Ein aktueller Streit
von Bernhard Schmid
Einleitung
Die internationale Politik ist seit jeher – auch und vielleicht besonders in der Linken – jener Bereich, in dem einseitige und mindestens einen Teil der Wirklichkeit ausblendende Positionen, Projektionen und Fantasmen am allerbesten gedeihen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass sich die Realitätstauglichkeit einer Vorstellung von den Verhältnissen nicht, oder jedenfalls deutlich weniger noch als im innergesellschaftlichen Bereich, unmittelbar an der Wirklichkeit messen lassen muss. Die internationale Sphäre bildet insofern zwar keinen luftleeren, aber dennoch fast beliebig für eigene Projektionswünsche offen stehenden Raum. Linke Bewegungen und Gruppen spalteten sich in der Vergangenheit oftmals an außenpolitischen Fragen oder stritten untereinander bevorzugt über die Unterstützung, die man dieser oder jener Bewegung, gar diesem bzw. jenem Regime zukommen lassen oder aber versagen müsse. (Sollte man es lieber mit der VR China oder mit Albanien halten? War im antikolonialen Befreiungsbewegung Algeriens die „Nationale Befreiungsfront“ – der FLN – zu unterstützen oder aber ihre Konkurrentin, die von ihrem sozialen und politischen Profil her recht ähnliche“Algerische Nationalbewegung“ MNA, als die legitime „sozialistische“ Bewegung neben dem „bürgerlichen“ FLN? Welche Befreiungsbewegung in Angola war die richtige? War die UdSSR nun ein tolles „sozialistisches Land“, das Reich des übelsten „Sozialfaschismus“, oder vielleicht nichts von beiden? )
Eigene Ansprüche bzw. die Suche nach dem, was man gern glauben mochte – „anderswo ist es besser, spielen sich die wilderen Kämpfe ab, andernorts existiert der Sozialismus bereits“ -, spielten dabei für die Beurteilung der äußeren Realität oft eine größere Rolle als die Wirklichkeit der Verhältnisse. Aber zum Glück war dem nicht immer so, sondern gab und gibt es daneben auch eine Tradition ernsthaft betriebener internationaler Solidarität mit Oppositionsbewegungen anderer Länder, die um eine größere Wahrnehmung der Realität bemüht war. Dass aber linke Gruppierungen in der Vergangenheit, und sei es auch nur für ein paar Jahre, Regime wie das von Pol Pot in Kambodscha zeitweise als „antiimperialistisch“ und „ihre Länder auf den Weg des Sozialismus bringend“ unterstützen konnten, zeigt deutlich die Gefahren solcher ideologisch aufgeladener und von (selbstverschuldeter und erwünschter) Blindheit geprägter „Außenpolitik“.
In den letzten Jahren hat diese Tendenz unter Linken, Wunschprojektionen und Identifikationswünsche in Form der Suche nach der besten „Befreiungsbewegung“ und dem „progressivsten“ real existierenden Regime zur Grundlage internationaler Analysen zu machen, spürbar abgenommen. Das hängt natürlich ganz unmittelbar damit zusammen, dass die Kräfteverhältnisse weltweit momentan so aussehen, dass man das „sozialistische Alternativmodell mit Zukunft“ in der heute existierenden Realität besser gar nicht erst ernsthaft zu suchen beginnt. Stattdessen überwiegt eine andere Tendenz, die aber ihrerseits wiederum mit starkem Projektionsdenken und die Wirklichkeit überdeckender, ideologisierender Schwarz-Weiß-Malerei einhergeht. Vor dem Hintergrund einer allgemein pessimistischen Diagnose über gesellschafspolitische Entwicklungen weltweit teilen manche linken – oder ehemals linken – BeobachterInnen die bestehende Staatenwelt in ihrem ideologischen Sandkasten erneut in „gute“, oder jedenfalls „bessere“, und „besonders böse“ Mächte ein. Nur gehören zur erstgenannten Gruppe jetzt nicht mehr die vermeintlich „auf dem Weg zum Sozialismus befindlichen“ Staaten, sondern jene Mächte, die man gern als starke Verbündete betrachten möchte und denen man zutraut, die allgemeine Entwicklung „hin zur Barbarei“ aufzuhalten und sich ihr entgegen zu stellen. Nur eine Variante dieser, bei manchen (ehemaligen) Linken in Mode gekommenen, Methode ist die Projektion einer „antifaschistischen“ Rettermission auf die stärksten westlichen Großmächte: Ihnen wird beispielsweise die Rolle zugeschrieben, nunmehr mit harter Hand die Demokratie in den bisher diktatorisch regierten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens einkehren zu lassen. Eine andere Variante, die kurzfristig zu entgegengesetzten realpolitischen Schlussfolgerungen führt, besteht darin, das Motto zu adoptieren: „Alle Feinde unseres Hauptfeinds“, und das sind in der Regel bei den Freunden dieser Doktrin die USA, „sind notwendig unsere Freunde“. So lassen sich dann abwechselnd die Regimes Serbiens (vor 2000), des Irak (vor 2003), des Iran, Nordkoreas oder auch – wenn man beim Interpretieren etwas nachhilft – die Regierungen des heutigen Russlands oder der VR China als geopolitische Gegenspieler der USA schönreden. Findet man die erstgenannte Variante besonders in den im weiteren Sinne „antideutschen“ Kreisen – oder was sich in den letzten Jahren so nennt -, so treffen wir die zweite Variante in ziemlich ungeschminkter Form bei der Tageszeitung junge Welt an, oder jedenfalls bei einigen ihrer prominentesten Autoren.
Selbstverständlich konnte es nicht ausbleiben, dass auch und besonders die Spannungen zwischen dem derzeitigen Regime des Iran und den USA – die seit etwa zwei Jahren zunehmen, aber jedenfalls bisher noch nicht zum offenen Krieg tendieren – mit Hilfe dieser jeweiligen Raster interpretiert werden. Die jeweiligen, von Linken bzw. ehemaligen Linken eingenommenen Positionen könnten freilich extremer kaum ausfallen als in ebendiesem Beispiel. Stehen sich doch zwei besonders symbolträchtige Gegenspieler gegenüber. Einerseits finden wir die USA, deren politische Führung – daran werden sich jedenfalls die Älteren unter den heutigen Linken noch erinnern – im Iran vor 1979 mit dem Schah-Regime eine ausgesprochen brutale und autoritäre Diktatur unterstützte und den symbolischen Affront, ihren Protégé stürzen zu sehen, nie wirklich verwunden hat, sondern vor allem in den ersten Jahren danach sichtbar auf Revanche sann. Auf der anderen Seite steht ein Regime, das es geschafft hat, vor allem in den ersten Jahren nach seiner Begründung noch schlimmer zu wüten als die Vorgängerdiktatur – und somit die einstige Revolution nachträglich in den Augen weiter Kreise der Gesellschaft, aber auch vieler ihrer ehemaligen ausländischen Unterstützer zu delegitimieren.
