Aus dem Manuskript zum Dritten Band der „Antiquiertheit des Menschen“
Streifzüge 37/2006
von Günther Anders
Der hier abgedruckte Beitrag umfasst die §§15-18 eines umfänglichen Kapitels über „Sprache und Endzeit“ aus dem noch nicht erschienenen Dritten Band der „Antiquiertheit des Menschen“. (c) Gerhard Oberschlick. Wir danken für die Abdruckerlaubnis.
Arbeitskritik, d. h. : Kritik an Arbeitsprodukten, ist also tabuiert. Und damit sind wir wieder – denn wohin gehörte Tabuierung von Kritik sonst? – beim Hauptgegenstand dieser unserer Untersuchung: beim Sprachproblem. Sprache über Produkte darf in unserer kapitalistischen Welt nicht zur kritischen Sprache werden. 1 Denn in dieser gibt es zwar Wettbewerb, d. h. : die effektive Bekämpfung von Produkten des Unternehmers A durch den Unternehmer B; das effektive Zurückdrängen von A incl. dem Auslöschen der Konkurrenzprodukte und -produzenten; und es gibt umgekehrt die Werbung: die Selbstanpreisung der Produkte A und B. Aber eine in der Öffentlichkeit stattfindende gegenseitige sprachliche Produktdiskreditierung, gar -verhöhnung gibt es nicht. Kein Seifenpulver- oder Moped-Reklametext dürfte lauten: „Kauft nicht das Pulver , Allclean‘! “ oder: „Fallt nicht auf das Moped , the fastest‘ herein! Verglichen mit unserem , the best‘ taugen sie nichts! “ Das verstieße gegen die „guten Sitten“. Sprachlich bleiben die Erzeugnisse der Nebenbuhler – das gehört trotz des pausenlosen Wettbewerbkampfes auf Leben und Tod zum Freiheitsbegriff der Konkurrenzgesellschaft – auf eigentümliche Weise tabu. 2
Die Tabuisierung von Produkten (und damit automatisch der Arbeitsplätze, auf denen diese erzeugt werden) herrscht nicht allein im Wettbewerb der Unternehmer, sondern generell. Auch keiner von uns: kein Kunde, kein Journalist, dürfte es sich herausnehmen, die genannten Seifenpulver x als „notorisch wirkungslos“ oder die Mopeds y als „bekanntlich obsolet“ zu verketzern. Denn die Produkte sind eben virtuelle Waren – und auf Grund ihres Wareseins gelten sie als „über alle Kritik erhaben“. Bzw. Kritik gilt als überflüssig, da Lob durch den guten Absatz, eventueller Tadel durch den Nichtabsatz ersetzt wird. Die sind die Kritiken. Was sich nicht verkauft, das erfordert eben keine weitere Kritik. Gäbe es öffentliche sprachliche Beurteilungen (deren Fehlen natürlich ein Fehlen an Freiheit ist), so würden diese in den Augen der Unternehmer die ihnen verbürgte Freiheit verletzen: eben die Freiheit, ihre Waren auf dem freien Markt anzubieten. „Positive“ Kritiken gibt es natürlich. Aber die werden nicht, wie Buch- oder Kulturkritiken, von Geschäftsfreunden geschrieben, sondern eben von den Unternehmen selbst – Kurz: diese bestehen in Werbung.
Welt der Köder
In der Tat gibt es auch keine Organe oder Medien, in denen Produktkritik vom Publikum täglich erwartet und gelesen würde (so wie Buch- oder Konzertkritiken). Und zwar deshalb nicht, weil „frei“ (nämlich frei für Kritisiertwerden) nur wirtschaftlich letztlich Unwichtiges ist. Verhöhnen darf man ausschließlich diejenigen Produkte, in denen keine oder nur geringe Macht investiert ist; oder Institutionen, von deren „weltanschaulichen Linie“ politisch oder wirtschaftlich wenig abhängt. Also vor allem die Kunstwerke, deren sogenannte „Freiheit“ in der Tat darin besteht, dass sie der Kritik „freistehen“. Kritisierbar ist „Der Zauberberg“ oder sind die „Gurrelieder“; nicht dagegen die neuesten Tanktypen von Krupp oder die neuesten Tabletten gegen Schlaflosigkeit aus den „Hoechster“ Farbwerken.
