Trottelvokabular

Über den Reformstau und sonstige Unbegriffe

von Franz Schandl

Worte haben es in sich, besonders dann, wenn sie als Begriffe erscheinen. Der Terminus „Reformstau“ hat nun mehr als zehn Jahre auf dem Buckel, aber er erfreut sich nach wie vor allseitiger Beliebtheit. Zwar schaffte er es schon zum Unwort des Jahres 1997, aber das ist kein Grund, dass er uns nicht weiter begleitet, es ist vielmehr der Grund, dass er uns erhalten bleibt. Man denke nur an die Hartnäckigkeit anderer Dummwörter wie „Zivilgesellschaft“, „Nachhaltigkeit“ oder gar „Humankapital“. Aber auch „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ sagen wir bereits über hundert Jahre, obwohl wir doch mit Friedrich Engels (Vorwort zum „Kapital“ 1883) wissen sollten, dass das Unsinn ist. Wenn schon, dann umgekehrt! Aber das wurde nie zur Kenntnis genommen.

Reform ist positiv besetzt, Stau negativ. Den Stau gilt es also aufzulösen mit Hilfe der Reformen. So denkt das einfache Gemüt, und denkt gar nicht, dass es vielleicht falsch denkt. Wie sollte es auch so was denken: Dass gerade die Reformen das Problem sind oder die Probleme noch potenzieren, das will in die Reformbirne nicht rein. Da staut es sich tatsächlich. Es staut sich eben nicht nur zu den Reformen hin, es staut sich noch mehr von den Reformen her. Reformen stauen sich zum Reformstau. Sie halten den gesellschaftlichen Anforderungen nicht stand. Kein Reformschub und kein Reformtempo wird den Reformstau überwinden, im Gegenteil, sie werden ihn zuspitzen. Grausamer als die Konstatierung des Reformstaus ist nur noch dessen versuchte Beseitigung mit immanenten Mitteln. In diesen Zeiten leben wir. Wo zu viel Reform ist, kommt Hartz raus.

Trommeln die Schröder und Stoiber, die Merkel und Fischer gegen diesen oder jenen Reformstau, ist deren Absicht doch offensichtlich. Auch wenn die Neue Zürcher sich über die „Hochkonjunktur von Initiativen gegen den Reformstau“ in Deutschland freut. Dort, wo sie applaudierend einen „Bürgerwillen“ am Werk sieht, wäre genau diese Willigkeit der Bürger zu diskreditieren. Beklagt hingegen die gesellschaftliche Opposition etwa einen Reformstau in der Sozialpolitik, so demonstriert sie bloß, dass sie beim Ranking der leeren Schwätzereien mitspielen will und sich für die Trottelolympiade qualifizieren möchte. Das kann doch nicht Ziel sein! Warum ist es dann ständig Aufgabe?

Besonders gefährlich sind Ausdrücke, die sowohl von der Herrschaft als auch von der Herrschaftskritik allseitig angewendet und beliebig gebraucht werden, sozusagen common sense sind. Solche Flexi-Wörter taugen als Begriffe zwar nichts, aber sie erfüllen als Schlagworte sehr wohl ihren Zweck. Wie sagte doch der gute alte Günther Anders: „Schlagwörter sind Wörter der Schlagenden zum Gebrauch für die Geschlagenen“. Sie sagen schon was aus, aber nicht das, was sie vordergründig versprechen, sondern das, was sie hinterhältig leisten. Sie verweisen nicht auf Reflexion, sondern auf einen Reflex, auf das Piepsen der Wiederkäuer.

Über Vokabular und Jargon verbreitet die herrschende Sprache durch die Beherrschten herrschenden Unsinn. Wer diese Sprache spricht, hat schon verloren. Sie ist Modus des faktisch Vorgegebenen, nicht der praktischen Kritik. Emanzipation muss Sprache quer bürsten, sonst verunglückt sie an ihr. Für die meisten Zeitgenossen gilt nicht: Ich spreche, sondern Es redet! Ideell geht es daher darum, diese Beherrschung, die ja auch eine Selbstbeherrschung ist, zu verlieren. Und ganz banal: Man sollte denken, wenn man spricht und schreibt. Wirklich.

Aus: Junge Welt, 27. Jänner 2005

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