Vor allem zwei jüngere Ereignisse haben zur extremen Polarisierung der von (ehemaligen) Linken eingenommenen Positionen in diesem Zusammenhang beigetragen. Da sind erstens die groben Ausfälle und Sprüche des 2005 gewählten iranischen Präsidenten Mahmud Ahmedinejad, die sich vor allem gegen Israel richteten. Zum Zweiten ist da der anhaltende Streit zwischen dem Iran einerseits, den USA und der Europäischen Union andererseits – bei dem Russland, aber auch mehrere europäische Staaten eine Art Mittlerposition einzunehmen versuchen – über das vom iranischen Regime betriebene Atomprogramm. Einige der extremsten und zugespitzesten Positionen werden dabei auf beiden Seiten ausgerechnet von früheren Mitgliedern des Kommunistischen Bundes (KB), den man vor seiner Auflösung (1991) zweifellos für eine der vernünftigsten und realitätsbezogensten Organisationen der radikalen Linken halten durfte, eingenommen. Es lohnt sich daher, diese zugespitzten Analysen und Positionen zusammen mit ihrem aktuellen Hintergrund zu untersuchen.
Ahmedinedjad: „Israel muss von der Landkarte verschwinden“
Seit Oktober 2005 hat der, Ende Juni desselben Jahres neu gewählte, Präsident der „Islamischen Republik“ Iran mehrmals durch aggressive Verbalattacken gegen den Staat Israel die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Erstmals fiel er durch eine Rede vom 26. Oktober 2005 auf, in welcher er u. a. feststellte: „Wie der Imam (und Regimegründer Khomeiny, Anm. B. S. ) gesagt hat, muss Israel von der Landkarte gestrichen werden.“ Daneben richteten die verbalen Drohungen Ahmedinejads sich gegen Nachbarländer, die den Staat Israel anerkennen würden, wie es de facto mehrere Länder der Region – unter ihnen Ägypten und Jordanien – längst getan haben: „Wer immer Israel anerkennt, wird im Zornesfeuer der (moslemischen Gemeinschaft, Anm. B. S. ) verbrennen. Wer immer das zionistische Regime anerkennt, nimmt die Niederlage und die Kapitulation der moslemischen Welt hin.“ Ahmedinejad fügte dabei nicht hinzu, dass diese Grundsatzposition der Nichtanerkennung Israels etwa nur bis zu einer hypothetischen Regelung des Nahostkonflikts und einem eventuellen Ausgleich Israels mit den PalästinenserInnen Bestand haben sollte. Letzteres entspräche der Position der Arabischen Liga, die etwa auf ihrem Gipfel von 2004 auf algerischen Vorschlag hin beschloss, Israel für den Fall einer Zwei-Staaten-Lösung mit den PalästinenserInnen eine gegenseitige Anerkennung anzubieten. Eine ähnliche Perspektive hatte auch der Gipfel der Liga von 2002 in Aussicht gestellt. Die Position des iranischen Präsidenten enthält hingegen keine Option auf eine Beilegung des Konflikts durch eine Zwei-Staaten- oder durch eine (von Teilen der israelischen und palästinensischen Linken lange Zeit propagierte) binationale Lösung; sie ist vielmehr auf der Vorstellung begründet, Palästina sei notwendiger Weise Bestandteil der moslemischen Welt.
Tatsächlich hat Ahmedinejad zunächst nur die Worte wiederholt, die Regimebegründer Ayatollah Khomeiny in den 80er Jahren prägte und die im Iran in der Khomeiny-Ära auf offiziellen Parolenwänden prangte: „Israel bayad az bein berawad“ (wörtlich: „Israel soll dazwischen“, zwischen den Staaten, „weggehen“ – also von der Landkarte verschwinden). In der Zwischenzeit waren diese Verbalattacken jedoch im offiziellen Diskurs des iranischen Regimes stark zurückgefahren worden. So hatte der Ex-Präsident Mohammed Khatami (1997 bis 2005) wiederholt festgestellt, es sei Sache der Palästinenser, über ihre Position gegenüber Israel zu entscheiden, und – da deren Führung sich nicht gegen das Existenzrecht Israels aussprach – hinzugefügt, er werde als iranischer Präsident doch nicht „palästinensischer als die Palästinenser selbst“ auftreten. Jetzt scheint eine, jedenfalls ideologisch-verbale, Rückkehr zu den Positionen der ursprünglichen Khomeiney-Ära stattgefunden zu haben.
