Elend und Geschäft im virtuellen Zeitalter
von Franz Schandl
Wenn sich Katastrophen häufen, erscheinen sie zusehends als Normalität. Je mehr es gibt, desto weniger werden sie also solche wahrgenommen. Zweifellos, wenn es in diesem Tempo der Erdbeben, Flutwellen, Überschwemmungen und sonstigen Elementarereignisse weitergeht, dann dürfte bald der Punkt kommen, wo die Aufmerksamkeit gegen Null tendiert. Die Dramatik geht verloren. Katastrophenmüdigkeit zeichnet sich ab. Wenn der Katastrophen zu viele, gibt es keine Katastrophen mehr. Ab einem gewissen Grad kippt die Stimmung in Apathie. Ist halt so. Was kannst du machen? Wenn sich das Außergewöhnliche häuft, wird es gewöhnlich. Die Leute gewöhnen sich daran, empfinden gar manche Zumutung als Selbstverständlichkeit, ja machen sich allzu oft zu deren eifrigen Verfechtern.
Da nur ist, was in den Medien ist, haben lediglich jene Katastrophen stattgefunden, die kulturindustriell verwertbar sind. Über ihren spezifischen Marktwert entscheiden Marketing und Management. Katastrophen werden gehandelt wie Skandale. Können sie aufregen und die Quoten und Absätze steigern, sind sie auf Sendung und im Blatt; ist dies nicht gegeben, hat es sie nicht gegeben oder eben bloß kurz. Auch Spenden und Hilfsbereitschaft richten sich primär nach diesen Kriterien. Betroffenheit ist keine natürliche Größe, sondern ein Aspekt der Inszenierung. Sie wird exogen evoziert, nicht einfach unmittelbar gespürt. Der emotionale Analphabetismus ist allerorten wahrnehmbar. Wir leben auch im Zeitalter der mentalen Katastrophen.
Die aktuelle Jahreshitparade der Empathie haben sicher die Tsunami-Opfer gewonnen, vor allem deshalb, weil an den Stränden in Südostasien viele Touris hausten, Bürger also, die der westlichen Hemisphäre (und dabei nicht deren ärmsten) angehören. Die rassistische Differenz ist grundlegend. Da kommen pakistanische Erdbeben oder Dammbrüche in New Orleans nicht mit. Pakistan hat da wenig zu bieten. Fremdenverkehr gibt es dort kaum und Präsident Musharraf, obwohl aktuell ein Bündnispartner im Kampf gegen Terror und Schurken, könnte unter anderen Umständen auch ein Bin Laden mit Atombombe sein. Die, denen ebenfalls zu misstrauen wäre, misstrauen ihm zu Recht. Die Folgen solcher Konstellation erleiden zweifellos immer die Schwächsten. Decken gibt es für Frierende nicht wegen der Kälte, sondern aufgrund des auf Bild und Bildschirmen erzeugten Mitgefühls. Ein ordentliches Elend hat geschäftstüchtig zu sein, ansonsten kann es in sich selbst versinken.
Auch die Ereignisse in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina haben sehr zurückhaltende Reaktionen gezeitigt, nicht bloß bei George Bush und seiner Administration, sondern weltweit. Arme, Kranke, Autolose, Schwarze, das ist medial kein besonders lukratives Aufgebot. Eine Spendenwelle rollt nur an, wenn ihr eine Sympathiewelle zur Seite steht. Ist das nicht der Fall, sind die Opfer Abfall, eine abschreibbare Größe: „Es wurde bereits entschieden, diese Menschen nicht zu retten. Wenn das in einer Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten passieren kann, dann werden solche Entscheidungen bei den großen Katastrophen der Zukunft auf geradezu apokalyptische Weise zunehmen – noch zu Lebzeiten unserer Kinder“, sagt der Soziologe Mike Davis im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.
Gegen solchen unerträglichen Alarmismus werden ganze Divisionen von Wissenschaftern aufgeboten, etwa von der Sorte des Ex-Greenpeace-Aktivisten Bjorn Lømborg. In „Apokalypse no! “ wird in apologetischer Manier der statistisch unwiderlegbare Beweis geführt, dass alles unentwegt besser wird. Die deutsche Übersetzung seines Buchs konnte wohl nur deswegen nicht reüssieren, weil es blöderweise zu dem Zeitpunkt erschienen ist, wo in Deutschland und Österreich Donau und Elbe samt ihren Zuflüssen das Land überfluteten.