Streifzüge 39/2007
von Ulrich Enderwitz
Um aber auf den Antisemitismus in seinen beiden Spielarten des deutschen und des arabischen Hasses auf die Juden und auf unsere Ausgangsfrage nach der Identität, die beide eint, oder vielmehr der Differenz, die sie trennt, zurückzukommen, so hat unsere nähere Betrachtung der arabischen Version in ihrer Entwicklung vom nationalistischen Antizionismus bis zum fundamentalistischen Islamismus die zwei wesentlichen Unterschiede zur deutschen Spielart hoffentlich deutlich werden lassen. Der eine, offenkundige Unterschied ist funktioneller Natur: Während der nationalsozialistische Antisemitismus die Juden als Einschüchterungs- und Disziplinierungsinstrument einsetzt, will heißen, sie benutzt, um die ökonomisch maßgebende, bürgerliche Klasse der Gesellschaft zu entmündigen beziehungsweise zu entmachten und zur Mitwirkung am faschistischen Programm einer gewaltsamen Rettung der kapitalistischen Volkswirtschaft zu bewegen, braucht der nationalistische Antisemitismus der arabischen Welt bis hin zu seiner islamistischen Ausprägung die Juden als ein Beschwichtigungs- und Eskamotierungsmittel, will heißen, sie dienen ihm dazu, den Schein von sozialer Eintracht beziehungsweise von intentionaler Eindeutigkeit aufrecht zu erhalten, den ein abstraktes politisches Autonomieprogramm beziehungsweise ein nicht minder abstraktes Programm fundamentalistischer Erneuerung erheischen und den die ökonomische Zerrissenheit der eigenen Gesellschaft beziehungsweise die Gespaltenheit der persönlichen Existenz in Wahrheit Lügen strafen. Während also der Antisemitismus des deutschen Nationalismus offensiven Charakter hat und mittels des gegen die Juden geschürten Hasses eine politisch-ökonomische Ausrichtung der eigenen Gesellschaft durchzusetzen bezweckt, ist der Antisemitismus des arabisch-palästinensischen Nationalismus beziehungsweise Fundamentalismus defensiver Natur und dient einzig und allein dazu, ein tröstlich irreführendes Bild von der Situation und Perspektive der eigenen Gesellschaft beziehungsweise der persönlichen Identität der Betroffenen aufrecht zu erhalten.
In dieser anderen, eher eskamotistischen als faschistischen Funktion des nationalistisch-fundamentalistischen Antisemitismus der arabischen Welt ist auch schon der zweite Unterschied einbeschlossen, der diesen Hass auf die Juden vom nationalsozialistischen Antisemitismus trennt und der struktureller Natur ist: Für den Nationalsozialismus, der ein die bürgerliche Klasse sozial einzuschüchtern, ökonomisch zu steuern und politisch zu entmachten geeignetes Disziplinierungsinstrument sucht, sind die Juden nichts weiter als ein ebenso zweckrational wie zynisch eingesetztes Mittel zum Zweck. Dank der generell europäischen und speziell deutschen Vorgeschichte ihrer Befrachtung mit der Rolle eines entlastenden Alias für politisch-ökonomische Schuldzuweisungen, eines sozialen Sündenbocks, bieten sie sich für die neue Aufgabe an, ohne die mindeste, in ihrer sozialen Struktur oder personalen Beschaffenheit gelegene, objektive Qualifikation für sie mitzubringen, ohne dass sich mit anderen Worten eine in ihren sozialen Verhältnissen oder ihrer persönlichen Existenz gelegene inhaltliche Eignung und natürliche Disposition für die Aufgabe geltend machen ließen. Sie finden sich vollständig selbstentfremdet, absolut funktionialisiert, erfahren sich als das Objekt einer sie selber ebenso wenig angehenden, wie existenziell ereilenden Manipulation.
