Anmerkungen zum „Kampf der Kulturen“
Streifzüge 37/2006
von Ernst Lohoff
Die Ethnisierung der Weltmarktgesellschaft
Die meisten politischen Debatten und Richtungsstreitigkeiten verebben mehr oder minder spur- und folgenlos. Viele sind quasi schon vergessen, während sie noch toben. Nur ganz wenige indizieren historische Brüche und finden irgendwann einmal Eingang in die Geschichtsschreibung. Von der unseligen Debatte um den „Kampf der Kulturen“, die im Frühjahr 2006 nicht nur die bundesdeutsche Öffentlichkeit beschäftigte, steht zu befürchten, dass sie in diese Königskategorie fallen könnte. Sicher, die Wellen, die der „Karikaturenstreit“ schlug, haben sich gelegt, die Diskussion um die Einführung nach dem Feindbild Islam gestrickter Einbürgerungstests ist verebbt und auch das diplomatische Gezerre um die iranische Atombombe, Chiracs nukleares Säbelrasseln und Ahmadinedschads Vernichtungsphantasien gegenüber Israel sind erst einmal aus den Schlagzeilen verschwunden. Heißt das aber wirklich Rückkehr zum Business as usual oder ist ein historischer Umschlagspunkt erreicht? Wenn der Wirbelsturm Katrina im meteorologischen Sinn Vorbote einer allgemeinen Klimakatastrophe war, kündigt dann vielleicht das „Kampf der Kulturen“-Szenario der letzten Wochen das Umkippen der weltideologischen Großwetterlage an?
Niemand kann die Reichweite und Folgen der gegenwärtigen Entwicklung genau abschätzen. Allerdings lässt sich konstatieren, wie weit der Zeitgeist bereits von dem weggedriftet ist, was während der 1980er und 1990er Jahren noch hegemonial war. Das neoliberale Zeitalter verband die Marktreligion mit einem extremen Individualisierungskult. Margaret Thatcher hat vor vielen Jahren das neoliberale Programm in dieser Hinsicht auf eine prägnante Formel gebracht: „There’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families.“ Die klassischen Nationalstaaten verlieren zwar tatsächlich, wie vom Neoliberalismus propagiert, ihre Fähigkeit zur ideologischen und praktischen Integration der Gesellschaft, aber nicht um künftig dem Einzelkämpfer, der nur sich selbst und seine Kleinfamilie kennt, allein das Feld zu überlassen, sondern vor allem auf dass ausgrenzungswütige Kollektividentitäten deren Platz einnehmen. Die Gesellschaft geht, die ethnizistisch definierte Gemeinschaft kommt – und zwar mit allem dazugehörigen gemeingefährlichen Drum und Dran. Das neoliberale Zeitalter kannte nur den „Terror der Ökonomie“, also die verrückte Rationalität des Profits; heute schiebt sich das verdrängte Irrationale an die Oberfläche und bestimmt wesentlich die weltgesellschaftlichen Konfliktlinien mit. Fast ein Vierteljahrhundert beherrschte die anti-kollektive Utopie die ideologische Landschaft, nach der in einer entgrenzten und von politischen Feindschaften befreiten Welt unmittelbar dem Weltmarkt unterworfene Menschen einander ohne rassistische und kulturalistische Vorbehalte zu Tode konkurrieren sollten. Mit dem „Kampf der Kulturen“ überlagern im großen Stil die gewaltästhetische Identitätsinszenierung im Namen „imaginärer Gemeinschaften“ (Benedict Anderson) und der ethnizistisch bestimmte Ausschluss die individuelle Selbstbehauptung im marktkonformen Wettbewerb der Arbeits- und Konsumsubjekte.
