Es soll getrennt sein, was nicht in eins geht
Streifzüge 37/2006
von Martin Scheuringer
Lacroix: Und Collot schrie wie besessen, man müsse die Masken abreißen.
Danton: Da werden die Gesichter mitgehen. (Georg Büchner, Dantons Tod)
Zum Start ein wenig Terminologie: Ästhetik ist die Lehre von der Wahrnehmung. Aistehsis der dazugehörige Akt. Ich lege gleich meine These nach: In der warenproduzierenden Gesellschaft trainiert sich der Mensch eine dualistische Aisthesis an.
Jeder Gegenstand, jede Praxis und alle inneren Empfindungen werden als sinnliche Qualitäten erkannt. Mit meinem Körper nehme ich Inhalte in mein Bewusstsein auf, die als angenehm, verstörend, widerwärtig, geil, süß, stinkend, schön, warm oder anders eingestuft werden. Diese Qualitäten kann ich nicht auf einen Begriff bringen, ohne von ihrem sinnlichen Reichtum zu abstrahieren, wobei aber im Begriff immer etwas Konkretes erhalten bleibt. Die Abstraktion generiert Stoff für Kommunikation. Wer redet nicht gern über Essen, Kunst, Musik und andere sinnliche Erlebnisse?
Diese Verbindung mit der Mannigfaltigkeit ist Charakteristikum der „natürlichen“ Aisthesis und Kommunikation. Konzertbesucher beschreiben in concreto, welche Aspekte hervorragend waren, welche Passagen bei ihnen Gänsehaut auslösten, zu welchen Momenten sie in Gedanken abgedriftet sind usw. Im Nachhinein können sie ihre Empfindungen austauschen und sich für neue Arten von Genuss sensibilisieren. Solche Gespräche bringen uns im Fühlen weiter und öffnen neue Möglichkeiten, die sinnliche Welt auf uns wirken zu lassen. „Es gibt nur Epikureer, und zwar grobe und feine.“ (Danton)
Selbst wenn wir glauben, dies sei der normale Fluss der Dinge, so bewerten wir Erlebnisse und Dinge nicht immer, wie eben beschrieben. Unsere Aisthesis wird dadurch, dass wir in einer Verwertungsgesellschaft leben, um eine zweite Dimension erweitert. Die individuellen und je nach Situation variierenden qualitativen Bestimmungen werden auf dem Markt durch eine quantifizierte, überpersonell gültige Bewertung ersetzt. Es passiert hier etwas Unmögliches, doch es passiert: Alle sinnlichen Qualitäten, die noch dazu in den einzelnen Individuen verschiedene Empfindungen auslösen, sollen als Punkte in einem Universum reiner Zahlen dargestellt werden.
Es wird dies Abstraktion genannt, wobei genau betrachtet Substitution des Sinnlichen treffender wäre. Denn wenn ich von etwas abstrahiere, bleibt von diesem im Abstrakten noch etwas erhalten. Der Begriff Schokolade wird von Vorstellungen begleitet, er ist nicht rein. In den Wert jedoch geht laut Marx kein Gramm Naturstoff ein.
Und trotzdem: Im Geschäft bin ich ständig gefordert, zwischen dem reinen Zahlenuniversum und der sinnlichen Empfindungswelt eine Synthese herzustellen. Wie viel ist mir mein Bedürfnis wert? Ist das Konzert mit Arcadi Volodos 34 Euro wert? Das Absurde dieser Frage ist, dass sie prinzipiell nicht beantwortet werden kann, die Frage selbst ist als sinnlos zu diffamieren.
Das Tragische dieser Frage liegt in ihrer alltäglichen Aufdringlichkeit: Nur in meiner Rolle als Käufer komme ich zu den Dingen, wobei mir nur eine begrenzte Menge Geld zur Verfügung steht. Ständig muss ich meine Bedürfnisse mit meinem Einkommen in Relation bringen, um ein Auskommen zu finden. Die qualitative Bewertung wird durch die Berechnung ersetzt.