In der Tatsache, dass Wichtiges, i. e. : Mächtiges, unserer Kritik nicht „freisteht“, also in seiner „Autonomie“, besteht seine sogenannte „Freiheit“ – das wissen wir ja z. B. durch die Unkritisierbarkeit der Kirchen. Die ja so weit geht, dass selbst Bücher (also Produkte, die gewöhnlich kritisiert werden dürfen), wenn diese durch die Stellung des Autors oder durch die Stellungnahme zu den Dogmen, wie indirekt auch immer, mit einer Macht in Beziehung stehen, ihre Kritisierbarkeit einbüßen. Des gegenwärtigen Papstes, für Professionelle schwer lesbare, spirituelle Philosophie „Der Primat des Geistes“ und seine erstaunlichen Einakter, sind nirgendwo: weder in Wochenblättern noch in Zeitschriften je wirklich kritisiert worden. Sie sind eben als Machtmanifestationen „beyond criticism“ geblieben – was mithin nicht bedeutet, sie seien zu gut, um kritisiert werden zu können, sondern zu mächtig, um kritisiert werden zu dürfen. – Was vom Vatikan gilt, das gilt von allen Machtinstitutionen. Wenn es eine, der täglichen Kulturkritik entsprechende „Freiheit der Produktkritik“ gäbe, dann würden die Unternehmer diese indigniert als „Einmischung“, als „undemokratische Freiheitsberaubung“, als „Eingriff in die Freiheit ihres Produzierens“ abwehren.
Andererseits freilich – und damit kommen wir auch wieder zurück zu dem Ausgangsproblem dieses unseres Textes: wie wir heute als Sprechende zu unseren Produkten stehen und wie wir deren Effekte bewältigen – andererseits stellt es sich nämlich heraus, dass Kritik doch eine zentrale Rolle spielt. „Kritik“, sofern man die Beurteilung der Produkte in Form von „Eigenlob“, genannt „Werbung“, mit diesem Ehrenwort belegen darf. Während es den Produzenten gelingt, jedes Getadeltwerden abzuwehren, genießen sie die schrankenlose Freiheit, sich selbst zu loben. Dieses Sich-selbst-Loben ist selbst zu einem Produktionszweig geworden, eben zu dem der „Werbung“, die die Reizkraft und das Prestige der von ihnen zu propagierenden Produkte als „Produkte zweiter Ordnung“ herstellt. 3
In der Tat ist die Werbung das symmetrische Gegenstück zur Kritik: Während es für Kunden oder Konkurrenten nicht in Betracht kommt, die von den Unternehmern angebotenen Erzeugnisse öffentlich zu beurteilen, auch keine Presse dafür zur Verfügung stünde – das gälte als „üble Nachrede“, mithin als strafbar – während also die Kritikchancen = 0 bleiben, sind die Selbstlobchancen = 8. Wirklich steht es jedem Unternehmer frei, eigentlich gilt jeder sogar als dazu verpflichtet (das gehört zum Geschäft), seine eigenen Erzeugnisse himmelhoch zu preisen, deren Erwerb und Besitz der Mitwelt als ihr unentbehrlich aufzuschwatzen, deren Nichtbesitz als gesundheits- oder prestigeschädigend oder lächerlich oder gar schändlich zu verhöhnen – und das um so mehr, als das durch Werbung hergestellte Prestige eines Produkts von heute auf morgen als eine dem Produkt gewissermaßen „angeborene Qualität“ gilt. Produkte werden nicht gepriesen, weil sie gut sind; sie sind dadurch „gut“, dass sie gepriesen werden. Wer die unbeschränkte Preisungsfreiheit nicht ausnützte, der würde sich dem Verdacht der Geschäftsuntüchtigkeit aussetzen. Jedenfalls gibt es im Zeitalter der Werbung kein Sprichwort, das sinnloser wäre als das „Eigenlob stinkt“. Nein, das tut es nicht im geringsten. Auch von ihm gilt: „non olet“. Und mehr als das: Denn Freiheit verwirklicht sich heute ja primär als Freiheit des Eigenlobs: eben der Reklame. Und es gibt wohl kaum ein Mittel, das nicht – denn Werbung ist nicht nur legitim, sie legitimiert geradezu – als Köder ausgeworfen werden dürfte.