Antiokzidentalistischer Kulturalismus und nachholender westlicher Kulturalismus
Das Phantom einer entgrenzten Weltmarktgesellschaft, die sich in Milliarden erfolgsverwöhnte Ich-AGs auflösen solle, war ein Produkt des kasinokapitalistischen Honeymoons. In den Weltregionen, die nicht bzw. kaum am langen finanzmarktinduzierten Boom teilhatten, konnte es sich nie derart tief in das Massenbewusstsein hineinfressen wie in den Metropolen. Dort setzte sich denn auch deutlich früher als in den Weltmarktzentren die Ethnisierung der warengesellschaftlichen Widersprüche als die dominante ideologische Reaktionsform auf den krisenträchtigen Globalisierungsprozess durch. Insbesondere der islamische Raum zwischen Marokko und Pakistan geriet mit dem Übergang zum globalisierten Kapitalismus ökonomisch und politisch noch weiter ins Hintertreffen als bisher und erfuhr massive Verelendungsschübe. Das endgültige Scheitern der sich meist sozialistisch definierenden nationalen Modernisierungsregimes in Algerien, Ägypten, Syrien, dem Irak usw. , das mit dem Kollaps des Realsozialismus offiziell besiegelt wurde, hinterließ zusammen mit dem Bankrott der traditionell-marxistischen Kapitalismuskritik ein Deutungsvakuum. Dieses wurde von antiokzidentalistischen Strömungen gefüllt, die für die fatale Lage der islamischen Welt statt des Weltkapitalismus, die „zersetzenden“ Einflüsse der „abendländischen Kultur“ verantwortlich machen. Ohne das neoliberale Zwischenspiel trat an die Stelle der erfolglosen Erfindung arabischer Nationen mit der Beschwörung der Umma, der Gemeinschaft aller gläubigen Muslime, unmittelbar ein neues postmodernes und poststaatliches Kollektivkonstrukt. Die Erfindung einer „authentischen“ islamischen Identität verband dabei zwei Momente: den Traum, dem Westen im postnationalstaatlichen Zeitalter auf gleicher identitätspolitischer Augenhöhe gegenüberzutreten und den Drang, alles Bedrohliche am globalisierten Kapitalismus zu einer fremden, äußeren Macht zu erklären, um sich gleichzeitig dessen technische Segnungen und die auf Selbstbehauptung geeichte postmoderne Subjektivität anzueignen.
In Westeuropa fasste der Ethnizismus in den 1980er und 1990er Jahren zunächst vornehmlich als neo-nationalistische Schmuddelideologie Fuß, die weit verbreitete, von der neoliberalen Weltanschauung aber nicht zugelassene Deklassierungsängste in aggressive Ausgrenzungsprogramme übersetzte und darüber hinaus einer vom Absturz bedrohten weißen Männlichkeitsidentität die performative Selbstvergewisserung erlaubte. Was die Feindbildbestimmung und die Wahl seiner Identitätsmuster angeht, lehnte sich der aufkommende europäische Ethnizismus zunächst einmal noch recht eng an die klassischen nationalistischen und rassistischen Ideen an. Die Entwicklung in God’s own country bot demgegenüber ein anderes, von vornherein reiferes Bild. Hier war es vor allem der christliche Fundamentalismus, der zunehmend an Kraft gewann und dessen Netzwerke von Beginn an sehr viel mehr Einfluss auf den öffentlichen Diskurs ausübten als Schönhuber, Haider, Le Pen und Konsorten. Darüber hinaus bewegte sich die christlich-fundamentalistische Weltdeutung im Gegensatz zum nur unvollständig vom kleinräumigen Nationalismus abgelösten europäischen Ethnizismus von vornherein auf der post-nationalstaatlichen, weltgesellschaftlichen Höhe der Zeit. Während man sich in Europa darauf beschränkte, zwar aggressiv, aber in der Grundausrichtung defensiv die nationalen „Leitkulturen“ vor der angeblich drohenden „Überfremdung“ retten zu wollen, traten die US-amerikanischen protestantischen Sekten von vornherein als ideologische „Global player“ auf und entfalteten insbesondere in Lateinamerika und Westafrika eine rege Tätigkeit zur Durchsetzung ihres Weltbilds.