Es war damals ein zentraler Bestandteil des politisch-religiösen Millenarismus, auf den das Regime vor allem zu Anfang begründet war, bevor der „revolutionäre“ und ideologische Elan in den späten 80er Jahren zu verfliegen begann, an eine Etappenfolge der „islamischen Revolution“ bis hin zu einem mystifizierten Endziel in Form der „Befreiung des besetzten Jerusalem“ zu glauben. (Nur am Rande sei hier darauf hingewiesen, dass es sich in Wirklichkeit um eine Konterrevolution handelte: Das Regime der „Islamischen Republik“ zerstörte nahezu alle gesellschaftlichen Errungenschaften der ihm vorausgegangenen Revolution „von unten“, die das Schah-Regime hinweggefegt hatte, während es ihre Legitimität usurpierte. Die widerstreitenden politischen Kräfte, die ebenfalls an der revolutionären Bewegung gegen das vorherige Regime teilgenommen hatten, wurden in den frühen 80er Jahren durch Terror zum Schweigen gebracht. ) Diese Etappen sollten, wie man zahllose offiziellen Propagandaplakaten vor allem während der Zeit des Iran-Irak-Kriegs 1980 bis 88 entnehmen konnte, „über Najaf“, die schiitische „heilige Stadt“ im Süden des Irak, „nach Jerusalem“ führen. Auf öffentlichen Plätzen zahlreicher iranischer Städte wurden in jener Zeit Miniatur-Nachbildungen des Felsendoms in Jerusalem aufgestellt. Wie es der politisch-religiösen Ideologie der nunmehrigen Machthaber in Teheran entsprach, wurde dabei nicht politisch-analytisch differenzierend zu einzelnen Entwicklungen der israelischen Politik Stellung genommen, sondern der außenpolitische „Feind“ Israel wurde in ein Weltbild integriert, in dem „Gut“ und „Böse“ sich vermeintlich aus der Einwirkung göttlicher und teuflischer Kräfte ergaben. (Ein dem Autor bekannter Khomeiny-Anhänger, der Anfang der 90er Jahren in Deutschland lebte, schnitt aus jedem Flugblatt, das er erhielt, das gedruckte Wort „Israel“ sorgfältig mit einem Messer oder einer Schere aus – so, als könne er sonst unter teuflischen Einfluss geraten. )
Soweit jedenfalls der Diskurs; die Praxis dagegen sah auch unter Khomeiney, der neben Ideologie auch von Real- oder jedenfalls Machtpolitik einiges verstand, anders aus. Nachdem der Iran infolge des irakischen Angriffs auf sein Territorium, der im September 1980 erfolgte, militärisch ins Hintertreffen zu geraten drohte, hatte Israel zusammen mit den USA riesige Waffenmengen an die „Islamische Republik“ geliefert, die vom Regime in Kenntnis ihrer Herkunft entgegengenommen wurden. Der später „Irangate“ genannte Deal war noch während der laufenden „Geiselaffäre“, infolge der Besetzung der US-Botschaft in Teheran (November 1979 bis Januar 1981), hinter den Kulissen eingefädelt worden. Ab 1982 erlaubten diese Rüstungslieferungen es dem Iran, die militärische Situation an der Front zu verbessern und wenige Monate später zum Gegenangriff auf irakischem Territorium überzugehen – nunmehr führte Teheran den Krieg aus eigenem Antrieb fort, die USA und andere westliche Mächte rieben sich die Hände über die gegenseitige Zerfleischung der beiden Regionalmächte und über die gleichzeitige Schwächung der OPEC. Die politische Verantwortung für die Rüstungslieferungen an den Iran im Rahmen des US-„Irangate“ trug der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Sharon, der später öffentlich zugab, in Abstimmung mit der US-Administration gehandelt zu haben. (Vgl. dazu Süddeutsche Zeitung vom 28. 05. und 22. 10. 1982)
Neu: Die glatte Leugnung der Shoah
Neu gegenüber den offiziellen Verlautbarungen der Khomeiney-Ära ist hingegen, dass Ahmedinejads seinem Diskurs, welcher dem Staat Israel die Existenzberechtigung (jedenfalls im Nahen Osten) abspricht, auch eine Leugnung der historischen Realität der Shoah hinzufügt. Es für „historisch gerecht“ er erklären, wäre Israel nach der europäischen Judenvernichtung nicht im Nahen Osten, sondern auf Kosten Deutschlands und Österreichs – als hauptsächlicher Täterländer – gegründet worden, entspricht noch einem verbreiteten Alltagsbewusstsein im Nahen Osten. (Auf seine übliche schnodderig-zynische Art hat sogar Henryk M. Broder in diesem Punkt einem solchen Denken Recht gegeben, indem er es seinerseits als nur gerecht bezeichnete, Israel „in Bayern oder Schleswig-Holstein“ zu begründen. Freilich fügte Broder dem später in einem Interview in Jungle World vom 21. 12. 2005 hinzu, ihn kümmere „die Zukunft der Palästinenser nicht so sehr wie Israels“, und erteilt allein den Erstgenannten die Schuld am Ausbleiben eines Ausgleichslösung. Darum, vor der Geschichte den – anstelle der Deutschen – vertriebenen Palästinensern symbolisch Gerechtigkeit zu erweisen, ging es ihm also wohl nicht. ) Heute, im Jahr 2005, dagegen ernsthaft eine „Verlegung“ Israels zu fordern, zeugt schon von einem reichlich dickfellig-dümmlichen Auftreten.
Vor allem aber liegt es erkennbar jenseits auch der Israel feindlich eingestellten Alltagsideologie im Nahen Osten, die Realität des Holocaust schlicht abzustreiten, wie Ahmedinejad es ebenfalls tut, wenn er etwa behauptet, es sei „ein Märchen, dass die Deutschen (im Zweiten Weltkrieg) Juden in Öfen töteten“, das „wir nicht glauben“. In der Anfangsphase hatten es auch iranische Regimepolitiker vermieden, sich selbst durch solche Aussagen politisch-moralisch zu belasten -und eher an der strikten Aufteilung festgehalten, dass die Europäer für die Naziverbrechen verantwortlich seien, „wir Moslems“ diese und ihre Folgen dagegen nicht auszubaden hätten. Später haben jedoch in der „Islamischen Republik“ auch alle möglichen Verschwörungstheorien aus dem modernen europäischen Antisemitismus einen Nährboden gefunden, mit zunehmender Verbreitung etwa der „Protokolle der Weisen von Zion“, die von einer offiziellen Propagandaorganisation neu verlegt worden sind. Damit konnte in jüngerer Zeit auch die Holocaustleugnung an Boden gewinnen. Solche Diskurse ziehen allerdings kaum die Bevölkerung an, sondern eher einen Teil der aktiven Anhänger des Regimes.
Hat das Ganze irgendeinen politischen „Sinn“?
Was treibt nun den neuen Präsidenten um? Entweder hat Ahmedinejad, der selbst zu den Nachwuchspolitikern des Regimes zählt (also zu jenen Führungskräften, die nicht aufgrund irgendeiner Qualifikation, sondern hauptsächlich aufgrund ihres „richtigen“ ideologischen Glaubenskenntnisses in Ämter und Funktionen kamen: Ahmedinejad etwa war zunächst Milizionär des Regimes und erst später Ingenieur, bevor er 2003 Bürgermeister von Teheran werden konnte) und unter ihm politisch sozialisiert worden ist, diese Propaganda selbst in sich aufgesogen und glaubt wirklich selbst daran. Im Vergleich etwa zu Khomeiney, der zwar ein knallharter Ideologe, aber zugleich auch ein strategisch befähigter Machtpolitiker war, dürfte Ahmedinejad in jedem Falle ein intellektuell „kleines Licht“ sein, der möglicherweise selbst an die Parolen glaubt, mit denen das Regime ansonsten Andere zu indoktrinieren versucht. Dass Ahmedinejdad im Zweifel eher unter die Rubrik „erleuchteter Trottel“ zu zählen ist, belegt seine Äu? erung, wonach er anscheinend tatsächlich glaubte, bei seinem UN-Auftritt im September 2005 sei er von einer grünen Aura wie von einem Heiligenschein umgeben worden.
