Flexicurity

Wolfgang Schüssel will die EU-Präsidentschaft aussitzen, um die anschließenden Nationalratswahlen zu gewinnen

von Franz Schandl

Begonnen hat es ja nicht besonders. Kaum im Amt, hat die österreichische Ratspräsidentschaft gleich zwei Niederlagen hinnehmen müssen. Erstens wurde der EU-Haushalt im Europäischen Parlament mit überwältigender Mehrheit abgelehnt und zweitens scheiterte der Vorschlag, doch die Debatte über die EU-Verfassung zu reaktivieren, kläglich.

Trotzdem sollte man diese Pannen nicht überbewerten. Anders als Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der sich zunehmend als Leichtgewicht erweist, ließ Wolfgang Schüssel sich nicht irritieren, im Gegenteil, er streute dem Europaparlament sogar Rosen, indem er meinte, dieses sei „keine Applausmaschine“. Der neue Ratspräsident plädiert gelassen für weitere Gespräche, betont aber gleichzeitig, dass er auf finanzieller Ebene wenig „Manövrierraum“ sehe. Verhandlungen liebt der in der österreichischen Sozialpartnerschaft als Wirtschaftskammerfunktionär groß gewordene Schüssel insgemein, da ist er in seinem Element. Jemanden über den Tisch ziehen, das kann er. Man denke bloß daran, wie sich der Mann im Jahr 2000 vom dritten Platz aus ins Kanzleramt gehievt hatte.

Weniger wichtig ist, was in diesem Halbjahr geschieht, wichtiger ist, wie die Präsidentschaft rüberkommt, in Europa wie in der Alpenrepublik. Nicht zu unterschätzen ist etwa Schüssels Vorschlag, die EU solle ihren Etat nicht über die Mitgliedsstaaten begleichen, sondern aus Eigenmitteln, so als seien die staatlichen Zahlungen an die Union Fremdgelder. Zu diesem Zweck schlägt der österreichische Kanzler eine EU-Steuer vor. Das ist zwar eine rein steuertechnische Maßnahme, aber eine, die auf der psychologischen Ebene die nationalen Regierungen aus der Schusslinie nehmen könnte. Der Unmut dürfte sich dann aber noch mehr Richtung Brüssel und Straßburg verlagern. Zahlen tun in beiden Fällen die Selben, wenn auch nicht unbedingt das Selbe.

Es ist heute absolut populär, darauf hinzuweisen, dass etwas „unpopulär, aber notwendig“ (Schüssel) ist. Diese Aufforderung zum Leiden ist geradezu charakteristisch für die Propaganda der marktwirtschaftlichen Ideologie. Und sie trifft auf Bereitschaft, auch bei vielen, die laufend unter die Räder kommen. Dass ausgerechnet der Liberalismus mit dem Populismus nichts am Hut habe, ist ja eines der hartnäckigsten Vorurteile, die heute verbreitet werden. Der „Nichtpopulist“ Schüssel betreibt lediglich eine abgefeimtere Variante des affirmativen Unsinns. Er will jedenfalls als der stramme neoliberale Musterknabe gelten, der er zweifellos auch ist.

Flexicurity heißt das neue beschäftigungspolitische Zauberwort, dem da auch auf dem Treffen der EU-Sozialminister in Villach gehuldigt wurde. Sie soll Flexibility und Security verbinden. Oder um es im zynischen EU-Deutsch des österreichischen Wirtschaftsministers Bartenstein auszudrücken: „Es gibt einen Paradigmenwechsel, weg vom Schutz des einzelnen Arbeitsplatzes hin zum Schutz des Menschen und seiner Beschäftigungsfähigkeit.“ Also um Aushöhlung des Kündigungsschutzes bei gleichzeitiger Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen. Angewandte Flexicurity ist dann etwa die neue europäische Dienstleistungsrichtlinie, die dem Dumping von Löhnen und Sozialleistungen Tür und Tor öffnet.

Angedacht ist weiters eine Luftverkehrs- und Spekulationssteuer. Ob sie politisch machbar sind, darf bezweifelt werden. Während der Markt sich brachial durch- und immer mehr Menschen der Wertlosigkeit aussetzt, gerät Politik in die Rolle des hilflosen, wenn auch lautstarken Moderators. Es herrscht eine Betriebsamkeit, die allerdings bescheidene Resultate bewerkstelligt. Die politische Szenerie erscheint des öfteren als ohnmächtige Parallelwelt, in der es mehr ums Lavieren als ums Agieren geht. Man denke etwa an die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Da ist Österreich außen- und wirtschaftspolitisch dafür, innen- und sozialpolitisch aber dagegen.

Beim großen Nachbarn dürfte das nicht viel anders sein. Die Achse mit Deutschland, insbesondere der neuen Kanzlerin, wird sich sehr innig gestalten. Es ist davon auszugehen, dass die österreichische Position a priori mit der deutschen akkordiert ist. Man denke etwa an die Protektion Kroatiens. Aus Schüssel spricht auch Merkel. Das ist nicht nur Folge der gleichen Parteizugehörigkeit, da stimmt auch wieder die Chemie. Mit Schröder und Fischer war diese ja seit den bilateralen Sanktionen der EU gegen Österreich (nach dem Eintritt der Haider-Partei in die Regierung im Jahr 2000) erheblich gestört.

Auch wenn Politik, Wirtschaft und Medien fast unsisono trommeln, ist die Stimmung betreffend die Europäische Union doch sehr schlecht, nicht nur in den Niederlanden und Frankreich, sondern auch in Deutschland und am allermeisten in Österreich. Die Skepsis indes ist da schon weniger einheitlich geprägt, sie speist sich sowohl aus berechtigter Kritik als auch nationalistischem Ressentiment und nicht immer sind die beiden auseinander zu halten. Was freilich die EU-Debatten ziemlich unerquicklich macht, weil vor allem die euphorischen Befürworter oft mit denunziatorischen Zuordnungen arbeiten. Typisch ist etwa folgender Kurzschluss: Weil es EU-Gegner gibt, die primitive Chauvinisten sind, gilt jeder Widerstand gegen die EU als nationalistisch oder gar faschistoid.

Die Ratspräsidentschaft bringt dem österreichischen Kanzler ein Surplus an medialer Einschaltung und öffentlicher Aufmerksamkeit. Wenn nichts völlig schief läuft, wird Schüssel selbst aus einer bloß ausgesessenen Präsidentschaft Vorteile ziehen. Im Herbst sind Nationalratswahlen, und da kommt es in erster Linie darauf an, sich günstig aufzustellen. Die Präsidentschaft ist jedenfalls eine Chance, die Schüssel als seine letzte nutzen will, sozusagen Flexicurity in eigener Sache. Da die SPÖ und vor allem ihr Vorsitzender Alfred Gusenbauer schwächeln, gilt es nicht als ausgemacht, dass die Sozialdemokratie ihre Siegesserie auch bundespolitisch fortsetzen kann. Sollte es Schüssel gelingen, die Nase auch nur um einen Zehntelpunkt vorne zu haben, wird er – wer hätte es je für möglich gehalten – in seine dritte Amtszeit stolpern.

Aus: Freitag 4, 27. Jänner 2006

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