Diese Dualität, der Doppelcharakter der Ware, setzt sich in das mit ihm handelnde Individuum fort. Ich werde zu einem „Dividuum“ (Günther Anders) mit dualistischer Aisthesis. Dieses Auseinanderfallen der Wahrnehmung ist es, das meines Erachtens unser eigenartiges Dasein im warenproduzierenden System bestimmt.
Marx bezeichnet jenen Teil in uns, der die Dinge berechnet und vergleicht als Charaktermaske. Für uns dieses Berechnen so entscheidend, dass etwa Produkte nicht wegen ihres Nutzens, sondern wegen des Rabatts gekauft werden.
Ein neues gnôthi seautón (Erkenne dich selbst! ) ein neuer reditus in se ipsum (Rückkehr in das Selbst) ist vonnöten, um die in uns durch die Sozialisation erlernten Verhaltensmuster als Aktivitätsformen der Verwertung zu begreifen. Nur dieses theoretische Bestimmen von Praxen als Ausdruck der Wertbildung ermöglicht eine Distanzierung und damit Emanzipation. Wenn wir erkennen, dass wir uns nicht an den qualitativen Maßstäben der Dinge und Menschen, mit denen wir in der jeweiligen Situation zusammen sind, orientieren, sondern an den quantitativen Wertsetzungen der Realabstraktion, dann handeln wir nach den Maximen der Warengesellschaft. Sie ist es, die jedes individuelle Empfinden durch ein allgemeines Maß nivelliert, indem sie vorschreibt, welche Wertschätzung wir allen bestimmten Gegenständen und Dienstleistungen entgegenbringen sollen.
Diese objektiv gültigen Wertsetzungen sind oft schwer nachvollziehbar und komplizieren unsere alltägliche Praxis über das berauschende Faktum, alles doppelt zu sehen, hinaus oft ins Tragikomische.
Abrechnung in der WG
In einer Wohnung sollen die Ausgaben gerecht unter den Menschen aufgeteilt sein. Je regelmäßiger man abrechnet, desto weniger Streit wird es in der Gemeinschaft geben. Jeder zahlt das Seine. So einfach die Theorie der Tauschgerechtigkeit, so beschwerlich und schwierig deren Praktizierung.
Nach jedem Einkauf muss ich die Rechnung behalten, am Ende der Woche dann alles addieren und mit den summierten Beträgen meiner Mitbewohner vergleichen. Schon die Aufforderung zur Abrechnung ist ein Stimmungskiller. Wer will schon damit anfangen? Die Reaktion ist oft ein derart unwilliges Stöhnen und Nörgeln, dass einem die ohnehin schon schwer aufzubringende Lust an der Kalkulation gleich wieder vergeht. Immerhin reißt man alle Mitbewohner aus deren Tätigkeiten heraus und belästigt sie mit etwas, das doch eigentlich längst erledigt scheint. Das Essen ist im Kühlschrank und das Licht leuchtet, wenn ich ihn öffne. Beteuerungen, dass das halt sein müsse, das Geld eben abgeschafft gehörte usw. , helfen in diesem Moment nicht im Geringsten. Der Zwang darf nicht einfach ignoriert werden, will man nicht nach einem Monat Zusammenleben in einer Situation enden, in der jeder der fixen Überzeugung ist, vom anderen ausgenutzt zu werden.
Nachdem zwanzig Minuten lang jeder seine Rechnungen addiert hat, kommt es zum Vergleich der Summen: Alle glauben, diese Woche wieder viel ausgegeben zu haben und gehen mit der seligen Vermutung in die Offenbarung, nicht Schuldner, sondern Gläubiger zu sein. Geld bekommen ist erfreulicher als geben. Ist man Gläubiger, entspannt man sich in der gewonnenen Machtposition, lässt die anderen ein wenig winseln und fordert dann höflich, aber bestimmt sein Geld ein. Man freut sich über den Gewinn, der in Wirklichkeit doch keiner ist – man hat das Geld ja vorgestreckt. Kommt einem dieser Gedanke, ist man über seine Kleinkariertheit verärgert und schämt sich.