Oder aber der Beifall etwa aus rechtsextremen Auschwitzleugner-Kreisen in Europa, den er für seine Auslassungen über die Entstehung Israels erntete – etwa jüngst vom französischen Holocaustleugner Robert Faurisson – hat Ahmedinejad aus dessen Sicht darin bestätigt, einen solchen Diskurs zu verstärken. Möglicherweise ist er der Auffassung, wenn er „sogar aus dem feindlichen Westen“ Applaus erhalte, dann müssen ja etwas Wahres an seinen Äußerungen daran sein, ohne sich die Frage nach der wirklichen Repräsentativität solcher Stimmen zu stellen. Noch unklar ist, ob Figuren wie Horst Mahler (dem deswegen der Reisepass behördlich entzogen worden ist) und Faurisson an einer geplanten „historischen Konferenz“ in Teheran teilnehmen werde, auf der nach Vorstellung des Regimes über „Existenz und Ausma? des Holocaust“ debattiert werden soll. Es erübrigt sich, festzustellen, dass es dabei um Ideologie und keinesfalls um Geschichtswissenschaft gehen wird.
Realpolitisch betrachtet, verliert das von Ahmedinejad repräsentierte Regime mit solcherlei Eskapaden freilich spürbar an Akzeptanz innerhalb der westlichen Eliten, auch wenn selbstverständlich an ihren ökonomischen Interessen im Iran eisern festhalten.
Eine dritte mutmaßliche „Spur“ besteht darin, dass der verschärfte Diskurs gegen einen „äußeren Feind“ in Wirklichkeit vorwiegend innenpolitischen Zwecken dient – nämlich dem Versuch, einen Rest an Massenbasis, eine noch verbliebene Anhängerschaft dieses Regimes zu remobilisieren. Dass die Diktatur aufgrund des von oben verordneten Tugendterrors, vor allem aber auch aufgrund der seit Jahren andauernden Verschlechterungen der sozialen und ökonomischen Lebenssituation (dass sie nur den erstgenannten, nicht aber den zweiten Aspekt als ernsthaftes Problem wahrnehmen, hat den bürgerlich-liberalen Strömungen, den „Reformern“ und auch der pro-westlichen Opposition einen empfindlichen Rückschlag versetzt und überhaupt erst die Wahl Ahmedinejads ermöglicht) eine Mehrheit der „eigenen“ Bevölkerung gegen sich hat, muss auch den Trägern des Regimes bekannt sein. Und wenn nicht dem durchgeknallten Volltrottel Ahmedinedjad selbst, dann jedenfalls den hinter ihm stehenden „wahren“ Entscheidungsträgern; bekanntlich wid ja die wirkliche Macht im Iran nicht durch gewählte Politiker (und sei es den Präsidenten) ausgeübt, sondern durch jegliche demokratischer Kontrolle entzogene „Religionsexperten“, die im Zweifelsfall gewieftere Machtpolitiker sind als der Zwergenpräsident.
Ein „äußerer Feind“ ist da, zwecks Zusammenschweißens der vermuteten Basis, ein seit der Besetzung der US-Botschaft im November 1979 und der nachfolgenden, heftigen verbalen Konfrontation mit den US-Amerikanern – in der Windschatten freilich real der Rüstungslieferungsdeal eingefädelt wurde, der in Washington bei seiner späteren Aufdeckung 1987 auf den Namen „Irangate“ getauft werden sollte – ein bewährtes Mittel. Inwiefern und mit welchen gesellschaftlichen Auswirkungen es heute noch greift, muss vorläufig dahingestellt bleiben. Offenkundig aber spielen Teile des Regimes heute diese Karte aus. Tatsächlich könnte diese Rechnung mindestens zum Teil aufgehen: In ihrer gro? en Mehrheit wünscht sich die Bevölkerung des Iran heute vor allem, „genau so wie die Menschen in anderen (westlichen) Länden zu leben und eine normale Existenz zu wünschen“. Diese Sehnsucht aber ist in doppeltem Sinne aufgeladen: Einerseits wendet sich gegen die ständige ideologische Indoktrinierung der Gesellschaft und ihre Schikanierung mit Tugendvorschriften, Verboten und Geboten, für deren Einhaltung notfalls durch Prügel und Schlimmeres gesorgt wird. Der Tugendterror und die ständigen ideologischen Appel rufen in der Mehrheit der iranischen Gesellschaft nur noch Ermüdung hervor. Andererseits aber lässt sich dieselbe Sehnsucht auch gegen die dominierenden westlichen Länder kehren, überall dort, wo sie den Iran „arrogant“ und zurücksetzend behandeln. Auf den zweiteren Mechanismus (den es sehr gut auszuspielen versteht) ist wohl das Regime derzeit aus. Tatsächlich kann es dabei auch Argumente für seine Vision der Dinge geltend machen, die in der iranischen Gesellschaft oder Teilen von ihr durchaus Gehör finden können: Warum möchte man uns den Zugang zu modernen Technologien versperren, die vom Atomwaffensperrvertrag nicht ausdrücklich verwehrt weden und die durch die westlichen Mächte selbst ungeniert genutzt werden? Tatsächlich möchte man dem Iran – und sei es auch aus „begründetem Verdacht“ – Bereiche der Atomforschung verschlossen halten, die in Frankreich, Israel und anderswo gang und gäbe sind. Und die auch bis etwa 1989 (dem Jahr, in dem die BRD u. a. auf Plutoniumgewinnung und „Schnellen Brüter“ verzichtete) vom offiziellen Nicht-Atomwaffen-Staat Westdeutschland als sein „normales Recht“ beanspruchgt wurden – obgleich sicherlich auch deswegen, weil die BRD zu jener Zeit eben gerade an ihrem Nicht-Nuklearmach-Status zu rütteln versuchte. Ein daraus resultierendes Gefühl der Zurücksetzung und Benachteiligung, wonach dem Iran der Zugang – so jedenfalls der Eindruck, den das Regime zu erwecken versucht – gerade zu den „modernsten Lebensbereichen“ ungerechtfertigt verwehrt werden soll, lie? e sich zweifelsohne für staatliche Zwecke mobilisieren.
