Streifzüge 37/2006
Von Ulrich Enderwitz
Mit der Aufgabe betraut, einer durch das Warenangebot des kapitalistischen Markts bis zur Lähmung quantitativ überwältigten und bis zur Zerrüttung qualitativ überforderten Bedürfnisstruktur seelischen Beistand zu leisten und therapeutische Pflege zuteil werden zu lassen, findet sich das reklamesprachliche Tun der Warenbesitzer in das abgrundtiefe Dilemma verstrickt, gerade durch die Erfüllung seiner Aufgabe die Misere der Bedürfnisstruktur immer nur vergrößern, gerade also dadurch, dass es erfolgreich ist, das Problem immer nur verschärfen zu können; denn je mehr und öfter den Warenbesitzern mittels Reklamemachen gelingt, die Bedürfnisse noch einmal zu sanieren, sie noch einmal zum Leben zu erwecken beziehungsweise zum Durchhalten zu überreden, umso entschiedener ergreifen hiernach von den reanimierten Bedürfnissen die alte Lähmung und Zerrüttung wieder Besitz, umso tiefer und nachhaltiger bemächtigen sich ihrer hiernach die alte Leblosigkeit und Schwäche. Das heißt, das reklamatorische Tun der Warenbesitzer ist in der Situation einer therapeutischen Praxis, die partielle Linderung nur um den Preis einer generellen Erschwerung des Leidens, zeitweilige Besserung nur auf Kosten einer fortschreitenden Verschlimmerung der Krankheit zu erwirken vermag. Entsprechend dem Austauschcharakter des Geschehens auf dem Markt zieht erfolgreiche Reklame ja immer zweierlei nach sich: nicht nur die von den Warenbesitzern angestrebte und zum ausschließlichen Zweck der Unternehmung erklärte Realisierung des in den Waren steckenden Werts durch die als bedürftige Subjekte reklamierten Konsumenten, sondern zugleich auch die von den Konsumenten selbst intendierte und nicht minder ausschließlich als der Sinn der Veranstaltung angesehene Befriedigung ihrer reklamierten Bedürfnisse durch eine in der Warenform enthaltene Gebrauchsgegenständlichkeit. Ziel der Reklame ist unweigerlich ein Austauschakt, bei dem als Gegenleistung dafür, dass die Konsumenten den Warenbesitzern die offerierten Werterscheinungen durch Wertkörper ersetzen, in Geld konvertieren, diese den Konsumenten die ihres Wertes ledigen, aus ihrer Wertform ausgelösten und auf ihre Naturalleiblichkeit, auf ihren Charakter nützlicher Dinge, reduzierten Erscheinungen selbst zum privaten Gebrauch als Befriedigungsmittel überlassen müssen. Eben mit dieser im Rahmen des Austauschmodus erforderten Gegenleistung aber büßen die Warenbesitzer jenen Vorteil wieder ein, den sie doch gerade erst kraft Reklamemachens errungen haben: den Vorteil eines abermals sich regenden Bedürfnisses, eines wiedererweckten Interesses. Genötigt, dort Befriedigung zu gewähren, wo Übersättigung das zentrale Problem ist, dort Gebrauchsgegenstände zur Verfügung zu stellen, wo nichts dringender gebraucht wird als die Befreiung von ihnen, leisten am Ende die Warenbesitzer mit ihrem reklamatorischen Tun genau jener Misere des Bedürfnisses und Krise des Interesses Vorschub, der entgegenzuwirken und abzuhelfen das reklamatorische Tun ihnen doch eigentlich dienen soll. Am Ende bezahlen sie jede reklamesprachlich erwirkte Reanimierung des Bedürfnisses und Reaktivierung des Interesses mit seiner verstärkten Betäubung und Paralyse, seiner verschärften Neurasthenie und Zerrüttung.
Aus: Ulrich Enderwitz, Totale Reklame, RM Verlag DIA, Berlin 1986, S. 144-146. Vom Autor sind beim Unrast Verlag 2005 zwei empfehlenswerte Bände erschienen, und zwar: „Konsum, Terror und Gesellschaftskritik. Eine Tour d’horizon“ und „Was ist Ideologie? Zur Ökonomie bürgerlichen Denkens“.