Das Grundeinkommen als Richtungsforderung
Streifzüge 33/2005
von Werner Rätz
Dass ein bedingungsloses Grundeinkommen sowohl möglich als auch notwendig sei, behaupten viele. Doch welche Rolle diese Forderung im sozialen Kampf zu spielen hätte, wird weit seltener diskutiert.
Bürgerliche Volkswirtschaft begreift jegliche Ökonomie als Verwaltung des Mangels. Das ist keineswegs reine Ideologie in dem Sinne, dass eigentlich genug da wäre, das man nur verteilen müsste. Selbstverständlich reicht der heute produzierte materielle Reichtum aus, um im Prinzip allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Aber seine Verteilung ist nicht willkürlich, sondern folgt den Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer kapitalistischen Produktionsordnung, also jenen der Kapitalverwertung. Deshalb könnte, selbst die entsprechenden politischen und sozialen Macht- und Mehrheitsverhältnisse vorausgesetzt, diese Verteilung auch nicht willkürlich geändert werden. Wir haben es mit einem Problem der Produktionsverhältnisse, der Art und Weise, wie Gesellschaft hergestellt wird und den Zugang zum allgemeinen Reichtum regelt, zu tun und nicht lediglich damit, wie dieser verteilt wird. Unter den gegebenen Umständen kann Verteilung immer nur so organisiert sein, dass einige zu viel, manche gerade genug und viele zu wenig oder gar nichts haben. Im Kapitalismus ist Reichtum immer nur durch und mit Armut möglich.
Der Fehdehandschuh
Und dennoch ist es eine ideologische Zumutung, mitten in einer Welt des objektiv vorhandenen Überflusses den Subjekten den gnadenlosen Kampf um ein winziges Stück an der Beute als einzige (Über-)Lebensmöglichkeit anzudienen. Die materiellen Grundlagen, die gesellschaftliche Arbeitsteilung und der Stand von Wissenschaft und Produktivität ermöglichen selbstverständlich eine Ökonomie, in der tatsächlich genug für alle da ist. Wer also darauf besteht, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am allgemeinen Reichtum ein Menschenrecht ist, das man sich nicht verdienen muss, das nicht abhängig sein darf von Arbeit oder Wohlverhalten und Anpassung, zielt mitten in den Kern des theoretischen und praktischen Selbstverständnisses der neoliberalen kapitalistischen Gesellschaft. Die Forderung nach einem Existenz sichernden bedingungslosen Grundeinkommen nimmt die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gegner am zentralen Punkt auf und an. Diese Forderung setzt dem Diskurs des Mangels einen Diskurs der Fülle entgegen, dem scheinbaren Zwang den blinden ökonomischen Gesetzen zu folgen, die gesellschaftlich vermittelte freie Entscheidung der Einzelnen, der Markt- und Standortkonkurrenz die gemeinschaftliche Verwaltung der in Gemeinschaft produzierten Güter.
Wer also sagt, es ist genug für alle da und wir wollen das auch haben, einfach so, nur weil wir Menschen sind, der erhebt einen Anspruch auf das in der toten Arbeit angehäufte Wissen vergangener Generationen und sagt, das gehört mir so gut wie denen, die es aktuell besitzen und zur Verwertung ihres Kapitals von lebendiger Arbeit aktivieren lassen. Er stellt damit die Produktionsverhältnisse des Kapitalismus ebenso in Frage wie seine zentrale Verteilungslogik (Reichtum durch und mit Armut). Und zwar ohne das ausdrücklich zu sagen oder auch nur zu wissen oder zu wollen.
Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zielt immer über die bestehende kapitalistische Gesellschaft hinaus. Das soll nicht heißen, dass es keine Modelle eines solchen Einkommens gäbe, die nicht systemimmanent wären. Einige davon sind ausgesprochen neoliberal, und den aktuellen VerfechterInnen der Forderung fällt es oft schwer sich abzugrenzen. Die in der FDP propagierte Vorstellung etwa, sämtliche Sozialtransfers einzustellen und dafür jeder Bürgerin und jedem Bürger einen Betrag von beispielsweise 400 Euro monatlich in die Hand zu drücken und sie damit dann alleine zu lassen, hat mit tatsächlicher Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am Reichtum nichts zu tun. Eine solche Lösung verstärkt im Gegenteil die Marktdynamik und erhöht den Zwang für die Individuen, zum Überleben Erwerbsarbeit ausüben zu müssen. Erst da, wo ein solches Grundeinkommen Existenz sichernd ist, gewinnt es seine emanzipatorische Dynamik. Die Grenze ist allerdings fließend, es lassen sich keine exakten Beträge oder formalen Kriterien angeben. Das ist nicht verwunderlich. Die Ambivalenz des Grundeinkommens entspricht dem, was die Individuen ganz allgemein beim „Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft“ erleben: Dieser kann sowohl bedeuten, dass unter völlig prekarisierten Lebensverhältnissen sogar das „Recht“ auf Ausgebeutetwerden verloren geht, oder aber, dass Wege des Lebens jenseits von Markt und Arbeitsvergesellschaftung gefunden werden.
Vereinbares und Unvereinbares
Doch auch ein Existenz sicherndes Grundeinkommen ist nicht von vornherein mit dem Kapitalismus unvereinbar. Gegenwärtig befinden sich in der Bundesrepublik Deutschland und anderswo mehrere, teilweise exakt durchgerechnete Modelle in der Diskussion, die grundsätzlich umsetzbar wären, ohne die Produktionsverhältnisse ernsthaft zu tangieren. Es wären durchaus politische Situationen denkbar, in denen auch Teile des Herrschaftsapparates ein Interesse daran haben könnten, solche Regelungen umzusetzen. Sie könnten integrierend wirken und eskalierende soziale Konflikte dämpfen. Eine starke gesellschaftliche Mobilisierung vor dem Hintergrund einer deutlichen Systemalternative ist allerdings heute weit und breit nicht sichtbar. Es gibt vielmehr kaum je ernsthafte Abwehrkämpfe gegen weitere asoziale Raubzüge, und wenn doch, so werden sie meist verloren. Deshalb ist es gegenwärtig eine müßige Spekulation, von einer möglichen Stabilisierung des Kapitalismus durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zu reden.
Keineswegs müßig ist dagegen der Hinweis, dass es wenig Grund zur Annahme gibt, dass die ökonomische Entwicklung des Kapitalismus eine solche Befriedungsstrategie je wieder möglich macht. War es für das Einzelkapital schon immer ungewiss, ob seine Verwertung gelingt, so mehren sich inzwischen keineswegs nur für die wertkritischen Teile der Linken die Anzeichen dafür, dass dies zunehmend auch für das Gesamtkapital fragwürdig wird. Der Erkauf von Wohlverhalten durch hohe Sozialtransfers wäre also bestenfalls noch räumlich und auf die Personengruppen bezogen eng umgrenzt denkbar. Eine solche Regelung wäre moralisch kaum zu begründen. Davon abgesehen ist die Perspektive einer Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen eine Frage, die die moralische Dimension weit übersteigt und eine politisch-strategische Qualität hat. Wenn es gelingen würde, eine solche Forderung so zu etablieren, dass sie wirklich alle Menschen auf diesem Globus meint, dann hätten wir eine Position gewonnen, die für die Gegenseite praktisch kaum integrierbar und moralisch unangreifbar wäre. Das ist der Linken nicht mehr gelungen, seit sie die scheinbare Dichotomie zwischen Freiheit und Gerechtigkeit akzeptiert hat.
Die internationalistische Perspektive einer Grundeinkommensforderung ist allerdings nicht nur in moralischer und strategischer Hinsicht notwendig, sondern auch in ökonomischer. Es kann angesichts des real existierenden Weltmarktes keine nationalen Lösungen grundsätzlicher sozialer Probleme mehr geben. Die nationalen Spielräume sind keineswegs gleich null, wie es Regierungen manchmal in leicht durchschaubarer Absicht behaupten. In einer ganzen Reihe von Fragen sind nationale Regelungen durchaus denkbar: Es gibt keine Notwendigkeit, Hartz IV und Arbeitslosengeld II einzuführen, nur weil die Strategie von Lissabon vorschlägt, innerhalb der EU die Arbeitsmärkte zu deregulieren. Aber im Rahmen weltweiter Konkurrenz ist eine irgendwie geartete Deregulierung der Arbeitsmärkte tatsächlich unvermeidlich. Die Grenze zwischen Prekarisierung und sozialer Sicherung bleibt umstritten, wird aber im globalen Kapitalismus nicht zufällig, sondern systematisch in Richtung Prekarität verschoben. In dieses Kräfteverhältnis greift selbstverständlich auch jeder isolierte Kampf ein. Halbwegs dauerhafte Lösungen können aber nur noch auf jener Ebene erkämpft werden, auf der die Probleme begründet liegen, also gegen den globalen Kapitalismus.