Der scharfe Anti-Israel-Diskurs der offiziellen iranischen Propaganda seinerseits erfüllte in der Phase der Begründung des Regimes vor allem die Funktion, (erstens) einen – im buchstäblichen Sinne – diabolisierten Feind, der auf den ersten Blick erreichbarer und dem eigenen Zugriff weniger entzogen erschien als die fernen USA, zu liefern. Dass diese beiden Mächte, beschrieben als „großer Satan und kleiner Satan“, als Hauptfeinde dargestellt wurden, hängt auch mit ihrer Rolle unter dem Vorgängerregime des Schah zusammen. Die USA hatten die wichtigste Stütze des Schah-Regimes und dessen mit Abstand größten Waffenlieferanten gebildet sowie die stärkste wirtschaftliche Präsenz im Iran – das Land hatte während der Schah-Ära als El Dorado und „Investitionsparadies“ aller westlichen Wirtschaftsmächte gegolten, was den Ruin traditioneller Sektoren der iranischen einheimischen Bourgeoisie beschleunigte und deswegen rechte Kräfte dazu trieb, sich der Revolution anzuschließen – besessen. Israel hatte im Windschatten der USA eine wichtige Rolle bei der Ausrüstung und Ausbildung der Streit- und Sicherheitskräfte des Schah gespielt und zur Zeit der Monarchie die Hälfte seines gesamten Erdölbedarfs aus dem Iran gedeckt. Dass die westeuropäischen Länder, die ebenfalls vom „Investitionsparadies“ unter dem Schah profitiert hatten, nicht ebenso zum Gegenstand negativer Propaganda wurden, lag daran, dass diese nach dem Regimewechsel fast bruchlos im Iran präsent blieben – mit zeitweiliger Ausnahme Frankreichs, das ab 1980 zu eng mit dem Irak unter Saddam Hussein verbandelt war. Ihre wirtschaftliche Präsenz wollte auch das neue Regime bewahren, da es – hinter seiner verbalen „antiimperialistischen“ Propaganda – die wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse zu den Industrieländern zu keinem Zeitpunkt überwunden hatte und dazu auch gar keinen brauchbaren Ansatz besaß. In Wirklichkeit wurde lediglich der zuvor beherrschende Einfluss der USA – der spürbar abgebaut, aber im wirtschaftlichen Bereich nicht völlig auf Null reduziert wurde – durch eine stärkere Präsenz vor allem Westdeutschlands und Japans ersetzt. Daneben diente (zweitens) der Anti-Israel-Diskurs dazu, das Leiden der PalästinenserInnen zu instrumentalisieren und als Projektionsfläche für einen „Kampf aller Moslems“ zu benutzen; dadurch wollte das neue iranische Regime den Anschein erwecken, die Unterdrückung „der Moslems“ in der gesamten Region aktiv zu bekämpfen, um sich als Träger eines zugkräftigen „Modells“ für alle Länder der Dritten Welt profilieren. Um mehr als eine Instrumentalisierung der Palästinenser handelte es sich dabei nicht, auch wenn die Führung der PLO anfänglich – von 1979 bis circa 1981 – ihrerseits sehr unkritisch positiv zum neuen Regime in Teheran stand, da sie zunächst glaubte, der Sturz des eng mit den USA verbündeten Monarchen werde das regionale Kräfteverhältnis entscheidend zu ihren Gunsten verschieben.
Keine antisemitische Verfolgungspraxis im Inneren des Iran
Dagegen ging mit dem scharfen und diabolisierenden Anti-Israel-Diskus aber keine antisemitische Verfolgungs- oder gar Vernichtungspraxis innerhalb des Iran einher. Die iranischen Juden, die vor der Revolution circa 100.000 im Lande waren – heute sind es noch circa 30.000, da ihre Mitglieder (wie andere Minderheiten) überdurchschnittlich stark die Möglichkeiten zum Abwandern etwa nach Israel und in die USA nutzten – bildeten, da sie einer monotheitischen „Buchreligion“ anhingen, eine offiziell anerkannte religiöse Minderheit. Solange ihre Angehörigen nicht gegen die im öffentlichen Raum verhängten „Moralgebote“ des islamistischen Regimes verstießen, wurden sie keinen spezifischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, anders als etwa die Mitglieder der nicht als Religion anerkannten Bahai-Sekte, die allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Bahai hingerichtet werden konnten. Allerdings kam es in den frühen 80er Jahren etwa kam es zu mehreren hundert Verhaftungen, weil iranische Juden den moslemischen wöchentlichen Ruhe- und Gebetstag – den Freitag – nicht respektiert und stattdessen den Shabbat gefeiert hatten. 1998 wurde 13 iranischen Juden, die familiäre oder andere Beziehungen nach Israel hatten, der Prozess unter dem Vorwurf der Spionage gemacht; die zunächst verhängte Todesstrafe wurde später in Haftstrafe umgewandelt. Bis heute sind den iranischen Juden, als „offizieller“ religiöser Minderheit, gleichzeitig etwa einzelne Sitze im iranischen Parlament reserviert; in wirtschaftliche oder administrative Führungspositionen vorzudringen, ist ihnen dagegen wie allen Nicht-Moslems erschwert. (Vgl. dazu auch einen informativen Beitrag aus dem jüdischen Internetmagazin hagalil: http://www.nahost-politik.de/iran/juden-1.htm)
Schräge historische Parallelen
Insofern ist es historischer Unsinn, wegen des Anti-Israel-Diskurses – unter Khomeiny oder auch heute – unmittelbare Parallelen zwischen dem iranischen Regime und dem Nationalsozialismus mit dessen Vernichtungspraxis, der Shoah, zu ziehen. Diese Tendenz findet sich nicht nur bei den so genannten „Antideutschen“, die gar zu gern aktuelle Ereignisse – vor allem im Nahen und Mittleren Osten – als vermeintliche Wiederkehr des Nationalsozialismus und der Konstellationen des Zweiten Weltkriegs interpretieren, sondern auch in der bürgerlichen Presse. Der Chefkarikaturist der Pariser Abendzeitung „Le Monde“, Plantu, zeichnete etwa in der Ausgabe vom 28. Oktober 05 den iranischen Präsidenten – und, hinter ihm stehend, vier Ayatollahfiguren – mit stilisiertem Hitlerbärtchen neben ihrem Vollbart und im Braunhemd, dessen Hakenkreuzbinde durch ein schwarz-weiß-rotes Armband mit dem Radioaktivitätszeichen ersetzt ist. Unten im Bild sieht man die charakteristischen Zuggeleise und Wachtürme von Auschwitz, die aber ein iranisches Atomkraftwerk umgeben. Die Karikatur spielt natürlich, neben den Sprüchen von Präsident Ahmedinejad, auch auf das iranische Atomprogramm an, auf das noch zurückzukommen sein wird. Solcherlei „Parallelen“ sind ahistorisch und politischer Unsinn, der über jegliche Vorstellungen realer Kräfteverhältnisse auf der Welt hinwegtäuscht.