Am sachverständigsten tun das jene Unternehmungen, deren Arbeit nicht in der Erzeugung eigener Produkte im Alltagssinne besteht, die sich vielmehr auf das Erzeugen von Ködern spezialisieren; von Ködern, deren Herstellung andere Unternehmer bei ihnen bestellen. Selbstpreisungen werden seit langem nicht mehr von den Gepriesenen selbst, also in Heimarbeit, erfunden oder hergestellt; vielmehr bezieht man das „Eigenlob“ von den auf dessen Herstellung, also auf Ködererzeugung, spezialisierten Werbefirmen. Natürlich kann jeder Köderbesteller sich darauf verlassen, dass diese Firmen durch keine Wahrheit bestechbar (also unbestechlich) die Glorifizierung jeder Firma bzw. jedes Produkts gleich gern übernehmen und gleich gut durchführen. Und selbst in Fällen, in denen Werbebild oder -text nicht hundertprozentig gelingen – die bloße Tatsache, dass man sich eine renommierte Werbefirma hat leisten können, färbt auf das Renommé des gepriesenen Produkts ab; gilt also auch schon als positive Werbung und als Qualitätsbeweis für das gepriesene Produkt.
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Wie auch immer, diese Köder (Bilder, Reiztexte etc. ) sind offensichtlich ebenfalls Produkte; Produkte zweiten Grades, die von den Bestellern gut honoriert werden und nun von diesen dazu eingesetzt werden, um uns, das Publikum, in ein pausenlos gereiztes Interessentenheer zu verwandeln und um uns das Wasser im Munde so zusammenlaufen zu lassen, dass wir – denn darauf hatten die Aktivitäten von A bis Z ja abgezielt – dem Erwerb der Produkte nicht mehr Widerstand leisten können. Die Reizbilder sind in der Tat oft so glanzvoll, dass sie, namentlich die striptease-Varianten, oft, z. B. von Matrosen, „zweckentfremdet“ an die Wand geheftet werden. –
Welche Mittel die Köderproduzenten einsetzen, welche Assoziationen sie mobilisieren, ist verhältnismäßig gleich. Wie gesagt, durch Appell an Wahrheit kann oder darf die Werbeindustrie nicht bestochen werden, um so weniger, als die Köderbesteller ja gar nicht erwarten oder wünschen, dass die Werber die Wahrheit sagen. Diese sehen in der Tat keinen Anlass dazu und dürfen oder müssen auch nicht dazu verpflichtet werden, ihre Köder so zu gestalten, dass diese mit der Bewandtnis der offerierten Waren direkt etwas zu tun haben. Oft wäre das sogar unklug, nämlich geschäftsschädigend, weil viele der angebotenen Waren von sich aus gar keinen Lockreiz ausstrahlen. Hauptsache ist, dass die Texte oder Bilder, gleich wodurch, verlockend sind, und dass diese Lockungen dann von den Umworbenen als Lockungen der Produkte selbst missverstanden werden. So erinnere ich mich an ein Autoreifen-Reklamebild in Paris4, auf dem sich die Reifen, um unsere Blicke zu fesseln und uns zum Reifenkauf zu ermuntern, im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrer prallen Festigkeit „brüsteten“, also die schönsten Brüste, denen kein Auge widerstehen konnte, den Auftrag hatten und ausführten, die Unwiderstehlichkeit bzw. Unabnützbarkeit der Reifen zu symbolisieren, nein: zu beweisen. Diese Verwandlung des Symbols in einen Beweis definiert den spezifischen Schwindel der Werbung.