Mit dieser Scham wird allerdings die Charaktermaske kurzzeitig aufgebrochen. Die befreiende Gewissheit, dass Geld ja nicht das Wichtigste im Zusammenleben ist, muntert das sonst so kalt berechnende Subjekt ein wenig auf. Doch am alltäglichen Kalkulationsverhalten ändert sich dadurch noch nichts. Die schöne Einsicht, die unsere Aisthesis vom Tauschwert ab- und zu den konkreten Genüssen hinlenkt, darf nicht allzu lange anhalten, da die abstrakte Wirklichkeit der Verwertung, mit den konkreten Bewertungsmaßstäben betrachtet, nur sinnlos erscheinen kann. Verdrängung dieser Wirklichkeit des Sinnlichen ist die einzige Wahl, die die Charaktermaske hat, um an der Realität der Verwertung nicht zu verzweifeln.
Wir kehren zur Abrechnung zurück: Für den Schuldner ist das Ergebnis ein harter Schlag: Sofort beginnt das Rechenzentrum die letzten Tage noch einmal zu durchforsten: Irgendwo, irgendwann war da sicher noch ein Kassenbon, den ich nicht miteinbezogen habe. Und ganz bestimmt hat der Gläubiger diese Woche etwas wieder hinzugezählt, das ich letzte Woche schon bezahlt habe. Verdacht und Argwohn treten in das Bewusstsein, und oft belasten sie einen und die anderen noch über mehrere Tage. Man will nicht wahrhaben, was man wahrgenommen hat. Der Freund wird dadurch anders beurteilt, wir beobachten nicht mehr seine Handlungen als solche, sondern ständig suchen wir nach Anzeichen, die ihn als Betrüger überführen könnten. Egal, was er tut, er steht unter Verdacht. Diesen Verdacht aber vor dem Verdächtigten zu verbergen, das fordert von uns die psychische Leistung des Bluffs. Wir strengen uns da schon sehr an, in jede Beobachtung wird viel mehr Bedeutung hineingedacht, als für einen Epikureer erkennbar wäre. Alle Situationen werden überkomplex und die Kommunikation kann leicht mal ins Stocken geraten, da wir die einzelnen Eindrücke nicht mehr begreifen können. Das Subjekt wird überfordert, es setzt sich selbst unter Stress: „We can’t go on together on suspicious minds.“
– 17% heute!
Die Versorgung mit den zum Leben notwendigen Mitteln in einer Marktwirtschaft kennt ganz andere Schwierigkeiten als die, mit denen Jäger und Sammler sich konfrontiert sahen. Heute entfällt das mühsame Durchforsten des Waldes nach günstiger Beute, es geht kaum Zeit verloren, um das zu bekommen, was man braucht, und noch dazu ist immer alles verfügbar. Erdbeeren kann ich auch im Winter kaufen. Beim Einkaufen selbst muss ich keinen Gefahren ausweichen, die mein Leben bedrohen, weder Bären noch Krokodile wollen mir an die Gurgel. In Summe spare ich mir als Konsument im Vergleich zum Jäger Zeit und Mühe – so denkt der homo oeconomicus. Aber Einkaufen ist nicht einfach nur das Entnehmen der Güter aus den Regalen, der umständliche Akt des Zahlens und der beschwerliche Heimtransport. Ohne Preisvergleich werde ich vom homo oeconomicus zum homo sine ratione, betreibe also aktiv meine Metamorphose zum „Blödmann“ (Mediamarkt) und damit den Ausschluss aus der aufgeklärten Gesellschaft.