Gewerkschaft gegen Grundeinkommen
Deshalb sind auch alle Versuche illusionär, mit Mitteln und Zielen der alten Arbeiterbewegung neue Kraft zu gewinnen. Ihr Erfolg in den kapitalistischen Sozialstaaten bestand in der Vergangenheit ja darin, dass sie einen gewissen Anteil am Mehrwert erkämpft (teilweise über staatliche Umverteilung organisiert) und dafür mehr oder weniger weitgehenden Verzicht auf grundsätzliche Opposition geübt hat. Das konnte aus Sicht der unmittelbar Betroffenen sinnvoll erscheinen, hatten sie doch materiell greifbare Ergebnisse in der Hand. Und auch für die Kapitalseite rechnete sich das, weil die Steigerung der Produktivität reibungsloser vonstatten ging. Dieser Handel ist heute nicht mehr möglich. Er scheitert an der Tatsache, dass eine solche Lösung heute kaum noch regional begrenzbar wäre, international aber für das Kapital nicht bezahlbar ist. Und zwar vor allem deshalb nicht, weil es die Verwertungsschwierigkeiten im globalen Maßstab nicht überwinden kann.
Es ist daher genau diese politische Strömung, die klassische Arbeiterbewegung in all ihren Facetten, die sich mit der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen am schwersten tut. Dabei gibt es aus ihren Reihen einige durchaus bedenkenswerte Einwände, wenn man das Grundeinkommen als eine realpolitische, augenblicklich zu verwirklichende Forderung betrachtet. Sollte heute tatsächlich ein Grundeinkommen eingeführt werden, so müsste man allerdings wirklich darauf achten, dass es nicht als reine Niedriglohnsubvention wirkt. Gewerkschaften weisen zu Recht darauf hin, dass ohne den organisierten Druck das Niveau der erreichten Sicherung nicht gehalten werden kann. Der soziale Druck gegen einen Staat, der ein Grundeinkommen gewährt, würde ja genau durch ein solches abgebaut. Sie vergessen allerdings darauf hinzuweisen, dass sie auch die tarifliche Mindestsicherung schon längst nicht mehr aufrechterhalten können. Richtig ist der Hinweis, dass man leicht in die Situation kommen könnte, vorhandene, nicht zufrieden stellende Reglungen zwar aufzugeben, dafür aber keine besseren, sondern schlechtere zu bekommen. Wird etwa vorgeschlagen, ein Grundeinkommen aus einer zweckgebundenen Steuer zu finanzieren und dafür die Arbeitgeberbeiträge aufzugeben, so könnte man das Letztere durchaus durchsetzen, auf Ersteres aber unter Umständen lange warten. Wer eine Umsetzungsstrategie für ein bedingungsloses Grundeinkommen entwerfen will, muss sich mit solchen Einwänden beschäftigen.