Feindschaft verbindet
Der islamische Fundamentalismus richtete sich zunächst unmittelbar praktisch gegen die in Korruption versunkenen einheimischen Modernisierungsregimes und die Satrapenregierungen des Westens in den islamischen Ländern. In dieser Phase wurde er in Europa und den USA trotz blutiger Bürgerkriege, etwa in Algerien, nur am Rande wahrgenommen. Die Ausbildung eines dschihadistischen Flügels, der die Konfrontation von der innerstaatlichen auf die globale Bühne trug, bedeutete demgegenüber nicht allein für die Entwicklung des islamischen Fundamentalismus einen qualitativen Sprung, sondern auch für die Umgestaltung der ideologischen Landschaft im „Okzident“. Als ob man auf diesen Gegner nur gewartet hätte, markiert der 11. September 2001 den Übergang von einem schleichenden zu einem rasanten und offenen Ethnisierungsprozess. Indem der Westen dem islamischen Fundamentalismus offiziell die Stirn bietet, eifert er inoffiziell dessen Vorbild nach. In der Verteidigung des Individuums und der pluralistischen Demokratie gegen die als Wiederkehr der fanatischen Masse und der „totalitären Herausforderung“ imaginierte „islamische Kultur“ nimmt die westliche Menschenrechtsideologie unter der Hand selber immer mehr Züge einer postmodernen Stammesreligion an.
Nicht nur, dass sie eine Milliarde Menschen als ideologische Haftungsgemeinschaft behandelt, unter Generalverdacht stellt und damit deren präventiven Ausschluss legitimiert; indem die Verteidiger der „westlichen Wertegemeinschaft“ ein Wesen der „islamischen Kultur“ konstruieren, zu dessen Kernelementen Gewalt und Frauenunterdrückung gehören, externalisieren sie projektiv den gewaltförmigen und sexistischen Charakter der kapitalistischen Gesellschaft und schaffen sich ein Gegenbild zum „Westen“, das gleichzeitig als Feind- und Vorbild funktioniert. Schon bei Abu Huntington, dem Vordenker des „Clash of Civilizations“, ist das Doppelbödige der Erfindung einer geschlossenen und überzeitlich gedachten islamischen Kultur mit Händen zu greifen. „Culture is to die for“, schrieb er dem in seinen Augen dekadenten Westen ins Stammbuch und erklärte damit schon 1993 die Übernahme der „dem Orientalen“ vorgeblich wesenhaften Todesgeilheit zur Vorbedingung dafür, dass der „Westen“ im „Kampf der Kulturen“ bestehen könne. Und auch was er „der westlichen Wertegemeinschaft“ neben dem Sterben und Sterben lassen als Rezept fürs Überleben verschreibt, spricht eine eindeutige Sprache: „faith and family, blood and belief“. Die geistige Einheit der globalen Warengesellschaft steht also allen anders lautenden Gerüchten zum Trotz mit dem „Clash of Civilizations“ keineswegs zur Disposition. Sie stellt sich im Wechselspiel von demokratischen Kreuzrittern und islamistischen Gotteskriegern überhaupt erst in einem bislang nie erreichten Grad her. Nur nimmt sie eine etwas andere Gestalt an als jene, die den neoliberalen Vordenkern einst vorschwebte. Sie besteht im Gentlemen’s aggreement der Ethnizisten und Fundamentalisten aller Länder zur Installation einer Art weltumspannenden Hooligan-Kultur mit ausgeprägtem Hang zum Apokalyptischen.