Im soeben zitierten Sinne ziehen manche politischen Stimmen die antiisraelischen Äußerungen des iranischen Präsidenten, den Streit um das iranische Atomprogramm andererseits zu einem einzigen Problem zusammen – um den Eindruck zu erwecken, es handele sich dabei tatsächlich um den zielstrebig vorgenommenen Versuch, den Staat Israel militärisch auszulöschen. Besonders deutlich wird dies bei Matthias Küntzel, einem „antideutschen“ Autor, der seit November 2004 auch mindestens zwei mal als Referent bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (zu den Themenbereichen Nahostkonflikt und Antisemitismus) auftrat und heute im Wesentlichen den pro-israelischen Charakter einer Politik zum Hauptkriterium ihrer positiven Bewertung erhebt. Küntzel erhebt nicht nur direkte Vergleiche zwischen dem iranischen Regime und NS-Deutschland, sondern stellt auch eine direkte Prognose für Krieg- und Holocaustpläne auf, da der Iran konkret „Israel in eine radioaktive Wüste verwandeln“ wolle: „Aber jetzt, wo zum ersten Mal seit Adolf Hitler ein aus Wahlen hervorgegangener Führer in alle Welt brüllt, dass er Israel auslöschen und einen neuen Genozid am jüdischen Volk verüben will? “ Oder auch: „Ich erinnere mich an die großen Kundgebungen gegen Atomenergie und Atomkriege vor 25 Jahren. (… ) Und heute, wo ein nuklearer Holocaust vor aller Welt nicht nur angekündigt, sondern vorbereitet wird? “ (Zitiert von seiner Homepage www.matthias-kuentzel.de) Dagegen zählt Küntzel auf mal mehr, mal weniger explizite Weise zu den Befürwortern einer, von ihm im Namen des Antifaschismus eingeforderten, größeren politischen und auch militärischen Aggressivität des Westens und insbesondere der USA. (Dagegen soll Deutschland, das von ihm analytisch weitgehend vom „Westen“ abgespalten bzw. als dessen Gegner aufgefasst wird, lieber im Hintertreffen bleiben. )
Dagegen bleibt festzuhalten, dass der Iran nicht nur keine faschistische „Achsenmacht“ mit dem ökonomischen und militärischen Potenzial zur Weltkriegsführung ist, sondern ein auf wirtschaftlichem Gebiet weitgehend von Industrieländern abhängiges Land der „Dritten Welt“. Darüber hinaus muss die strategische Situation des Iran, obwohl militärisch eher eine Mittelmacht als ein schwaches Land – sofern er die im Westen oder in der ehemaligen Sowjetunion zusammengekauften Waffen einsetzen kann, wenn einmal keine Ersatzteile dafür geliefert werden sollten -, berücksichtigt werden. Neben dem traditionell der NATO angehörenden Nachbarstaat Türkei stehen jetzt auch auf mehreren anderen Seiten US-Truppen in unmittelbar an den Iran angrenzenden Nachbarländern stationiert, so in Afghanistan (seit 2001) und im Irak (seit 2003), aber auch im Golf sowie im Indischen Ozean. (In den ehemaligen zentralasiatischen Republiken wie Usbekistan scheinen die US-Militärbasen unter dem Druck bzw. dem Einfluss der Bündnisangebote seitens des gro? en Nachbarn Russland dagegen im Rückbau begriffen zu sein. Vor allem anlässlich des Afghanistankriegs 2001 konnten die USA in diesem Raum in Zentralasien, dem „weichen Bauch“ zwischen Russland und China, stärker Fu? fassen. Aber 2005 wurde die US-Basis in Usbekistan anscheinend geschlossen, im Zuge einer Wiederannäherung an Russland. In Kirgisien bleibt eine US-Militärbasis präsent, aber der örtliche Staat will den Preis für das Gelände spürbar in die Höhe treiben. ) Das einzige nicht unmittelbar mit den USA verbündete Nachbarland mit gemeinsamen Grenzen zum Iran ist heute Russland. Eine Reportage des deutschen TV-Senders Phoenix vom 21. 12. 2005 über das iranische Atomprogramm, die vorwiegend darauf ausgelegt war, den Eindruck einer Bedrohung zu erwecken, kam ebenfalls nicht um die Feststellung umhin: „US-Atomwaffen sind auf den Iran gerichtet“.
Hat der Iran tatsächlich die Fähigkeit zur atomaren Kriegführung?
Ferner darf nicht vergessen werden, dass es im Iran aktuell um die Frage geht, ob er vielleicht in absehbarer Zeit die Fähigkeit erhalten wird, einzelne Atomwaffen herzustellen – nicht um ein Nuklearwaffenarsenal, das auch nur entfernt dem der heutigen Atommächte vergleichbar wäre. Selbst wenn der Iran sich mit seinem Ansinnen durchsetzen sollte, Urananreichung auf eigenem Boden zu betreiben: Da die Anlagen im Iran – Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrags (NPT) – durch die Internationale Atomenergieagentur AIEA überwacht werden, müsste das Regime ihnen heimlich den Rohstoff zur Atombombenherstellung entziehen. Prinzipiell ist dies technisch möglich, da die technologische und stoffliche Basis eines „zivilen“ Atomprogramms – besonders im Bereich der Urananreicherung oder der Plutoniumabtrennung – prinzipiell dieselbe ist wie jene für den Atombombenbau. Nur würde dies, realistisch betrachtet, im Laufe der kommenden Jahre im Bereich der für die Herstellung von ein paar „schmutzigen Bomben“ eventuell genügen, nicht aber für den Erwerb hunderter von Atomwaffen. Das ist schlimm genug, wenn man aus gutem Grund der Auffassung ist, je weniger Mächte Massenvernichtungswaffen besitzen, desto besser sei es. Aber es erlaubt dem iranischen Regime mitnichten, einen atomar geführten Krieg gegen den Staat Israel auch nur ins Auge zu fassen. Israel hat, als Nichtunterzeichnerland des NPT, seine nuklearen Kapazitäten im militärischen Bereich – deren Aufbau in den späten 50er Jahren begann – niemals öffentlich gemacht; es gilt aber als allgemein bekannt, dass das Land 250 bis 300 Atomwaffen besitzt.