Nun ist das nicht so sehr mein Interesse. Ich habe vielmehr schon gesagt, dass es mir bei der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen um die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Kern des Neoliberalismus geht. Und genau dort befindet sich auch der Kern der Abneigung traditioneller Arbeiterbewegung gegen das bedingungslose Grundeinkommen. Denn hier geht es um die Arbeitsvergesellschaftung: „Dann würde ja niemand mehr arbeiten“, ist der allgemeine Einwand. Das meint, durchaus spontan, was auch WertkritikerInnen „Arbeit“ nennen würden, nämlich Produktion von Gütern im Kapitalismus, Umformung von vorhandenem und Schaffung von neuem Wert durch Verausgabung von Arbeitskraft. Deren Abschaffung oder auch nur Infragestellung ist für viele eine Schreckensvorstellung. Dabei haben manche wirklich „nur“ das Problem darauf beharren zu wollen, dass jede Gesellschaft die Produktion und Reproduktion des allgemeinen Reichtums organisieren muss. Die kann man allerdings leicht beruhigen: Ja, das muss man. Davon abgesehen ist ihnen oft ganz leicht zu vermitteln, dass Menschen, die nicht durch Armut, Repression und Elend gezwungen werden, tagein tagaus einer stumpfsinnigen oder gehassten Tätigkeit nachzugehen, wahrscheinlich produktiver, kreativer und aktiver sein würden. Schon lange vor dem Ende des Kapitalismus würde ein Existenz sicherndes bedingungsloses Grundeinkommen den Charakter der Arbeit in ihrem alltäglichen Vollzug verändern. Wenn ich mich nicht mehr für jeden Scheißjob verkaufen muss, weil ich auch anders leben kann, dann mache ich auch nicht mehr jeden Scheißjob. Bezahlung, Arbeitsbedingungen, Arbeitsorganisation – all das würde sich verändern.
Schwieriger ist die Auseinandersetzung mit den Apologeten der Arbeit als Arbeit. Da wird betont, dass das Lohnarbeitsverhältnis im Kapitalismus zentral ist und bleibt (was stimmt), dass deshalb auch soziale Sicherheit daraus abzuleiten ist (was zu beweisen wäre) und dass die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein Bruch mit diesem Prinzip wäre (was auch stimmt). Genau hier liegt dann die Differenz: Was die einen festhalten wollen, wollen die anderen überwinden.
Der Weg durch die Prekarität
Das ist nicht etwa eine willkürliche Entscheidung oder eine Frage des politischen Geschmacks, sondern eine Notwendigkeit. Selbst wenn wir gegen jede Einsicht unterstellen würden, der Kapitalismus gewänne globale Verteilungsspielräume, wie er sie in der fordistischen Phase in den Kernländern hatte, könnten wir den herkömmlichen Sozialstaat nicht mehr wollen. Damit es keine Missverständnisse gibt: Jede einzelne, noch so kleine sozialstaatliche Sicherheit ist es erst einmal wert, festgehalten zu werden. Ich plädiere nicht dafür, einfach all das herzugeben, an dessen Stelle uns auch noch etwas Besseres einfallen könnte. Aber der Sozialstaat war ein Staat des organisierten Ausschlusses all derer, die sich nicht unmittelbar dem Arbeitsregime unterwarfen. Es hat nicht zufällig und nicht nur kurzzeitig, sondern weltweit und von Anfang an Revolten und Kämpfe gegen ihn gegeben. Viele haben freiwillig die Prekarität aufgesucht und damit indirekt dem Aufstieg des Neoliberalismus genützt, manche sind offen zu ihm übergegangen, als sie die eigenen Träume davonschwimmen sahen. Hinter diese linke Kritik am Sozialstaat sollten wir nicht nur nicht mehr zurück, es gibt auch keinen Weg mehr dahin. Eine neue, emanzipatorische Gesellschaft wird ihren Weg durch die Prekarität der heutigen Lebensverhältnisse hindurch finden müssen. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen zeigt in diese Richtung. Sie ermöglicht es, auf diesem Weg allerlei Gefährten zu treffen und ein Stück mitzunehmen. Sie hilft auch dazu konkrete Schritte angeben zu können, was hier und jetzt vielleicht schon sinnvoll verwirklicht werden könnte.
Damit ist sie nicht nur eine Richtungsforderung, die vom Heute in das Jenseits des Kapitalismus verweist, ohne dass antikapitalistische Gesinnung zur Bedingung der Zusammenarbeit erhoben würde. Sie identifiziert auch Inhalte und Objekte möglicher Kämpfe. Wenn Joachim Hirsch und andere vorschlagen, ein Grundeinkommen wesentlich als kostenlose öffentliche Infrastruktur zu denken, von Wohnung über Transport bis hin zu Gesundheitswesen und Bildung, dann geben sie damit eine Vielzahl von Bereichen möglicher gesellschaftlicher Auseinandersetzung an. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen führt so aus der hilflosen Fixierung auf den Appell an den Staat heraus und eröffnet Perspektiven auf Kämpfe um unmittelbare Aneignung, ohne dabei den Staat völlig aus der Verantwortung zu entlassen.