Der Judenhass islamistischer Provenienz dagegen hat sein Realfundament, seinen nicht in Instrumentalisierung und Manipulation aufgehenden empirischen Bezugspunkt im Konflikt der arabisch-palästinensischen Gesellschaften mit dem in ihrer Mitte etablierten Staat Israel. Auch wenn dieser Konflikt durch die antisemitische Motion, das heißt, durch seine Überdeterminierung und Funktionalisierung zum Austragungsort oder besser gesagt Schauplatz der den arabisch-palästinensischen Gesellschaften von der imperialistischen Weltordnung ins Haus getragenen internen Ambivalenzen und Widersprüche, aller eigenen Dimension oder spezifischen Relation beraubt und in seiner „Zweckentfremdung“ bis zur Unkenntlichkeit entstellt beziehungsweise, schlimmer noch, bis zur Unansprechbarkeit „affektbefrachtet“ erscheint – er bleibt doch allemal jenes Stück Wirklichkeit unter aller Symptomproduktion, jenes Moment von Faktizität hinter allen Fiktionen, jenes Gran Objektivität in allen Projektionen, das beim nationalsozialistischen Antisemitismus fehlt und dessen Fehlen nicht zuletzt verantwortlich dafür ist, dass in der letzten Phase der nationalsozialistischen Herrschaft der Antisemitismus sich so mühelos und mit so vernichtenden Folgen aus einem Werkzeug zur symbolischen Bewältigung gesellschaftsinterner Konflikte und zur Herstellung einer verschworenen Volksgemeinschaft in einen Tatort zur imaginären Überwältigung der militärischen Gegner und zur halluzinatorischen Beschwörung des Endsiegs in einem tatsächlich bereits verlorenen Krieg verwandeln kann.
Dieses Stück Realfundament, dieses Moment von objektiver Begründung bei der Wahl des Hassobjekts, das den Antisemitismus der arabisch-islamischen Welt von dem des deutschen Nationalsozialismus strukturell unterscheidet, impliziert freilich, dass, auch wenn es gelänge, den Antisemitismus als solchen abzubauen und also den Konflikt der arabisch-palästinensischen Welt mit dem Staat Israel von der Überdeterminierung und Funktionalisierung durch ihn zu befreien, jener reale Konflikt, der sich um Vertriebene, Grenzziehungen, Wasserrechte, Entschädigungen und Kultstätten dreht, doch immer noch vorhanden wäre und seiner Lösung harrte. Der strukturelle Unterschied impliziert mit anderen Worten, dass die Zurücknahme der Verschiebungsleistung, die Aufhebung der Projektion interner Probleme auf den Konflikt mit dem äußeren Gegner, nicht zur Befreiung von jenem Konflikt, sondern nur zu dessen Offenlegung führte und also von einer Konfliktbewältigung stricto sensu, einer manifesten Austragung der nicht mehr mit Stellvertreteraufgaben, mit der symptomatischen Darstellung latenter Widersprüche, befrachteten realen Differenzen gefolgt sein müsste.
Dass es zu solch einer Zurücknahme der Verschiebungsleistung, solch einer Aufhebung der sich als Antisemitismus artikulierenden Projektion kommt und also die Möglichkeit eines realistischen Umgangs mit dem nahöstlichen Konflikt sich eröffnet, ist freilich denkbar unwahrscheinlich. Zu sehr leisten objektiv der imperialistische Dauerdruck, der auf den arabischen Staaten in specie und der muslimischen Welt in genere lastet, und subjektiv die Ambivalenz, mit der die Betroffenen auf diesen Dauerdruck reagieren, dem als Antisemitismus sich artikulierenden Eskapismus und regressiven Verhalten Vorschub, als dass sich von dieser Seite die Bereitschaft, den Konflikt mit dem israelischen Gemeinwesen nicht gleich als Projektionsfläche und Verschiebungsebene zu missbrauchen, sondern ihn als ein ebenso sehr aus der weltpolitischen Konfrontation herauslösbares regionales Problem wie von aller mythologischen Überfrachtung abstrahierbares historisches Faktum ins Auge zu fassen und zu lösen, erwarten und realistischerweise die Kraft dazu fordern ließe.