Zwar zieht, schon was das Verhältnis zu den in Westeuropa lebenden Muslimen angeht, die Mehrheit der Bevölkerung und der Meinungsmacher nicht unbedingt mit überschießendem Enthusiasmus in die Auseinandersetzung zwischen „westlicher Wertegemeinschaft“ und „islamischer Kultur“. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, welche tiefgreifenden Veränderungen sich gerade vollziehen. Das lange im Ungefähren gebliebene Bedürfnis, „das Fremde“ auszugrenzen hat mit dem Islamkonstrukt nicht nur einen identifizierbaren Gegenstand bekommen, es ist gleichzeitig als „Verteidigung westlicher Errungenschaften“ liberalismuskompatibel geworden. Das dumpfe und unspezifische „Ausländer raus“ des braunen Bodensatzes nimmt in der Frage nach der so genannten „Integrationsfähigkeit“ von Muslimen eine der Denkweise der demokratischen Mitte adäquate Double-bind-Gestalt an. Zur Kritik der vermeintlichen oder tatsächlichen Selbstgettoisierung der muslimischen Minderheit umgebogen werden antiislamische Ressentiments hoffähig – man denke nur an die grassierende Kopftuchphobie. Die Forderung nach Integration wird zum Mittel der Ausgrenzung und natürlich finden sich genug talkshow-taugliche, von Spiegel, Schily und Co. protegierte freiheitlich-demokratische Konvertitinnen wie die unvermeidliche Necla Kelek, die als Kronzeuginnen gegen ihre verstockten ehemaligen Glaubensbrüder und -schwestern auftreten. 1 Wie dramatisch sich mit dieser Volte die Konsensfähigkeit von Ausschluss erhöht hat, lässt sogar schon ein Blick auf neuere demoskopische Erhebungen erahnen. Nach einer Allensbachumfrage verneinten bereits unter dem Eindruck des 11. September nur noch 43 Prozent der deutschen Bevölkerung die Frage, ob größere Spannungen mit der muslimischen Bevölkerungen in Deutschland zu erwarten wären. Eine Nachfolgestudie hat erbracht, dass dieser Anteil mittlerweile auf nur noch 22 Prozent abgestürzt ist. 2 Das ist der Boden, auf dem der „Kampf der Kulturen“ als großangelegter, populistischer Präventivkrieg führbar wird und den Charakter einer Self-fulfilling prophecy annimmt.
Das Feindbild Islam gewinnt im „Inneren“ immer klarere Konturen. Dagegen stößt der als „Kampf gegen den Terror“ apostrophierte demokratische Kreuzzug im Irak und anderswo in „Alteuropa“ insgesamt und insbesondere hierzulande auf weit verbreitete Skepsis. Zum einen weckt verständlicherweise die Aussicht auf einen Weltbürgerkrieg bei jedem irgendwie noch Zurechnungsfähigen mehr Angst als Verzückung. Zum anderen überlagert und konterkariert eine andere kulturalistische Projektion den antiislamischen Affekt. Gerade in Deutschland, der geistigen Urheimat des Antiokzidentalismus, gehört es zum in Krisenzeiten abrufbaren ideologischen Fundus, das als bedrohlich Empfundene am Weltkapitalismus in der projektiven Gestalt der „westlichen Zivilisation“ zu externalisieren, um sich umso entschlossener mit dessen „guter Seite“ zu identifizieren. Das alte Konstrukt „deutsche Kultur versus westliche Zivilisation“ hat in der Gegenüberstellung des friedliebenden „Alteuropas“ und des wild gewordenen Westens, der USA, eine zeitgenössische postnationalstaatliche Ausformung gefunden.