Nun kommt zwar noch ein weiterer Faktor ins Spiel, auf den auch Küntzel anspielt, nämlich die Größe des Landes. Das israelische Staatsgebiet misst in der Nord-Süd-Ausdehnung ungefähr die Länge von Baden-Württemberg und Hessen zusammen, ist dabei aber erheblich schmaler. Jedoch wäre es eine Täuschung, deshalb anzunehmen, der Iran könne bei geringem eigenem Risiko einen nuklearen Schlagabtausch mit Israel provozieren. 15 Millionen der annährend 65 Millionen Einwohner des Iran konzentrieren sich allein in der Hauptstadt Teheran, entlang einer Stadtautobahn von rund 60 Kilometern Länge bei ungeradem Verlauf. Würde dieser riesige städtische Ballungsraum von auch nur zwei Atombomben getroffen, entstünde ein Chaos, das auch das – im Falle von innenpolitischen Unruhen zu äußerster Gewalttätigkeit fähige – Regime der „Islamischen Republik“ nicht unter Kontrolle halten könnten. Und hält man dieses Regime für wahnsinnig genug, den Großraum Teheran einfach zu „opfern“, um sich auf den übrigen Iran zu stürzen, so muss man davon ausgehen, dass auch die Träger des amtierenden Regimes um die Aussichtslosigkeit eines solches Plans wüssten. Denn die Bevölkerung des Iran besteht zu 50 Prozent aus nationalen Minderheiten, die buchstäblich alle Ecken des Staatsgebiets bewohnen – und die bei einem Ausfall der Zentralmacht und des Ballungsraums Teheran sofort in alle Richtungen auseinanderstreben würden. Ferner darf man nicht davon ausgehen, es mit einem Regime von Selbstmördern zu tun zu haben: Das Regime der „Islamischen Republik“ hat in 26 Jahren Existenz zwar bewiesen, dass es ohne Rücksicht auf Menschenleben vorzugehen bereit ist, jedoch zugleich erfolgreich um den Selbsterhalt bemüht war und ist. Ansonsten hätte das Regime, das in der Anfangsphase erhebliche Stabilisierungsprobleme hatte, nie erfolgreich überleben können. Anders etwa als die ehemalige Diktatur Saddam Husseins kennt die iranische Diktatur auch das Prinzip der Elitenkonkurrenz, die – in einem politisch vorab festgesteckten Rahmen und unter Kontrolle nicht gewählter Organe wie des „Wächterrats“ – etwa auch über „im Rahmen der Islamischen Republik pluralistische“ Wahlen ausgetragen wird. Einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb besitzt dieses Regime jedenfalls.
Die Motive des iranischen Regimes
Der Streit um das iranische Atomprogramm, und namentlich auf die Frage, ob das Land Urananreicherung auf eigenem Boden betreiben darf oder aber diese „sensible“ Komponente der Herstellung nuklearen Brennstoffs nach Russland – in Form einer gemeinsamen Fabrik, die als Joint-Venture-Projekt betrieben würde, so der aktuell diskutierte Kompromissvorschlag – abgeben muss, wird vom Iran vor allem aus Gründen „nationalen Prestiges“ beschrieben. Wie auch anderen vergleichbaren Staaten dient der direkt oder indirekt vor der Weltöffentlichkeit geführte Nachweis, im Prinzip zur Herstellung von Atomwaffen in der Lage zu sein, dem Regime zur Aufwertung der eigenen politischen Rolle als Macht mit regionalem Geltungsanspruch. Damit ist sicherlich vor allem auch der Versuch verbunden, nochmals eine Massenbasis für das Regime im Inneren zu mobilisieren. Wie andere Staaten auch (mindestens drei Nachbarländer des Iran haben Atomwaffen: Israel, Indien – das den ersten eigenen Atomwaffentest 1974 durchführte -, und Pakistan mit seinem ersten Atombombentest im Jahr 1998) bildet die A-Bombe für das Regime, ob es sie nun effektiv besitzt oder nur die Fähigkeit dazu demonstrativ unter Beweis stellt, hauptsächlich eine „politische“ Waffe. Militärisch ist sie derzeit nicht wirklich einsetzbar, da jedenfalls ein nuklearer Schlagabtausch mit einem anderen Staat, der diese Waffe ebenfalls besitzt, bisher noch für beide Seiten selbstmörderisch wäre. Daran, dass sich dies eines Tages ändern soll, hatten besonders die USA und Frankreich in den vergangenen Jahren gearbeitet, mit der Forschung über so genannten „mini nukes“, also die Miniaturisierung von Atomwaffen, die dadurch als Kriegswaffe real einsetzbar werden sollten. Das 2003 von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gestartete „Mini nukes“-Programm ist allerdings 2005 eingefroren worden, weil es sich als überteuert herausstellte und seine Versprechen zunächst nicht zu halten schien.
Vernünftiges Prinzip: Gegen Atomkraft und -waffen, überall
Dies alles ist kein Grund; gegen das vernünftige Prinzip zu verstoßen, wonach so wenig wie möglich, perspektivisch gar keine Staaten (mehr) über Atomwaffen verfügen sollten. Die Welt wird zweifellos grundsätzlich nicht sicherer, sondern unsicherer, je mehr Regime über einen „Finge am Drücker“ verfügen. Auch wenn diese Waffe durch einen Staat wie den Iran nicht realistisch in offensiver Weise eingesetzt werden kann: Sie könnte seinem Regime etwa als „letzte Rückversicherung“ in einer Situation, wo es mit dem Rücken an der Wand steht, dienen. Zweifelsohne hält das iranische Regime den Erwerb eines Status als Atommacht oder „atomwaffenfähiger Staat“ auch für eine letzte Trumpfkarte, die gegen hypothetische Pläne etwa der USA zu einem militärischen Sturz des Regimes ausgespielt werden könnte. In einer Situation extremer Eskalation, die namentlich durch eine militärische Expedition ausgelöst werden könnte, wäre als Worst-case-Szenario dann auch vorstellbar, dass zumindest Fraktionen des Regimes an ein atomares „Fanal“ als letzte Option denken. So sehr ein militärisches Szenario zum Sturz des Regimes von außen abzulehnen (und zugleich dessen Sturz durch die iranische Bevölkerung selbst zu wünschen! ) ist, so sehr wäre die Vorstellung eines dann ausgelösten nuklearen Show-Down ausschließlich grauenhaft, ohne dass man irgendeine positive Perspektive für die Bewohner der Region von nahe oder fern damit verbinden könnte.
junge Welt: Kritiklos für das „gute Recht“ der iranischen Machthaber
Deswegen ist es auch ein schwerer politischer Fehler, wenn Linke sich – im Namen der angeblichen oder tatsächlichen, äußeren Bedrohung des Iran – mit den nuklearen Ambitionen dessen Regimes gemein machen und diesem eine (wie man früher gesagt hätte) „objektiv antiimperialistische“ Rolle im momentanen politischen Streit um das Atomprogramm zusprechen. Zu den wesentlichen Wortführern einer solchen Position zählt derzeit der ehemalige AK-Autor Knut Mellenthin, der seit mehreren Monaten zum Thema des Atomstreits zwischen dem Iran, den USA und der EU durchschnittlich einen bis zwei Artikel pro Woche in der Tageszeitung junge Welt publiziert. Teilweise handelt es sich dabei um identische Passagen, die Artikel für Artikel reproduziert werden, beispielsweise die permanent und stereotyp wiederkehrende Formel, die den Gegenstand des Streits als „das zivile Atomprogramm Irans“ beschreibt.