Jedes Produkt ist als solches gut
Produktkritik im buchstäblichen Sinne gibt es, wie gesagt, nicht. Wohl dagegen indirekte Kritik. Nämlich in der Form des Wettbewerbs.
Denn jeder Wettbewerb stellt eine (zwar getarnte, aber um so schärfere und um so pausenlosere) Kritik dar. Da jeder Produzent die ähnlichen Erzeugnisse der Konkurrenten zu übertreffen bestrebt ist, wünscht er durch die Qualität der eigenen Produkte (bzw. durch die Werbebilder für diese) die geringere, nein: letztlich die geringe, Qualität der Produkte der Nebenbuhler zu beweisen. Diese Kritik eine „nur indirekte“ zu nennen, wäre eine irreführende Verharmlosung, da Konkurrenz gerade die schärfste Kritik: nämlich „Kritik in actu“ darstellt; da „Wettbewerb“ eben „Wettkampf“ ist. –
Gleichviel, Kritik im Alltagssinne des Wortes findet nicht statt: Man tut „als ob“; so als ob man an den „Nebenprodukten“ (analog zu „Nebenmenschen“) nichts auszusetzen hätte, als wenn man diesen alle Rechte einräumte, die man selbst beansprucht und genießt, sie also ausnahmslos als ausgezeichnete Erzeugnisse anerkennte. –
Wenn aber jedes Erzeugnis als solches und als prospektive Ware ein Recht darauf hat, vorzugeben, etwas „Gutes“ zu sein und als etwas Gutes aufzutreten; und dieses Recht darauf auch allen „Nebenprodukten“ einräumt, dann scheint es auch folgerichtig, mindestens fair, dass kein Produzent es nötig hat, sich bei der Exhibition und Verherrlichung seines eigenen Produktes irgendwelche Hemmung aufzuerlegen. In der Tat würden die Werbenden und die die Werbung Herstellenden (wenn nicht sogar wir, die wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, pausenlos das Recht auf Verführtwerden beanspruchen) empört protestieren, wenn eine Autorität vorschlüge oder gar verordnete, die Lockmittel in Grenzen zu halten oder gewisse Modi des Lobpreisens, also der Reklame, zu unterbinden. Diese Vorschläge würden von manchen als „Freiheitsbeschneidungen“ denunziert werden; und von denjenigen, die es aus Eitelkeitsgründen für praktisch halten, als „gebildet“ zu gelten, sogar als „totalitär“, und das vielleich sogar ehrlich und mit bestem „Gewissen“, da auch dieses im rechten Moment stets mitgeliefert wird. 5
Gleichviel, da in der Welt der Werbung das Lügen selbstverständlich freisteht, gilt in ihr das Gebot „du sollst nicht lügen“ als „Freiheitsbeschneidung“ – eine Tatsache, die selbst natürlich aufs Lügenhafteste verschwiegen wird.
In der Tat ist es dieses Postulat der „Freiheit der Werbung“, dem sogar in den Vereinigten Staaten, vor allem dort, eine geschichtlich eindrucksvolle Leistung gelungen ist: nämlich die Durchbrechung des Puritanismus. Denn nicht etwa „progressiven“ kulturpolitischen Bewegungen oder der Psychoanalyse war diese Niederlage der Zimperlichkeit zuzuschreiben, sondern vor allem der Tatsache, dass es unmöglich wurde, unerlaubt gewesen wäre, im Wettbewerbskampf der Produkte bzw. der Produzenten auf das hinreißendste und reißerischste Lock- und Reizmittel für alles und für Alle als Werbemittel zu verzichten. („Mädchen für alles“ hat Döblin zu Beginn der Vierziger Jahre in Hollywood die Werbung mit Hilfe von Nacktbildern genannt. ) Eine geschäftlich unverzeihliche, also unmoralische, Unterlassung wäre dieser Verzicht gewesen.
