L E S E P R O B E
(aus: Franz Schandl, Maske und Charakter, krisis 31, Sommer 2007, S. 138-143)
Interessen folgen einer Standpunkt- oder Standortlogik. Sie setzen einen Teil gegen andere Teile des Ganzen. Da der Teil aber Bestandteil des Ganzen ist, affirmieren sie dieses. Das Gehäuse, in dem sie sich bewegen, ist das des Werts, der Kampf ist ein nicht abreißender Kampf um Geldmittel. Übersetzt man sie richtig, dann sind Interessen in erster Linie monetäre Ansprüche, die man hat oder stellt. Der Begriff selbst stammt aus dem römischen Schuldrecht. Die gesellschaftlichen Vertretungen treten im realen wie vermeintlichen Interesse der von ihnen Vertretenen gegeneinander an. Forderungen und Verwirklichungen von Interessen finden im Gegeneinander der Konkurrenz und nicht im Füreinander der Kooperation statt. In der Konkurrenz herrscht das Interesse, in der Konkurrenz zu bestehen, was freilich nur realisiert werden kann, wenn die Konkurrenz aktuell nicht bestehen kann. Es geht in diesem Kampf um Sieg und Niederlage, auch dort, wo alles domestiziert und rechtsstaatlich über die Bühne geht. Interessen müssen stets gegen andere Interessen abgewogen und durchgesetzt werden. Das Interesse stellt so das Eigene gegen das Nichteigene, das gemeinhin als das Andere oder das Fremde gilt. Das Interesse ist ein Instrument der Abgrenzung, eines, das handfeste Resultate erzielen muss. Wobei Einzel- und Gesamtinteressen der jeweiligen Charaktermasken auseinandertreten, sie müssen sowohl die Konkurrenz unter sich austragen als auch diese Konkurrenz gemeinsam gegenüber anderen organisieren. „Indes, der einzelne Kapitalist rebelliert beständig gegen das Gesamtinteresse der Kapitalistenklasse“1, schreibt etwa Marx.
Interesse meint Besonderheit gegen Besonderheit, aber auch Einzelheit gegen Allgemeinheit: „Eben, weil die Individuen nur ihr besondres, für sie nicht mit ihrem gemeinschaftlichen Interesse zusammenfallendes suchen, überhaupt das Allgemeine illusorische Form der Gemeinschaftlichkeit, wird dies als ein ihnen , fremdes‘ und von ihnen , unabhängiges‘, als ein selbst wieder besondres und eigentümliches , Allgemein‘-Interesse geltend gemacht, oder sie selbst müssen sich in diesem Zwiespalt bewegen, wie in der Demokratie. Andererseits macht dann auch der praktische Kampf dieser beständig wirklich den gemeinschaftlichen und illusorisch gemeinschaftlichen Interessen entgegentretenden Sonderinteressen die praktische Dazwischenkunft und Zügelung durch das illusorische , Allgemein‘-Interesse als Staat nötig. „2
Das Interesse, von dem hier die Rede ist, unterscheiden wir von profanen Anliegen, Wünschen und Begehrlichkeiten nach Gesundheit, Anerkennung, Zufriedenheit, Glück, Sättigung, Sexualität, Freundschaft. Demokratie bedeutet Akzeptanz der Interessen, aber Relativierung der Anliegen anhand jener. Interessen müssen gewichtet werden. Die entscheidenden Kriterien eines Interesses sind seine indirekte Vermittlung sowie seine Gegengerichtetheit. Anliegen hingegen fehlt weitgehend diese Gegengerichtetheit. Der Charakter der Interessen ist konkurrenzistisch und konfrontativ, darüber mögen auch die geschlossenen Kompromisse nicht hinwegtäuschen, ohne die immer offner Krieg wäre: „Wer, wie das so heißt, in der Praxis steht, Interessen zu verfolgen, Pläne zu verwirklichen hat, dem verwandeln die Menschen, mit denen er in Berührung kommt, automatisch sich in Freund und Feind. Indem er sie daraufhin ansieht, wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert er sie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sind verwendbar, die andern hinderlich. „3
Interesse könnte man definieren als formierte und uniformierte Bestrebung von Rollenträgern. Es ist ihren Masken eingeschrieben, eingeritzt. Sehe ich die Masken, weiß ich schon, wofür sie stehen. Überraschungen sind selten. Es ist eigentlich ziemlich abgeschmackt: Gewinner am Markt sind für dessen freie Entfaltung und Verlierer schreien nach Protektionismus. Und beide Gruppen bilden sich auch noch ein, sie vertreten sich selbst und nicht bloß das, was sie gesellschaftlich darstellen. Diese Verwechslung mit der Rolle ist konstitutiv für das Subjekt.
