehrt. Die am Gängelband der Objektivität sozialisierten Bewohner der Demokratie hatten keine Zeit, ihre persönlichen Bedürfnisse zu entwickeln. Sie werden die Objektivität von Markt und Staat, wenn sie endlich unerträglich geworden ist, nicht mit einem zivilen Händedruck verabschieden, um die Befriedigung ihrer Bedürfnisse von Stund an persönlich und in eigener Verantwortung zu organisieren. Der Organisation der Sachzwänge, von der sie auf allen Seiten umstellt sind, werden sie mit der kompletten Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Organisation überhaupt begegnen. Aus der Gemengelage von Verwahrlosung und Verzweiflung, von stumpfsinnig ausgeübter und hingenommener Brutalität, von hysterischem Gutmenschentum und explosivem amoklaufenden Hass, die sich bereits heute in vielen Bereichen bemerkbar macht – nicht von Birma, sondern von den am höchsten entwickelten Zentren des demokratischen Kapitalismus ist die Rede -, lässt sich ohne allzu viel apokalyptischer Phantasie eine Situation extrapolieren, die in Punkto Barbarei die „ordentlich“ funktionierende Tötungsmaschinerie Hitlers noch übertreffen könnte. Hannah Arendt: „Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung `überflüssig´ zu machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man `Probleme´ mit einem Vernichtungspotenzial lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen“ (a. a. O. , S. 322).
* gegenüber der Printversion um einige Zusätze verlängerter Text