Wo bitte geht’s hier raus?

Produktivkraftentwicklung und Kultur

Streifzüge 31/2004
von Lorenz Glatz

Dieser Text geht auf den ersten Teil meines Referats in einem Workshop auf der Oekonux-Konferenz „Reichtum durch Copyleft“ in Wien im Mai 2004 zurück. Er wurde aufgrund der Diskussion und weiterer Überlegung stark umgearbeitet. Der zweite Teil handelt von „Wissen und Wert“ und wird in der nächsten Nummer erscheinen.

Streifzüge 31/2004

Im Marxismus gilt die aktive menschliche Gestaltung des „Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur“ als der zentrale Punkt für das Geschichtsverständnis. Stefan Meretz spricht darauf aufbauend von einem Dreiecksverhältnis Mensch-Mittel-Natur, aus dem die „Produktivkraftentwicklung der Arbeit“ entspringe (z. B. in „Produktivkraftentwicklung und Aufhebung“ in Streifzüge 2/2001; online: www.streifzuege.org/str_01-2_meretz_keimformhypthese.html). Dieses Verhältnis ist, was Ebene und Reichweite der Elemente angeht, ein wenig wie das Verhältnis Frucht-Stengel-Baum. Denn der Mensch kann sich, da er selbst das Ergebnis natürlicher Entwicklung ist, der Natur nicht entziehen. Er kann nur als Teil von ihr existieren, von ihrer lebendigen Fruchtbarkeit und ihren leblosen Stoffen leben. Die menschliche Gesellschaft folgt zwar einer spezifischen Eigenlogik, diese bleibt aber an natürliche Grundlagen gebunden. Umgekehrt (und hier beginne ich mein Baumexempel zu verlassen) stimmt das jedoch nicht: Natur ohne menschliche Gesellschaft ist gewissermaßen der Normalfall, und die Menschheit tut seit längerer Zeit einiges, um diesen wieder herzustellen.

Die Gestaltung des Stoffwechsels mit der Natur durch menschliche Aktivität, funktioniert auf Dauer nämlich nicht einfach als Produktion im Sinne einer aktiven Herstellung aus passiv gedachtem Stoff, sondern ein solcher Stoffwechsel braucht gelingende Kultur, im Wortsinn also pfleglichen Umgang mit einer Mitwelt, der ein sorgsames Achten auf große Zusammenhänge und Abhängigkeiten nötig hat (und in diesem Sinn möchte ich das Wort im weiteren verwenden). Andernfalls wird diese Mitwelt im bloß produktiven Akt geschädigt, was über kurz oder lang auch auf eine Selbstschädigung der Gesellschaft hinausläuft.

Soll dieser Stoffwechsel haltbar, nachhaltig sein, muss beachtet werden, dass die Elemente des produktiven Dreiecks auf verschiedenen Ebenen liegen und auch ihre Reichweite höchst verschieden ist. Einseitiges Forcieren der Mittel z. B. oder des menschlichen Bedarfs führt sonst weniger zu einer Höherentwicklung der Produktivkraft als vielmehr zu einer Störung des Gesamtzusammenhangs.

Allerdings meint Kultur im allgemeinen Sprachgebrauch zu Recht keineswegs nur den Stoffwechsel mit der Natur, sondern ganz wesentlich auch den mehr oder weniger Befriedigung oder Not, Glück oder Leid stiftenden geselligen Umgang der Menschen untereinander, sowohl den spontanen wie auch seine institutionelle Seite. Nur insofern der Umgang des Menschen mit der Natur und mit anderen Menschen Gegenstand von Kommunikation und Reflexion sowie von bewussten Lernprozessen wurde, ist es sinnvoll den Menschen vom Tierreich zu scheiden und von Gesellschaft und Kultur zu sprechen. Stoffwechsel mit der umgebenden Natur ist Eigenheit allen Lebens, nur seine kulturelle Gestaltung ist menschlich, wobei die auf den sozialen Umgang bezogenen Tätigkeiten seit alters her den größeren Teil der Aktivitäten ausmachen und Produktion vor dem Kapitalismus stets in diese eingebettet war. Produktivkraftentwicklung als das Primäre und Bestimmende der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft anzusehen (wie es Stefan Meretz a. a. O. tut) projiziert m. E. die kapitalistische Fixierung auf Produktion auf die ganze Menschheitsgeschichte zurück. Ähnliches gilt dann auch für seine Sichtweise, in der die Vergesellschaftungsform als Formseite der Produktivkraftentwicklung als Inhaltsseite gegenübergestellt und von daher eine Betrachtung und Periodisierung der Geschichte als Fortschritt der Produktivkraftentwicklung versucht wird.

