Zur Verdauung der großen Koalition
von Franz Schandl
„Das Programm der großen Koalition mutet an wie eine Bestrafungsaktion für die bösen Bürger“, schreibt Hannes Koch in der TAZ vom 11. November. Indes, das ist keine Bestrafungsaktion, das ist die Rechnung, die ein System seinen Bürgern ganz korrekt präsentiert. Was hat man sich erwartet? Zweifellos halten Merkel und Müntefering, Stoiber und Platzeck ihre Bürger auch nicht für böse, sondern vielmehr für blöd. Und das Dumme ist, dass sie mit dieser Einschätzung nicht unbedingt daneben liegen. So gibt es tatsächlich noch welche, die sich wirklich darüber aufregen können, dass SPD und CDU ihre Wahlversprechen brechen. Nichts anderes ist Politik.
Natürlich ist es von Übel, was da jetzt an sozialen Einschnitten ansteht, und es wäre auch Unsinn zu sagen, die Leute haben nichts Besseres verdient. Sie haben allemal was Besseres verdient! Aber als Stimmbürger haben sie in nicht unbeträchtlichem Maße dazu beigetragen, was ihnen jetzt blüht. Die Leute sind nicht nur Opfer der Politik, sie sind auch Täter ihres Daseins. Was ihnen angetan wird, tun sie gern den anderen an ohne zu kapieren, dass in den meisten Fällen sie selbst die anderen sind. Die Bevölkerung ist – so scheint es – bereit ihre Opfer zu bringen, sich selbst wie andere. Leidensfähigkeit ist des Deutschen Pflicht. Deutschland gleicht einem Passionsspiel in Permanenz. Nur ist es kein Spiel. Zur Zeit regt man sich zwar auf, aber schon bald regt man sich ab. So werden sie sich also auch schröpfen lassen. In einer Elendsgeduld.
Seien wir sicher: Aktuelle Zumutungen sind nicht da, um vor zukünftigen Zumutungen zu schützen, sondern um auf diese vorzubereiten. In den letzten Jahren wurde nichts anderes getan als die Dosis zu steigern. Diese Entwicklung dürfte sich noch verschärfen und allen Versprechungen zum Trotz an Dynamik gewinnen. Vor allem die breite Mehrheit im Bundestag wird es dieser Kahlschlagsfront erlauben, eine Unmöglichkeit nach der anderen durchzusetzen. Wer vier Milliarden Euro beim Arbeitslosengeld II einsparen will, demonstriert, wohin die Reise geht. Und wenn man dann auch noch darangeht die Lohnnebenkosten radikal abzusenken, steht den Arbeitslosen wohl die Armenausspeisung bevor.
Reform ist heute nur noch als Konterreform zu haben und meint Raubbau, sozial wie ökologisch. Es sollte übrigens auch nicht erstaunen, wie gut Freund die Größen von SPD und CDU/CSU auf einmal sind. Da war nichts anderes zu erwarten. Das sind Varianten einer Gesamtpolitik, wo jeder mit jedem kann, weil faktisch wenig trennt. Darüber soll das mediale Getöse um Mehrwert- und Reichensteuer nicht hinwegtäuschen. Je rigoroser die neue Regierung vorgeht, desto mehr Sympathien wird sie bei der Journaille heischen können. Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit werden medial als Entschlossenheit abgefeiert, während Zurückhaltung oder gar dezidierte Rücksichtnahme als Sozialromantik oder gar noch schlimmer als ein Nachgeben gegenüber populistischen Tendenzen denunziert werden.
Nach Abschluss der Berliner Koalitionsverhandlungen schlagzeilte die amtliche Wiener Zeitung: „Große Koalition in Berlin ist perfekt.“ So viel Perfektion war noch nie. Doch ihre Grundlage ist der schiere Glauben: Mut predigen die Hasardeure, um Vertrauen werben die Unzumutbaren. „Sanieren, reformieren, investieren“ wird sich als banales Liquidieren erweisen. Als fortschreitende Elendsverwaltung.