Das Medium, aus dem ich erfahre, welche Ware wo und wann in welchen Mengen besonders günstig zu haben ist, ist z. B. der Flyer. Jeden Tag hängen von den diversen Supermärkten und Möbelhäusern Ankündigungen von Schnäppchen an meiner Wohnungstüre. Der Wald, den Jäger auf der Suche nach den Urochsen durchstreiften, hat sich in den Blätterwald auf meinem Wohnzimmertisch verwandelt.
Wäre ich die Charaktermaske aus dem BWL-Lehrbuch, säße ich mit Taschenrechner und Kalender bewaffnet auf dem Sofa, observierte jeden Prospekt und kalkulierte bis in die Nacht hinein, an welchem Tag ich welches Gut in welcher Menge in welchem Geschäft kaufte. Nun – kaum ein Mensch rechnet lieber, als er genießt. Wer hätte dazu schon die Zeit? Doch mein Akkumulationszentrum drangsaliert mich ständig, diese Blätter genau zu durchkämmen. Der aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) herausgetretene Mensch muss sehr lange durch den Blätterwald jagen, um nicht eine überteuerte Ware zu kaufen. Alles in allem geht dafür womöglich mehr Zeit verloren als für die Suche und Erlegung eines Wildschweins. Beziehe ich in diese Betrachtung aber die Tatsache mit ein, dass der Jäger zugleich seinen Kreislauf in Schwung brachte, frische Luft atmete, Quellwasser trank und seiner Haut ein paar wärmende Sonnenstrahlen (Vitamin D! ) gönnte, dann brauche ich nicht lange überlegen, wer da mehr Zeit spart.
Doch es wird noch schlimmer, weil komplizierter: Die Angebote müssen ständig mit dem in Verbindung gesetzt werden, was im Haushalt gebraucht wird. Interferierend in diese Kalkulation wirkt die Möglichkeit, jedes Gut in unterschiedlichster Qualität erhalten zu können. Soll ich die billigsten, eher geschmacklosen Tomaten oder die trotz Angebot teureren, dafür aber vitaminreicheren in dem anderen Geschäft kaufen? Das teure, multifunktionale, die Darmflora regulierende und wohlschmeckende Joghurt oder das billige ohne Gesundheitsgarantie? Und wenn ich mich heute zwar teurer, dafür aber gesünder ernähre, spare ich dann für später Geld, da ich mir Arztbesuche und wochenlange Kuraufenthalte erspare? Doch wer kann das schon mit Sicherheit sagen? Und überhaupt: Lügt die Werbung nicht generell? Wem soll ich da bei meinen Berechnungen eigentlich vertrauen? Da klopfen schon wieder Verdacht und Argwohn an die Pforten unseres Bewusstseins – die Folgen sind bekannt.
Die Berechnung des idealen Einkaufs wird dadurch zu einer Komplexität und Aufwendigkeit getrieben, für die Algorithmen programmiert werden sollten. Es geht aber noch toller: Wer viel Zeit und ausreichend Geld hat, kann sich dazu noch als politischer Konsument betätigen, der die ohnehin schon sehr hohe Komplexität um die Dimension der ökologischen Nachhaltigkeit erweitert. Zweitens können die Produktionsbedingungen der Ware in die Kaufentscheidung miteinbezogen werden. Die Zeitspanne, um sich darüber Informationen zu beschaffen, diese mit der gewünschten Qualität und dem gewünschten Preis zu integrieren, ist tendenziell unendlich lang. Der homo oeconomicus aus der Theorie verhungert neben seiner perfekten Einkaufsplanung.
Wenn es sozialen Systemen darum geht, die Komplexität der Umwelt durch binär codierte Operationen zu reduzieren (Luhmann) – in unserm Fall heißt das: finanzierbar oder nicht finanzierbar – dann ist die Marktwirtschaft die reale Widerlegung dieses Theorems. Die Komplexität der Umwelt, in diesem Fall die Bedürfnisse und Güter sowie deren Herstellung, Verteilung und Konsumtion, hat sich nicht reduziert, sondern derartig potenziert, dass sie die Kapazitäten eines endlichen Bewusstseins überfordern.