Auch Reichtum lässt sich wohl sinnvoller im Zusammenhang gelingender Kultur im angedeuteten Sinn verstehen, als wenn ihn eins primär im Zusammenhang gesellschaftlicher Produktivkraftentwicklung der Arbeit betrachtet. Auf jene Weise steht er eher im Kontext mit dem, worauf es m. E. ankommt, mit dem Projekt eines guten Lebens der Menschen in der Gesellschaft nämlich, das nun einmal auch für das Individuum am pfleglichen Umgang in der Gesellschaft und dieser mit der Natur hängt. Erst in der Kommunikation und Auseinandersetzung darüber, was ein gutes Leben ist, lassen sich, so meine ich, sinnvoll Kriterien von Reichtum und Armut, von gesellschaftlichem Fortschritt und gesellschaftlicher Fehlentwicklung gewinnen, Kriterien, denen auch die Produktivkraftentwicklung der Arbeit zu unterziehen ist.

Destruktivität des Kapitalismus

Auch im Umkreis der Diskussionen von Oekonux (auf www.oekonux.de) taucht öfters die seit der Aufklärung weit verbreitete Vorstellung auf, es sei letztlich die Produktivkraftentwicklung der Arbeit gewesen, die den Feudalismus überwunden und den Grund für die neue Vergesellschaftungsform des Kapitalismus gelegt habe. Um ein wenig Skepsis gegen dieses Konzept von Geschichte zu schüren, folgt hier meine kleine Skizze der Stellung des Kapitalismus in der Geschichte.

Er ist die Vergesellschaftungsform, in der die sozialen Beziehungen aus persönlichen zu sachlichen Verhältnissen gemacht, durch Kaufen und (sich) Verkaufen, durch Warenbeziehungen, kurz durch Wert bestimmt werden. Der Kapitalismus ist seiner Natur nach keineswegs eine Höherentwicklung von Kultur im genannten Sinne, sondern ist vielmehr in erster Linie eine spezifische Störung der Beziehungen unter den Menschen und zwischen den Menschen und der Natur. 1 Seine Entstehung ist nicht das Ergebnis eines historischen Fortschritts in der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft und entsprechender Beziehungen zwischen den Menschen. Sein Ursprung und sein Sieg entspringt vielmehr der Entwicklung einer großen Destruktivkraft: der Feuerwaffe. Er ist als Feuerwaffenökonomie der frühneuzeitlichen Militärmonarchien über die Welt gekommen, als gesellschaftliche Startrampe für die Kanonen- und Musketenrüstung und für den aufwändigen Schutz vor ihr. 2 Er setzt eine Gesetzmäßigkeit in Gang, die schließlich erstmals in der menschlichen Geschichte alle gesellschaftlichen Beziehungen3 und schließlich auch das Denken und Fühlen jedes einzelnen Menschen nach den Erfordernissen des Herzstücks dieser Gesellschaftsformation, nach der Ökonomie, auszurichten trachtet.

Die Aufblähung der Waren- und Geldwirtschaft aus einem eng umgrenzten Randphänomen zur herrschenden Form gesellschaftlicher Ordnung überhaupt war keineswegs eine Antwort auf eine vorgängige Entwicklung der Produktivkraft. Schon gar nicht war das ein Sieg aufsteigender bürgerlicher Kräfte im Klassenkampf gegen die Feudalherren. Die umfassende Realisierung des Spruchs, dass Geld die Welt regiert, war vielmehr selber das Werk durchlauchtigster Herren, die in Trial and Error erkannten, dass zum Zwecke kriegerischer Selbstbehauptung und Expansion nicht mehr die herkömmlichen Feudalbeziehungen, sondern die Geldform sozialer Verhältnisse am besten taugten. Mit dieser nämlich konnten am ehesten die Kräfte der Gesellschaft dafür mobilisiert werden, die Heere rund um die neuen Vernichtungstechnologien zu reorganisieren, zu vergrößern und auszurüsten, Ländereien zu erweitern und mit Fortifikation vor den gleichgearteten Absichten der Konkurrenten zu schützen.

Es ist ein Irrglaube, dass die Stadtmauern das Frühbeet der neuen Gesellschaft schützten, vielmehr gehörte das Ende der städtischen Autonomie im fürstlichen Absolutismus zu den Voraussetzungen des Wucherns der neuen Giftpflanze.