Damit ist freilich nicht gesagt, dass sich die Tabubrüche sofort überall, also auch außerhalb der Warenwelt, hätten durchsetzen können oder dürfen. Erlaubt, und deshalb moralisch akzeptabel (darum bald geschäftlich erforderlich) waren Tabubrüche erst einmal ausschließlich dort, wo sie erwiesenermaßen Profit brachten, also den Absatz steigerten. Lange Zeit hat es ein deutliches Gefälle gegeben zwischen dem in der Werbung bereits Erlaubten (daher Empfehlenswerten) und dem in der Wirklichkeit noch Tabuierten. Die Maxime „alles ist erlaubt“, in heutiger Vulgärsprache „everything goes“, war in der Werbung längst schon akzeptiert (und etwas später daraufhin sogar obligatorisch), als im nicht direkt kommerziellen Alltagsleben, sogar auch noch in den angeblich doch „lockeren Künsten“, die Tabus noch mehr oder minder durchhielten. Solange Nacktheit unfähig blieb, ihr Lebensrecht durch augenscheinlichen Profit zu rechtfertigen und ehrlich zu machen, solange galt sie, und gilt sie zuweilen auch heute noch, als unanständig. 6
Nun, dieser zweideutige Zustand war natürlich nicht durchhaltbar: Auf die Dauer kann eine Situation, in der, was Bildern recht ist – und bald war ja die ganze Welt von Werbebildern zugedeckt, Bilder, die für nichts werben, werden ja sogar schon zu Undingen -, dem Abgebildeten (also den wirklichen girls) nicht ebenfalls billig ist, nicht bestehen bleiben. Aber so rasch ging die Infektion der Abgebildeten durch ihre Abbildungen nicht vor sich.
Auch die millionenfach gezeigten, bzw. sich zeigenden Filmstars blieben ja Bilder – wer kannte die schon „in the flesh“? Wozu kam, dass die „Originale“ niemals so schön oder gar so „original“ waren wie ihre Bilder. Begegnete man zufällig Originalstars, so war das stets eine lächerliche Enttäuschung: Verglichen mit dem glamour ihrer Bilder wirkten sie stets fade, nein: wie aus wertlosem Stoff hergestellte Nachahmungen der „bildschönen“ Bilder. Und sprachlich waren sie, da sie ja noch nicht einmal einen ihnen eingetrichterten Trivialtext aufsagten, sondern „selbstständig“ trivial sein mussten, noch trivialer als in den „pictures“, von denen wir alle sie kannten und durch die sie uns als angebliche „personalities“ geläufig waren.