Wir kehren zum Einkäufer zurück – und gehen endlich ins Geschäft: Die Ergebnisse der Untersuchung des Flyerwaldes, die nur Annäherungen an das ideale Ergebnis sind, sind in Form einer Einkaufs- und Geschäfteliste festgehalten. Die Wurst ist im Geschäft A in Aktion, das Gemüse bei B und Katzenfutter bei C. Doch im ersten angekommen – gibt es plötzlich neue Sonderangebote. Diese waren nicht im Prospekt, die komplexe Kalkulation wird irritiert, dem rationellen Konsument wird schwindlig. Vermutlich wird er nicht widerstehen können. Die Krokodile, die den Jäger zu ihrer Beute machen wollten, haben sich in große Aktionsschilder verwandelt, denen zu entkommen der Charaktermaske kaum möglich ist. Man erliegt gerne mal einem Angebot.
Hier wird daher die Sekundärfunktion der Liste schlagend: Sie ist ein Schutzschild, der mich davor bewahren soll, Dinge zu kaufen, die reduziert sind und meine ökonomische Vernunft zum Nehmen reizen, die ich aber unmittelbar nicht benötige. Die Anpreisung von Waren wird zur Nötigung. Meist werden die Schutzschilde heruntergefahren und dem abstrakten Prozenterechnen, das die Charaktermaske in uns so glücklich macht, nachgegeben. Zu Hause angekommen freut sich die Geldrationalität in uns, wieder um 17% weniger ausgegeben zu haben, als der Einkauf eigentlich wert ist.
Ein Faktum, das gern erzählt wird. Der beste Freund z. B. hat eine Digi-Cam ergattert, die um 47,6% vergünstigt war, aber nur an einem Tag. Das sei ein Ansturm gewesen, hört man. Ein richtiges Abenteuer! Aber er hat sich gegen seine Konkurrenten durchgesetzt; er weiß, wie der Hase läuft.
Nichts ist jedoch peinlicher als zu erfahren, dass man selbst für ein Ding mehr bezahlt hat als ein Bekannter. Man schämt sich, den Markt nicht so gut zu kennen. Einem wird hier schnell ein wenig Dummheit attestiert, währenddessen dem, der ein tolles Angebot erheischte, wahre Vernunft anerkennend attribuiert wird. Dass das Angebot ein Ding war, das er womöglich gar nicht braucht, das viel mehr kann, als er je nutzen wird, ist für die Einschätzung von dumm oder intelligent heute weniger relevant denn je. Als Folge sammelt sich in allen Haushalten Elektroschrott und anderes Zeug, das billig erstanden, aber nie verwendet wurde. Doch die Akkumulation läuft und läuft und läuft…
Shoppen im Wohnzimmer
Dieser Schrott, der lange Wohnfläche vernichtete, deswegen aber noch lange nicht verschenkt wurde, weil wir in ihm nicht nur den nicht realisierbaren Gebrauchswert sehen, sondern diesen auch als Träger von Tauschwert anschauen, wird auf den großen Markt im Internet geworfen. Ebay funktioniert nach dem Auktionsprinzip. Es gibt hier alles, sogar ein WLAN Kabel! Der Kunde ist fasziniert und schaut, was er denn brauchen könnte. Er surft durch die virtuellen Markthallen und es wäre ein Wunder, würde er nicht fündig. Doch das Ende des Kaufaktes ist mit dem Anklicken noch lange nicht erreicht. Meist steht das Ende der Auktion noch aus, und versteigert wird rund um die Uhr. Ständig bin ich zur Überprüfung aufgefordert: Bin ich noch der Höchstbietende? Ein Wettrennen entsteht, bei dem das Wettbewerbssubjekt voll Freude mitlaufen kann. Hier kann es zeigen, wie es die besten Schnäppchen ergattert! Für diese Jagd muss man vor allem eines investieren: Zeit. Stunden der Suche für die Ware, Stunden der Kontrolle und schließlich Stunden der Hoffnung, dass keiner höher bietet. Der Bieter tut sich viel Aufregung an und in den meisten Fällen wird dieser wohl die Enttäuschung folgen.