Allerdings sind weitere Differenzierungen notwendig. Interesse ersten Grades meint das Wahrnehmen und Eintreten der Charaktere für sich und ihresgleichen. Mit der Interessengemeinschaft alleine ist nicht viel getan, sie ist ideell notwendig, aber reell unzureichend. Die Absonderung selbständiger Organe ist unabdingbar. Verwaltung und Aufrechterhaltung dieser Interessen bedürfen eigener Körperschaften und Vereinigungen, kurzum Interessenvertretungen, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft für so ziemlich alles herausgebildet haben. Interessenvertretungen als Organisierung vergleichbarer Masken verdeutlicht, dass die unmittelbaren Interessen derselben einer mittelbaren Instanz bedürfen, um gesellschaftlich überhaupt relevant zu werden und medial auftreten zu können. Daher unterscheiden sich starke (Gewerkschaften, Steuerzahler, Autofahrer … ) von schwachen Vertretungen (Konsumenten, Mieter, Hausfrauen, Kinder … ) gerade in ihrer Potenz zur Organisation, was bedeutet, Unmittelbarkeit in Mittelbarkeit und Isolation durch Bündnis zu ersetzen.
Womit wir beim Interesse zweiten Grades angelangt sind: Hier nun stellt sich das Interesse der Interessenvertretung über die Interessen ihrer Klientel. Dieses abgehobene Interesse resultiert aus der Verwaltung der jeweiligen Basisinteressen. Aus dem Spannungsverhältnis speist dieses Interesse zweiten Grades seine Kraft, wie es aus der Mittelbarkeit seine Legitimation bezieht. Zum Basisinteresse hat es eine funktionale, ja oft instrumentelle Beziehung. Konflikte, die aus diesen Differenzen rühren, führen dann zum obligaten Gezeter gegen die da oben. Man spricht von Bürokratisierung und fordert dementsprechend Bürokratieabbau. Das gehört dazu. Die beklagte Abgehobenheit ist leicht erklärbar: Interessenvertreter haben bei der Interessenvertretung mehr mit sich und anderen Interessenvertretern zu tun als mit ihren Interessenten. In dieser logischen wie seltsamen Konstellation werden die Interessen der Interessenten nachrangig und die Interessen der Interessenvertreter vorrangig. Abgehobenheit ist Folge der notwendigen Selbstbezüglichkeit. Warum sollte gerade von den Funktionärsmasken anderes zu erwarten sein als die Vertretung der Funktionäre? Interessenvertreter haben Eigeninteressen, die sich von den Interessen der Vertretenen unterscheiden. Das stärkste Interesse der Interessenvertretung ist nicht das Interesse der Vertretung der Interessenten (Arbeiter, Bauern, Steuerzahler, Versicherte … ), sondern das Interesse an ihr selbst, also an der Vertretung der Interessenvertretung. Aus Interessenvertretern werden Interessenvertreter.
Interessen können nicht mehr so klar und deutlich deduziert werden, weil die Rollen sich multiplizieren und Eindeutigkeiten weniger Platz haben. Die herkömmlichen Muster greifen nicht und flexiblere Modelle leiden an mangelnder Potenz. Der Einfluss des ehemaligen Blocks ist den Blockaden gewichen. Ohnmacht hat Macht ersetzt. Man hat wenig Erfolge vorzuweisen und spricht daher hilflos und abgeklärt von Sachzwängen. Steigende Selbstbeschäftigung ist Ausdruck zunehmender Wirkungslosigkeit. So geht man auf Fehlersuche, ohne fündig zu werden. Die fundamentalen Herausforderungen kann man gar nicht begreifen, ohne die eigene Existenz in Frage zu stellen. Wer tut das schon? Nichts verstrahlt mehr die Euphorie der Gründungstage oder der Aufstiegsphase. Da ist kein Aufbruch, nirgends. Man plündert die Schatzkammern und verwaltet Ruinen. Desinteresse hat Engagement abgelöst. Interessen wie Interessenvertretungen haben ihre besten Zeiten bereits hinter sich. Was mit leichten Irritationen begann und sich in Wahrnehmungsdefiziten ausdrückte, hat sich zur manifesten Handlungskrise ausgewachsen. Am deutlichsten ist das bei den Gewerkschaften zu erkennen, da die gesellschaftliche Relevanz der in ihr organisierten Lohnarbeiterschaft rapide sinkt.