Dessen ausschließlich ziviler Charakter wird von Knut Mellenthin fraglos vorausgesetzt, ja dekretiert – als ob man nicht gerade im Umfeld des früheren KB besonders gut gewusst hätte, dass es eine strikte Trennung zwischen „ziviler“ und „militärischer“ Atomtechnologie nicht geben kann. Dass der Iran ferner grundsätzlich Waffentechnologie aller Art erwerbe, tut Mellenthin mit den Worten ab: „Nicht gerade sensationell für ein Land, das akut bedroht und durch die Sanktionen der US-Regierung vom legalen Weltmarkt für Hochtechnologie weitgehend ausgeschlossen ist“ (jW vom 05. 01. 06) So, als ob das iranische Regime ausschließlich mechanisch auf äußere Gefahren reagiere, und keinerlei eigene Ambitionen – etwa als Regionalmacht – verfolge. Ansonsten reproduziert Mellenthin stereotyp die Aussage: „Als Unterzeichner des Vertrags über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (NPT) ist Iran berechtigt, unter Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Uran für zivile Zwecke anzureichern.“ (U. a. jW vom 03. 01. 06) Die USA und die Europäische Union werden durch diesen Autor pauschal als Mächte, die den Iran an der Wahrnehmung dieses guten Rechts hindern wollten, dargestellt; dass die EU jedenfalls eine andere Rolle als die US-Administration spielt und (im Vergleich zu Washington) eher als „Vermittler“ denn als vorwiegender Gegner des Iran auftritt, spielt bei ihm keine Rolle. Diese unterschiedlichen Rollen sind eben keineswegs nur Theater, sondern widerspiegeln einen realen Interessenunterschied, da verschiedene EU-Mächte – allen voran Deutschland und Frankreich – wesentlich bedeutendere Interessen im Iran, unter dem jetzigen Regime, haben. Dass es sich beim iranischen Regime nicht um eine Interessenvertretung der Bevölkerung des Landes handelt, sondern um eine ausgesprochen üble Folterdiktatur, wird ansonsten von Mellenthin mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt.
Noch schlimmer ist freilich, dass die Verteidigung des guten Rechts des iranischen Regimes auf (angeblich „zivile“) Atomtechnologie in den Spalten der jW generell mit einer Verharmlosung der Auslassungen von Präsident Ahmedinejad einhergeht – die man, auch wenn man nicht an die Legende von einem unmittelbar geplanten zweiten Holocaust glaubt, keineswegs als harmlos betrachten darf. Bei Knut Mellenthin tauchen sie lediglich als „leichtfertige Reden“ (jW vom 19. 12. 2005) auf, was weniger eine inhaltliche Verurteilung widerspiegelt als den guten Rat, doch besser sein Zunge im Zaum zu halten. Werner Pirker, der in Wien lebende regelmäßige jW-Kommentator vom neostalinistischen Minderheitsflügel der KPÖ, versteigt sich gar zu der Aussage: „Das iranische Staatsoberhaupt scheint wenig Ahnung von europäischer Geschichte zu haben“ (jW vom 16. 12. 2005) – wenn er ein oder zwei bessere Bücher dazu gelesen haben wird, dann wird er auch bestimmt seine Äußerungen zutiefst bedauern. Im Pirker’schen Schwarz-Weiß-Weltbild, in dem es pauschal gute Staaten (alle, die mit den USA im Konflikt liegen) und ebenso pauschal böse Mächte gibt, wird zwar Holocaustleugnung in der Sache selbst nicht gut geheißen – aber sofern sie von einem der „zu verteidigenden“ Regimes ausgeht, dann muss man zumindest an die guten Absichten dahinter glauben. Deshalb auch lügt Pirker eine Wesensidentität zwischen den Absichten Präsident Ahmedinejads und denen der israelischen sowie palästinensischen Linken herbei: „Es ist seit eh und je die Position des islamischen Regimes in Teheran gewesen, dem zionistischen Staat seine Existenzberechtigung abzusprechen. (… ) Das ist auch die Haltung, wie sie von einem, wenn auch marginalisiertes Spektrum in der israelischen Gesellschaft, sowohl von radikalen Linken als auch von Teilen des ultrareligiösen Lagers, eingenommen wird.“ (jW, 29. 10/ 2005) Das ist glatt gelogen, denn die von Pirker zitierten israelischen Linken streben eine Lösung des Nahostkonflikts in Gestalt einer Koexistenz – in zwei Staaten oder auch in einem binationalen, gemeinsam bewohnten Land – an. Die Doktrin des iranischen Regimes dagegen trachtet nach Errichtung einer islamischen Herrschaft über Palästina. Auch wenn ein solches Vorhaben keinerlei realpolitische Chance hat, so ist die Verbreitung solcher Auffassungen in der Region doch ein negatives Element – neben anderen -, die eine dauerhafte Friedenslösung perspektivisch nicht befördern, sondern behindern.
Schlussfolgerung (Vorschlag)
Die derzeitige Auseinandersetzung um die iranische Politik oder den Diskurs seines Präsidenten dazu zu nutzen, sich unter den Rockzipfel der stärksten westlichen Mächte zu flüchten und diese zum Eingreifen aufzufordern, ist eine falsche Position und widerspiegelt eine Selbstabschaffung linker Politik. Genauso aber reflektiert auch jede Form von Unterstützung für das iranische Regime – das keineswegs die Interessen „seiner“ Bevölkerung repräsentiert, sondern diese blutig unterdrückt – eine Kapitulation linker Ansprüche. Der entscheidende Ansatzpunkt, der aber vorläufig wohl noch theoretisch bleiben muss, läge in Versuchen der iranischen Bevölkerung, dieses Regime selbst zu stürzen und zu zerschlagen. In allernächster Zukunft ist mutmaßlich nicht mit dem schnellen Erfolg solcher Bestrebungen, die in der iranischen Gesellschaft vorhanden sind, zu rechnen. Sie zu befördern und, sobald sie zu Tage treten, nach Kräften zu unterstützen, wäre die einzig sinnvolle Aufgabe linker Politik im Hinblick auf den Iran.
Editorische Anmerkung
Dies ist eine ausführlichere Fassung des Artikels, der in „Analyse und Kritik“ vom 20. Januar 2006 erschien.