Die innerimperialistische Ethnisierung mag zwar die Islamophobie ein wenig abschwächen. Dafür demonstriert das prekäre Gleichgewicht der konkurrierenden kulturalistischen Feindbestimmungen umso eindringlicher, wie allgegenwärtig ethnizistische Deutungsmuster insgesamt geworden sind. Und auch dass in der offiziellen Politik der Ruf nach einem „Dialog der Kulturen“ den Schrei nach dem „Kampf der Kulturen“ momentan noch übertönt, bietet letztlich wenig Anlass zur Entwarnung. Diese Sprach- und Denkregelung verweist ganz im Gegenteil gerade darauf, wie weit die kulturalistische Metamorphose inzwischen vorangeschritten ist. Wo „Kulturen“ miteinander in Dialog treten sollen, da sind die Individuen und ihre Probleme schon zum Schweigen gebracht und Menschen mit spezifischer Vorgeschichte und unterschiedlichen sozialen Hintergründen haben sich bereits in Repräsentanten homogen gedachter kollektiver Identitätsblöcke verwandelt. In ihrem Appell an die „Besonnenheit“ anerkennt die Friedens- und Versöhnungspartei im „Kampf der Kulturen“ das ethnizistische Bezugssystem, das Huntington und die Dschihadisten predigen, nach dem die Weltgesellschaft in feste und klar abgegrenzte kulturelle Entitäten zerfällt.
Emanzipation ist antikulturalistisch
Es gibt wenig Grund, dem neoliberalen Zeitalter und seinem Individualisierungskult eine Träne nachzuweinen. Trotzdem hatte es zumindest einen Kollateralnutzen: In seinem Windschatten gedieh über Jahre hinweg in den intellektuell ambitionierten Kreisen die Kritik an der Vorstellung fester „kultureller“, „rassischer“ und „geschlechtlicher“ Identitäten. Der dekonstruktivistische Gedanke blieb in dieser Hinsicht nicht ohne eine gewisse gesellschaftliche Ausstrahlungskraft. Heute vollzieht sich auf breiter Front ein Roll back. Die kulturalistische Sicht ist drauf und dran, die Definitionsmacht und Meinungsführerschaft zu übernehmen. Wer auf Emanzipation statt auf Selbstzerstörung steht, muss angesichts dieser Entwicklung gegenzusteuern versuchen. Der Standpunkt der Befreiung kann unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus nur ein Standpunkt der „Entvolkung“ (Franz Schandl) und der Dekulturalisierung sein.
Man kann der hiesigen Linken bislang schwerlich nachsagen, dass sie sich dieser Aufgabe stellen würde. In der innerlinken Debatte in Sachen „Clash of Civilizations“ geben im Augenblick vor allem Positionen den Ton an, die in der einen oder anderen Weise die kulturalistische Wendung mitmachen statt gegen sie Stellung zu beziehen. Das gilt zunächst einmal für jene Minderheit, die das Ethnisierungsgeschäft aktiv betreibt, indem sie im Feldzug gegen das ewige „islamische Unwesen“ die Hardcore-Fraktion spielt. Hierzulande steuert die „antideutsche Szene“ diesen Kurs, produziert antiislamischen Kitsch von der Stange3 und nutzt das irrationale und hochgradig destruktive Potential des islamischen Fundamentalismus als Rechtfertigung dafür, die USA in einer Art spiegelverkehrten Antiamerikanismus als „Hort der Freiheit“ abzufeiern. Auf der gesamteuropäischen Bühne dokumentiert vor allem das im letzten Jahr von britischen Internetbloggern verfasste „Euston-Manifesto“4, wie die notwendige Kritik an den Feinden der geschlossenen „westlichen Gesellschaft“ zur ideologischen Versöhnung mit den herrschenden Verhältnissen missrät. Im großen regressiven Kulturalisierungsstrom treiben aber auch weite Teile der Mainstreamlinken, deren von der traditionellen Kapitalismuskritik geprägtes Weltbild aus den Fugen geraten ist. Das betrifft nicht nur die vulgären Antiimperialisten (etwa die AIK), die sogar der Hamas zu ihrem Wahlsieg gratulieren und den so genannten „irakischen Widerstand“ unterstützen; auch viele andere, die sich