Impressionisten
Kunst erfreut das Auge. Ich wollte ihm mal was Gutes tun und besuchte mit meiner Freundin die Ausstellung impressionistischer Gemälde, die es für kurze Zeit in Wien gab. Beim Eingang ist der Eintritt zu zahlen. Doch so normal das klingt, so abnormal verhält man sich genau deswegen während des Besuches. Denn nachdem ich mit der Sonderausstellung der Impressionisten fertig war und meine Augen mit ausreichend Schönheit verwöhnt waren, verspürte ich leichte Müdigkeit und Hunger. Doch ich dachte noch lange nicht daran, das Museum zu verlassen. Schließlich gab es da noch vier andere Ausstellungen, für die ich ja eigentlich schon bezahlt hatte. Also rein in den Lift und rein in eine andere Epoche. Die folgenden Bilder sah ich mir dann schon mindestens doppelt so schnell an, kaum eines lange genug um es auf mich wirken lassen zu können. Jedes Bild wurde beim Reinkommen in den Raum blitzschnell dahingehend taxiert, ob es der Mühe wert sei, sich für 10 Sekunden näher zu ihm hinzustellen. Am Ende ging ich nur mehr durch die Räume und machte dabei eine schnelle Drehung um 360 Grad um alles gesehen zu haben, denn die Füße begannen zu schmerzen, der Magen rebellierte und meine Freundin wartete schon woanders, da sie nicht mehr die Kraft hatte noch mehr zu sehen.
Die hatte ich eigentlich auch nicht mehr, doch die Charaktermaske in mir meinte, dass ich diese Bilder heute noch sehen müsse, ein nochmaliger Besuch wäre so, als hätte ich für eine Ware doppelt bezahlt. Und „ich bin doch nicht blöd“! (Mediamarkt) Nein, ich schinde mich durch die letzten Räume, riskiere Streit, habe Bauch- und Kopfschmerzen, bin weit davon entfernt, die Bilder nur irgendwie sinnlich empfinden zu können, doch all dies ist nichts wert. Wichtig ist einzig und allein, dass ich Geld gespart habe, und dieses Wissen triumphiert über jedes Gefühl.
Datenpflegen
Um an Geld zu kommen, tausche ich Teile meiner Zeit gegen 7 Euro pro Stunde, rufe in Firmen an und frage nach bestimmten Managern, damit ich deren Auskünfte dann in die Datenbank eingeben kann. Diese Arbeit ist vollkommen monoton, jegliche Vitalität abtötend sowie Geist und Denken ruinierend. Nach vier Stunden habe ich Kopfschmerzen, nach sechs Stunden weiß ich nicht mehr, ob ich Mensch oder Roboter bin. Besser geht die Arbeit daher, wenn ich mich für einen Roboter halte, Reflexion und Sinnlichkeit ausblende und einfach nur funktioniere. Wenn ich mich zum Mittel für einen fremden Zweck mache.
Bei der Sommerfeier der Firma redete ich in meiner alkoholgeschwängerten Unbekümmertheit mit dem Geschäftsführer. Ich klagte kurz mein Leid, das ich durch die Monotonie durchmache. Ich wurde darauf hingewiesen, dass ich so meine Fähigkeiten kennen lerne, dass ich sehe, ich könne meine Grenzen überwinden und meine Leistungsfähigkeit steigern. Das Schlimme ist, er meinte es gut mit mir. Doch er sprach nicht mit mir, sondern seine Charaktermaske mit meiner.