Aber für viele waren diese godlike girls entscheidend. Dass es neben den Bildern der in majorem gloriam von Autoreifen, canned peas oder für die Profite der Movie Companies enthüllten, oder besser noch: sich enthüllenden girl-Bildern auch noch sogenannte „wirkliche Frauen“7 gab; oder wirkliche, zur Lust aufreizende Mädchen – nun, völlig unterschlagen wurde diese Tatsache natürlich nicht; aber sie wurde doch – meine California-Notizen stammen aus dem Jahre 1941 – namentlich in den durch die Werbe- und Filmindustrie beruflich voyeuristisch gewordenen oder sich machenden Kreisen zum Faktum zweiter Wichtigkeit. Auch in den Augen der girls selbst war, „on the screen“ zu sein, ungleich wichtiger als „in bed“ zu sein, da sie „on the screen“ das Glück hatten, für Millionen gleichzeitig da sein zu können (diese Wollust des être vue ist gewissermaßen das passive Gegenstück zur Wollust des Voyeurismus) – für Millionen gleichzeitig – was „in bed“ mühselig wäre. Welche der zwei Möglichkeiten: als wirkliche in ein paar Betten oder als Bild in Millionen Augen zu sein, für die girls mehr zählt, das ergibt sich ja aus der Beantwortung der Frage, „was sie für was tun“. –
Dass auch für viele Männer, wie unglaubwürdig das auch klingen mag, die Bilder der Schönen wichtiger werden oder geworden sind als die Wirklichkeit jener Allerweltsgirls, die keine Chance haben, in den, aus Hollywoodperspektive allein als „gültig“ anerkannten Himmel der „fiction“ aufzurücken, das ist nicht unverständlich. Denn natürlich bleiben die Meisten der (im Vulgärsinn) „wirklichen“ girls (da sie ja das Pech hatten, statt in Millionenauflage künstlich „gemacht“, aufs Antiquarischste als Unikate „nur geboren“ worden zu sein), wie sehr sie sich auch anstrengen mögen, nachträglich „sicut pictures“ (bzw. eines von diesen) zu werden – natürlich bleiben diese weit hinter den, ausschließlich zwecks Reizung hergestellten Bildern zurück; wenn sie auch – aber wie wenige haben dabei Glück! – das Reservoir für diese Reizbilder darstellen. Total verändert sind durch die Rolle, die die girls als Werbungsbilder spielen, nicht allein diese gezeigten Mädchen selbst, sondern auch alle anderen, da diese die Gezeigten als Vorbilder betrachten8, um selbst „Bilder“ werden zu dürfen. Und verändert ist auch die Rolle der Männer, da, wie gesagt, für Viele von diesen die Bilder wichtiger werden als die wirklichen Frauen, die gewissermaßen als „Proletariat“ unansehnlich und unangesehen ihr Leben zu absolvieren verurteilt sind. Was herrscht, ist ein Syndrom, das aus Werbung besteht, aus Gier darauf, Werbebilder zu werden, und aus Voyeurismus.
Komparativ als Lebensprinzip
Warum, so könnte der Leser fragen, dieser ausgedehnte Exkurs über „Werbung“ und die, Wirklichkeit und Bild verkehrende, Welt von Hollywood? Ursprünglicher Anlass für diesen unseren Text war ja schließlich unsere Verlegenheit gewesen, der Enormität, die die atomare Bedrohung mit sich gebracht hat, sprachlich Herr zu werden; die Frage, mit Hilfe welchen Idioms wir uns vielleicht doch in Stand setzen könnten, dieses Enorme, das uns sonst „entgehen“ könnte, auch nur wirklich zu meinen. Denn das geschieht eben, wenn wir von der „atomaren Drohung“ sprechen, gewöhnlich nicht.
Die Antwort auf die Frage: Unsere Unfähigkeit, das Maßlose sprachlich angemessen auszudrücken, dieses angemessen auch nur zu meinen (und deshalb auch angemessen zu bekämpfen) ist dadurch mit-verursacht, dass wir gewöhnt sind, in der durch die verlogene Werbesprache artikulierten Welt zu leben; in einer Welt, in der die gegen Wahrheit völlig indifferente Werbesprache die selbstverständliche Sprache ist, also als die Sprache allein herrscht.