Die Förderung der Produktion durch den „Principe“ hatte den Genuss von mehr und/oder besseren Produkten durch die hohen Herrschaften genauso wenig zum Ziel, wie es später im goldenen Zeitalter des Fordismus darum gehen sollte, das Leben der arbeitenden Massen zu verbessern. Von allem Anfang an sollte die später so genannte Wirtschaft durch Zentralisierung, ursprünglich oft (staatliche) Monopolisierung der Herstellung und durch die Ausrichtung auf wachsenden Verkauf und Kauf die Abschöpfung von Geld(steuern) aus Marktproduktion ermöglichen. Damit konnte am effektivsten die Sicherung und Ausdehnung der Herrschaft mittels militärischer Destruktions- und Widerstandsfähigkeit finanziert werden.

Diese Entstehung des Kapitalismus aus der Logik des Kanonen- und Festungsbaus hat die moderne Gesellschaft nachhaltig geprägt und tut es weiterhin. Allerdings wird dieser allgegenwärtige Urbestand modernen Lebens einerseits umfassend beschönigt und anderseits auch davon überdeckt, dass sich die ursprünglich auf den persönlichen Herrschaftszweck der Fürsten ausgerichtete Geldvermehrung zu einem umfassenden versachlichten Selbstzweck der kapitalistischen Wirtschaft ausgewachsen hat. So standen in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vier Fünftel der gesamten naturwissenschaftlichen und technischen Forschung im Dienst des Militärs. 4 Es ist nicht anzunehmen, dass das heute viel anders ist. Zivile Hi-Tech-Produktion ist fast regelmäßig ein Nebenprodukt von Kriegstechnologie. Auch Internet, Computer, Softwareentwicklung verdanken ihren Ursprung den Erfordernissen des Rüstungswettlaufs und auch heutzutage steht die militärisch inspirierte an der Spitze der Entwicklungsarbeit in der I & C-Branche. Die allerorts zu Tage tretende Destruktivität kapitalistischen Wirtschaftens trägt seit Anbeginn das Kainsmal eines Instruments, das der staatlichen Gewaltmaschine die nötigen Mittel ihres Unterhalts verschaffen sollte.

Das „Untertan-Machen“ der Erde und anderer Menschen machte mit dem Kapitalismus einen qualitativen Sprung. Es entstand ein Projekt absoluter Herrschaft über Mensch und Natur, ein Projekt der Unterwerfung unter das sachliche Prinzip der schrankenlosen Geldvermehrung, ein Projekt der Neuschöpfung, mindestens aber der Umformung aller Potenzen von Mensch und Natur nach den Erfordernissen dieses Prinzips. Die Herrschaft der Verwertung über die Menschen sollte sich schließlich als Demokratie zur Selbstbeherrschung des Warenmenschen mausern und sich sozusagen in ihrer Selbstverwirklichung unsichtbar machen. Das Mord- und Selbstmord-Monster mit dem Namen „Beherrschung der Natur“ ist bis heute unter dieser Bezeichnung im allgemeinen positiv besetzt.

Kapitalismus als Gegenteil von Kultur

Insofern Kapitalismus von seinem Ursprung her mehr mit Tod als mit Leben zu tun hat, lässt sich in ihm leichter als Zombie funktionieren denn als Mensch leben. Im Grunde existiert er in einer vom Leben abgespaltenen Sphäre. Das „Nichts“ der „Unendlichen Geschichte“, das sich immer weiter frisst, ist ein adäquates literarisches Bild für sein Verhältnis zum Leben.

Zugleich hat dieses dynamische Nichts, nämlich das Zwangsmotiv Geldbeschaffung für wachsende Teile der gesellschaftlichen Produktion und die Entleerung des Genusses zum Konsum als einer bloßen Vorbedingung des Geldmachens aus der mehrschichtigen und ungleichgewichtigen Beziehung zwischen Natur, Mittel und Mensch ein ebenes, planifiziertes produktives Dreieck gemacht. In dieser Beziehung sind nicht mehr Menschen (auch die herrschenden nicht) der Zweck und die Natur nicht mehr die alles tragende Vorbedingung und Mitwelt, sondern das Ganze und alle seine Teile, Mensch-Mittel-Natur, dienen der Vermehrung von Geld. Kultur hat in dieser Ordnung grundsätzlich keinen Platz. Dem neuen Zweck gegenüber scheinen die Dinge der konkreten Welt nur mehr insofern auf, als sie für diesen Zweck sachdienlich sind, für das heute allen bekannte und von allen gemeinhin akzeptierte Prinzip also, dass investiertes Geld mittels Arbeit vermehrt und wieder in Geld umgesetzt werden muss (und dass das Nicht-Gelingen dieses Prozesses eine gesellschaftliche Katastrophe ist).