Eher wohl ließe sich vom israelischen Gemeinwesen erwarten, dass es im Bedürfnis, sich aus seiner prekären Lage zu befreien und zu einem dauerhaften Arrangement mit seinen Nachbarn zu kommen, die Probe aufs Exempel der Ablösbarkeit des realen Konflikts von seiner ideologischen Überdeterminierung, der Trennbarkeit zwischen den empirischen Problemen und ihrer symbolischen Funktionalisierung durch den Antisemitismus, machte und mittels ernsthafter, Gebietsverzicht und sächliche Reparationsleistungen einschließender Friedensangebote an die arabisch-palästinensische Seite diese zwänge, die Bereitschaft, den regionalen Konflikt als solchen zur Kenntnis zu nehmen und einer Lösung zuzuführen, als eine gegenüber dem Festhalten an der ideologischen Überfrachtung des Konflikts ansprechende Alternative, weil gewinnbringende Option zu gewahren. Nicht dass solch eine, den Frieden durch die Preisgabe objektiver Positionen und projektiver Ansprüche zu erkaufen bestimmte Initiative unbedingt von Erfolg gekrönt wäre! Nichts kann im Vorhinein gewährleisten, dass der durch die Verschiebung hauseigener Probleme auf den äußeren Konflikt, sprich, durch seine antisemitische Überdeterminierung und Funktionalisierung gewonnene schöne Schein von sozialer Einheit beziehungsweise personaler Reinheit den Betroffenen nicht kostbar und erhaltenswert genug erscheint, um ihnen jeden Realismus zu verschlagen und ihnen auch die verlockendsten Konfliktlösungen, weil sie ja mit dem Konflikt zugleich ihren vertrauten Verschiebungsprospekt, ihre liebgewordene Projektionsfläche zum Verschwinden brächten, als unbedingt zu verhindernden Verlust vorzustellen.
Immerhin ist aber, wie gesehen, der nationalistisch-islamistische Antisemitismus der arabisch-muslimischen Welt anders als der faschistische Antisemitismus des nationalsozialistischen Deutschland kein aggressives Strategem zur Durchsetzung politisch-ökonomischer Ziele, sondern eine regressive Ausflucht zur Erhaltung sozialer beziehungsweise persönlicher Illusionen, kein Disziplinierungsinstrument für andere, sondern eine Glücksdroge für den eigenen Gebrauch, kurz, kein willentliches Täuschungsmanöver, sondern eine unwillkürliche Selbsttäuschungsveranstaltung – und von daher könnte man durchaus hoffen, dass dieser weniger von bösem Willen als von Angst vor der Wahrheit diktierte Hass auf die Juden aus der Reserve seiner triebdynamischen Vorurteilsstruktur zu locken und durch eine in Friedensangeboten bestehende „Umarmungstaktik“ zu unterlaufen und um seine haltgebende Verankerung in der Empirie zu bringen wäre. Angesichts des Schutzes und Rückhalts, den die westlichen Industriestaaten in einer fragwürdigen Mischung aus historisch schlechtem Gewissen und strategisch imperialistischem Kalkül dem Staat Israel angedeihen lassen, könnte dieser das Experiment eines auf friedliche Koexistenz zielenden Arrangements mit seinen arabisch-palästinensischen Nachbarn sogar ohne Gefährdung seiner eigenen Existenz und Sicherheit wagen: Er könnte sich quasi passiv der durch die imperialistische Requisition billiger Rohstoffe bestimmten weltpolitischen Lage bedienen, könnte sie sich gleichermaßen als Handlungsrahmen und Druckmittel zunutze machen, um Konflikte zu lösen und Vereinbarungen zu erreichen, die von Haus aus regionaler Natur sind und mit den weltpolitischen Perspektiven und Absichten der imperialen Schutzmächte gar nicht – jedenfalls nicht aus der Sicht und nach den Plänen des israelischen Gemeinwesens – verquickt sein müssten.