scheinbar von antiimperialistischen Denkmustern verabschiedet haben, geraten in dieses Fahrwasser. Während ihre eigene Kapitalismuskritik selber eine immer stärkere kulturalistische Schlagseite zeigt, indem sie an einer weitverbreiteten antiamerikanischen Unterstimmung andockt, zeigt sie sich für die destruktiven Qualitäten des islamischen Fundamentalismus blind und verharmlost selbst noch dessen antisemitischen Vernichtungswahn. Der ungebrochen affirmative Bezug auf Konstrukte wie „Volk“, „Nation“ und „Klasse“ wird zum Wahrnehmungsfilter, hinter dem die Wirklichkeit der islamischen Länder verschwindet. Das geht soweit, dass sogar das Mord- und Suizidprogramm todesfanatischer Modernisierungseliten implizit und oft genug auch explizit zu einem zwar hässlichen, aber irgendwie doch verständlichen Seufzer der erniedrigten und beleidigten Massen der islamischen Welt umgedeutet wird. Dass der islamische Fundamentalismus die Geschichte dazu benutzt, ein unveränderliches Gegenwesen zur westlichen Dekadenz zu konstruieren, weist ihn gerade als eine Spielart des modernen Identitätsdenkens aus. Der Antiimperialismus sitzt dem archaisierenden ideologischen Selbstverständnis auf und apologetisiert diese hochgradig postmoderne und purifizierte Durchsetzungsform des warengesellschaftlichen Irrseseins zu einer Art missratenen Gegenbewegung zum Vormarsch kapitalistischer Herrschaft. Weiter daneben kann man gar nicht liegen.
Antikapitalismus, der diesen Namen verdient, muss mit dem heraufbeschworenen „Clash of Civilizations“ anders umgehen. Er darf die kulturalistischen Deutungsmuster weder reproduzieren noch als letztlich irrelevante Ablenkung vom vermeintlich „Eigentlichen“ ignorieren und die globalisierte Warengesellschaft der neoliberalen Ideologie entsprechend als kulturell neutrales Unternehmen missverstehen. Stattdessen gilt es, die konkurrierenden Spielarten von Ethnizismus und Fundamentalismus als integralen Bestandteil des warengesellschaftlichen Gesamtirrsinns auf seiner heutigen, krisenhaften Entwicklungsstufe zu begreifen und deren Kritik als unerlässliches Moment von Gesellschaftskritik ernst zu nehmen. Eine Linke, die sich darauf einlässt, für das vermeintlich geringere Übel Partei zu ergreifen oder verzweifelt einen Ausgleich zwischen ihnen herbeizuführen, hat sich selber aufgegeben. Die Suche nach einer emanzipativen Alternative zu einem mehr oder minder in Permanenz schwelenden Weltbürgerkrieg beginnt mit der Weigerung, die Konfliktdefinition der Kombattanten zu akzeptieren. Um eine Gegendeutung zu den kulturalistischen Ideologien zu liefern, muss Gesellschaftskritik Menschenrechtskriegertum und islamischen Fundamentalismus als zwei Momente eines Gesamtübels verstehen. Das ist weder mit einer Neutralitätserklärung zu verwechseln noch läuft es darauf hinaus, die Differenzen zwischen islamischem Antiokzidentalismus und der westlichen Islamphobie klein zu reden. Ganz im Gegenteil, was die Gegenpole trennt und unterscheidet, zeichnet sich überhaupt erst klar und deutlich ab, wenn das gemeinsame Bezugsfeld ins Blickfeld kommt, in dem die verfeindeten Lager denken und agieren.
Anmerkungen
1 Eine sehr treffende Kritik an diesem Phänomen liefert ein leider unter dem merkwürdigen Titel „Gerechtigkeit für die Muslime“ in der Zeit vom 1. Februar 2006 erschienener, von Mark Terkessidis und Yasemin Karakasoglu verfasster und von 60 Migrationsforschern unterzeichneter offener Brief.
2 FAZ vom 17.5.2006.
3 Einen schon realsatirischen Beitrag lieferte in dieser Hinsicht Justus Wertmüller mit seinem Artikel „Der Krieg der Vorstädte gegen die Frauen. Über die Unruhen in den Banlieues vom Herbst 2005“, in: Bahamas 49.
4 http://eustonmanifesto.org/joomla/