Das heißt nun gar nicht, dass manchmal nicht doch rauschende Feste gefeiert werden, diese werden sogar mehr statt weniger. Dort, wo Zumutung und Leere herrschen, erleben Events eine Hochzeit nach der anderen. Nur schärfste Surrogate übertrumpfen die unendliche Traurigkeit mangelnder Perspektiven. Deren Essenz freilich ist Fiktion. Im Zuge kulturindustrieller Durchsetzung und Nivellierung wurden nicht nur Gesinnungsvertretungen wie Parteien und Kirchen, sondern zunehmend auch die Interessenvertretungen immer mehr angehalten, der medialen Simulationsmaschine zu dienen und sich als Stimmungsvertretungen zu inszenieren. Dieser populistische Zug ist allerorten beobachtbar, auch die Politik ist ihm unterworfen. Wer auf jener Ebene nicht punkten kann, ist aus dem Spiel. Jede Initiative, die das klassische Interesse wieder in seine Rechte setzen will, wirkt anachronistisch, gleicht einem Fortbewegungsmittel aus untergegangenen Zeiten.
Wo sich die alten Interessenidentitäten verflüchtigen, steigen postmoderne auf, z. B. Markenidentitäten. Marken stiften kurzweilige Neogemeinschaften, wo langweilig gewordene Altgemeinschaften versagen. Ihre Ansprache ist die Werbung. Gefügigkeit realisiert sich im Kauf, der einem akuten oder chronischen Markenbewusstsein folgt. Die Marke des Produkts tritt auf als Korrespondenz zur Maske der Person. Man kann auch von Produktmasken sprechen. Da werden Communities suggeriert, wo Waren an die Kunden wollen. Wichtig ist aber, dass ähnlich dem Flaggezeigen Marke bezeugt wird, d. h. dass Identitätssucher sich als Werbeträger verwenden lassen. Aus Interessenten der Ohnmacht werden Inserenten unterschiedlichster Fiktionen. Dispositionen bestehen darin, sich selbst adäquat zu setzen. Sagt heute jemand stolz: „Ich bin Proletarier“, klingt das (außer in linken Sekten), wie wenn Großvatern auferstanden wäre; sagt jemand: „Ich trage Benetton“ oder „Ich fahre nur Mercedes“, dann verkündet das, zumindest auf der Höhe des Zeitgeists zu agieren. Sofern die Marke gerade in ist. „Gute Marken sind starke Persönlichkeiten“, weiß auch das neoliberale Frontmagazin brand eins. „Sie werden älter als jedes Produkt, überstehen Managementfehler und Allmachtsfantasien. Aber wer sich darauf verlässt, hat schon verloren. „4
Der unaufhaltsame Aufstieg der Marken verdeutlicht, wie porös und lose die Zuordnungen geworden sind. Klassische Interessen stellen nur noch einen matten Abglanz besserer Zeiten dar, sind lediglich ein Angebot am Markt der Sinnstiftungen. Diese Mattheit können sie lediglich übertünchen, indem sie diese mit Leuchtfarben grell überpinseln. Fiktionen sind immer leichter durchzudrücken, als Wahrheiten auszuhalten. Marke ist eine ganz entscheidende Illusion von Zugehörigkeit. Der sukzessiven Auflösung traditioneller Maskenvereine setzt man entschlossen halluzinierte Gemeinschaften gegenüber, die sich an ihren Markierungen erkennen und somit ihre „handfesten“ Interessen durch Zeichen und Signifikate ersetzen. In der Realität ist diese Zugehörigkeit freilich noch um vieles schwächer als der antiquierteste Arbeiterverein, in der mentalen Bezauberung der Dinge ist jene aber diesem haushoch überlegen. Sie elektrifiziert die Träger oft bis zur Betäubung. Wo nichts mehr trägt, wird man zum Werbeträger. Nichts glänzt so sehr wie die Etikette.
Anmerkungen
1 Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, 3. Kapitel (1861-63), MEW, Bd. 43, S. 173.
2 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW, Bd. 3, S. 34.
3 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Gesammelte Schriften 4, Frankfurt am Main 1997, S. 149.
4 brand eins, Heft 02, Februar 2006. http://www.brandeins.de/home/inhalt_detail.asp?id=1615&MenuID=130&MagID=60&sid=su841121041232120193