Von so viel Augenmaß und List einer zur Selbsterhaltung durch Selbstbeschränkung entschlossenen Vernunft scheint indes der Staat Israel mittlerweile weit entfernt. Schon kurz nach seiner förmlichen Begründung, anlässlich der Krise um den Suezkanal, beteiligt er sich vielmehr, jenseits aller bloß passiven Nutzbarmachung weltpolitischer Konstellationen, aktiv am imperialistischen Coup Englands und Frankreichs, in der eitlen Hoffnung auf eine rasche militärische Lösung seines Konflikts mit den im fehlgeleiteten Elan ihrer militärherrschaftlichen „Emanzipation“ von imperialistischer Bevormundung und Kontrolle Aggressivität ihm gegenüber demonstrierenden arabischen Nachbarn. Zwar ist es auch in den folgenden militärischen Auseinandersetzungen berechtigte Angst um die bedrohte Existenz, was den israelischen Staat zum Handeln antreibt, aber unter dem Eindruck der durchschlagenden oder jedenfalls relativen Erfolge seiner kriegerischen Aktionen, der territorialen Gewinne und Eroberung strategischer Positionen, die ihn zu einer quasi ex negativo funktionierenden Hegemonialmacht in der Region avancieren lassen, wandelt sich allmählich seine politische Zielsetzung und darauf fußende strategische Konzeption: Nicht mehr Sicherheit und Frieden ist sein primäres Ziel, sondern die zur conditio sine qua non, wenn schon nicht des Friedens mit den Nachbarn, so jedenfalls doch seiner Sicherheit vor ihnen erklärte Aufrechterhaltung seiner Vormachtstellung und überlegenen strategischen Positionen. Diese gewandelte Zielsetzung ist nicht einfach nur die Folge normaler staatlicher Rationalität, eines Realismus, der den jeweils erreichten Status quo zur Grundlage künftigen Handelns macht und so den politischen Entscheidungsprozess in eine aus objektiven Zwängen und historischen Notwendigkeiten gewirkte Schicksalsfuge transformiert. Sie wird mehr noch verstärkt und zementiert durch ein als Randmotiv bereits mit dem Staatsgründungsgedanken verknüpftes und unter dem Druck des Dauerkonflikts und der permanenten existenziellen Bedrohung zur religiösen Besessenheit und Heilsbotschaft eskaliertes und verselbständigtes romantisches Landnahmepathos, das unter anachronistisch-fundamentalistischer Berufung auf den alttestamentarischen Gott und das von ihm den fernen Ahnen verheißene und geschenkte Land wachsende Bevölkerungsgruppen kultivieren und in die Tat einer ebenso unkontrollierten wie unsystematischen Siedlungspolitik umsetzen.
Seinerseits zunehmend geneigt, macht- und okkupationsstrategischen Kalkülen den Vorrang vor einer auf Vertrag und Kooperation setzenden Politik zu geben, verspürt der säkulare Staat Israel wenig Neigung, dem Treiben seiner religiösen Zeloten Einhalt zu gebieten, zumal das prekäre Kräfteverhältnis im Land jedes entschlossene Vorgehen gegen den religiös motivierten Expansionismus zu einer innenpolitischen Zerreißprobe werden lässt. Das Ergebnis ist, dass dem Staat Israel in seiner derzeitigen Orientierung die zum Antisemitismus überdeterminierte Feindseligkeit der arabisch-palästinensischen Nachbarn in specie und der muslimisch-islamistischen Welt in genere als Rechtfertigungsgrund oder Plausibilität heischender Vorwand für seine als aktive Partizipation am imperialistisch-terroristischen Antiterrorkampf betriebene Macht- und Okkupationspolitik ebenso zupass kommt, wie sie den arabischen Nachbarn und der muslimischen Welt als Alibi und Rationalisierung für die Verdrängung ihrer inneren Probleme und die Aufrechthaltung eines falschen Scheins von nationaler Geschlossenheit beziehungsweise intentionaler Resolution ans Herz gewachsen ist. Beide Seiten, der israelische Staat und seine arabischen Nachbarn, ziehen also den sekundären Lustgewinn beziehungsweise den ephemeren taktischen Vorteil, den die Krankheit Antisemitismus ihnen verschafft, einem Verfahren vor, das irgend verspräche, wenn schon nicht die Krankheit durch Beseitigung ihrer Ursachen zu heilen (das steht unter den gegebenen Umständen nicht in ihrer Macht), so jedenfalls doch durch Beseitigung des Nährbodens, auf dem sie sich symptomatisch entfaltet, sie als solche, als das der Verdrängung der wirklichen Konflikte entspringende Verschiebungsprodukt, das sie ist, erkennbar und greifbar werden zu lassen.
* Aus: Ulrich Enderwitz, Konsum, Terror und Gesellschaftskritik – Eine Tour d‘ Horizon, Unrast-Verlag, Münster 2005, 124 Seiten, 12 Euro (D), S. 110-117.