Das Wesensmerkmal dieser unserer Sprache besteht nun aber überraschenderweise darin, dass man in ihr (obwohl unsere Münder von Superlativen überschäumen) Superlative weder versteht noch äußert, sondern sich ausschließlich auf Komparative beschränkt. Superlative wären der Zusammenbruch aller Voraussetzungen. Sie darf es deshalb nicht geben, weil jedes endgültig „Beste“ die Möglichkeit des „Bessermachens“, des Überholens, also sowohl des „Fortschritts“ als auch der Konkurrenz, auslöschen würde. Im Interesse von Fortschritt und Konkurrenz darf „Bestes“ mithin nicht existieren, auch in Zukunft niemals. Das gilt ganz generell: Sowenig es ein bestes Seifenpulver geben darf, sondern die Möglichkeit immer noch besserer erhalten bleiben muss (die Garantie der Steigerung hat die Konstante zu bleiben), so wenig darf es (obwohl sie seit 45 Jahren existiert) eine furchtbarste Waffe geben. Auch die Massenermordung muss natürlich – das wäre ja noch schöner, wenn wir da Ausnahmen konzedierten – perfektionierbar bleiben. Wer getötet werden kann, muss natürlich auch noch töter gemacht werden können, sonst blieben wir ja stehen, vielleicht so hinter der Vergangenheit zurück, sonst träten wir ja auf der Stelle. Die Ewigkeit der Veränderung (=Verbesserung) darf durch kein erreichtes oder auch nur erreichbares Absolutum abgebrochen werden. Und aus diesem Grunde darf man auch dasjenige nicht verstehen, was vor 45 Jahren – ich meine das seit damals nie vergangene und überall immanente Hiroshima – bereits geschehen war, sich mindestens angekündigt hatte: eben das im Prinzip Unsteigerbare. Da innerhalb unseres Systems die Tatsache, dass wir das Unsteigerbare erreicht haben (sofern man von einem Verhängnis sagen darf, dass man es „erreiche“), nicht zugestanden werden darf, ist und bleibt unser Sprechen – und damit sind wir wieder bei dem Ausgangsthema dieses unseres Aufsatzes angelangt – dem Enormen, das vor uns steht, und das wir alle mehr oder minder direkt mit möglich machen, mindestens mit zulassen, nicht gewachsen.
Anmerkungen
1 In der kommunistischen ist diese Kritik durch die Tatsache des Staatsmonopolismus ohnehin ausgeschlossen. Mindestens bis heute. [1989]
2 Die Wirksamkeit der mutigen „Konsumentenschutzorganisationen“, die mit ihren Empfehlungen und Warnungen dieses Tabu zu durchbrechen versuchen, bleibt, verglichen mit der Macht der Werbung, nahezu irreal.
3 Wir sollten also drei Arten von Produkten unterscheiden: 1. die Erzeugnisse im Alltagssinn. 2. die Arbeitsplätze, die nicht nur als Voraussetzungen der Erzeugnisse (I) dienen, sondern selbst ausdrücklich hergestellt werden und als Produkte (II) gewertet zu werden und zu gelten verlangen. 3. das herzustellende, und natürlich auch als Ware zu honorierende Prestige der Produkte I und II (III).
4 Siehe d. Verf. „Die sirenische Welt“, in: „Die Antiquiertheit des Menschen“ Bd. II, S. 310ff.
5 Der molussische Theologe Rado musste für seinen kühnen Ausspruch „gutes Gewissen ist als Ausrede inakzeptabel“ drei Monate in Einzelhaft verbringen.
6 Die sogenannte „Nacktkultur“ widerspricht dem nicht. Denn sie ist eine verlogene Variante des Puritanismus, ein komischer Versuch der Desexualisierung des Nackten durch dessen en gros Ausstellung. Wirklich nackt ist aus plausiblem Grund immer nur die Einzelne.
7 Nein, die gab es nicht. Das Wort „women“ war in Hollywood durchweg durch das Wort „girls“ ersetzt, deshalb, weil „girls“ dem Ideal der „fresh commodity“ entsprach; bzw. weil niemand auf „second hand“-Objekte scharf ist.
8 Über die Wirklichkeit als „Abbildung der Bilder“ siehe bereits „Die Antiquiertheit des Menschen“, Bd. I, S. 188ff.