Die Verlagerung des „bestimmenden Moments“ der Produktivkraftentwicklung (Meretz) von der Natur auf die Mittel, deren Entwicklung zu Maschinen nämlich, ist von dieser Abstraktion geprägt. Die Maschine wurde nicht entwickelt zur Erleichterung menschlicher Mühe und nicht zum adäquateren Umgang mit der Natur. Das Prinzip der Maschine ist der leere Komparativ, ein Schneller und ein Mehr, dessen Kriterium ein Abstraktum, ein Mehr an Geld, ist. Die Entwicklung der Maschinen als neues bestimmendes Moment der Produktivkraftentwicklung ist im historischen Kontext nicht die Voraussetzung, sondern die Folge der sachlichen Herrschaft der Verwertung.

Die Natur (und der in den Schatten natürlicher Abgeschiedenheit gedrängte Bereich der familiären Reproduktion) wird als passives Rohstofflager imaginiert, eventuell als Terra Incognita, die darauf wartet entdeckt und ausgebeutet zu werden, als ein bloßes Reservoir von Material zur Verwertung, und auch als ein Arbeitsgegenstand, gleich welcher Arbeit, wenn sie nur zu mehr Wert führt. Natur ist potentieller Absatz und wird als so unerschöpflich halluziniert, wie Geld unendlich aufgehäuft werden kann. Selbst da, wo die Grenzen des Malträtments handgreiflich werden, wo der Rohstoff zu versiegen droht, das Klima kippt, Wasser, Luft und Boden vergifet, die ganze Region verstrahlt ist usw. , hat Wirtschaft kein eigentliches Sensorium dafür. Grundsätzlich gilt: Umweltschutz schadet der Wirtschaft, wie es George Bush so treffend formuliert hat.

Das dritte Element, der Mensch, zählt einerseits als Bediener vor und hinter der Maschine, als ihr Arbeiter und Konstrukteur und als leibhaftiges Kapital, Planer und Vollstrecker ihres Zwecks. Und er zählt als Konsument auch des Produkts (nicht als Genießer).

Geplant, konstruiert, erzeugt wird, was mit Gewinn verkaufbar ist, und konsumiert wird, was eins kaufen kann – Marketing wird zur Prosumationswissenschaft sui generis, die vermitteln soll, dass Mensch das konsumieren will, was vom Maschinendenken her am besten zu produzieren ist, dessen Produktion am günstigsten verwertbar ist.

Das logische Ziel dieser Art von Produktivkraftentwicklung ist eine Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, in der soweit möglich die Aufgaben des Funktionärs, Planers, Konstrukteurs, Arbeiters und Konsumenten des Verwertungszusammenhangs von jeder Ich-AG persönlich, selbstbeherrscht, sich selbst verwertend wahrgenommen wird; nicht mehr als Fluch (das wäre in Zeiten der Arbeitsplatzsicherung ein Sakrileg), auch nicht als Pflicht, sondern als Spaß bei der Entfaltung seines Waren-Ichs, nicht mehr aufgeteilt in Arbeitszeit und Freigang, sondern schlicht in dem, was dann noch Leben heißt. Ein solcher Mensch ist dann endlich reif, ein neues bestimmendes Element der Produktivkraftentwicklung zu werden. Als Herr seiner selbst und der Wüste, die sein Reichtum am Ende hinterlässt, der kein Maß mehr hat in dem, was einem Menschen gut tut, wovon er auch gar nichts mehr wüsste.

Denn die moderne Lebensweise ist in paradoxer Weise ideell und zunehmend auch real von der Bindung an menschliche Zwecke, vom Ziel eines guten Lebens abgelöst. Gesellschaftlicher Erfolg ist an die Vermehrung von Geld gebunden, wodurch auch immer diese zustande gekommen ist. Der menschlichen Tätigkeit wird ihr Sinn danach bemessen, ob sie zu Geld führt oder wenigstens welches spart, was auch immer materiell ihr Ergebnis ist. Wenn dieser Zweck nicht erfüllbar ist, bleibt der schönste und nützlichste Gegenstand unerzeugt, der beste Dienst ungeleistet. Nicht menschliches Bedürfnis gibt Takt und Inhalt des Wirtschaftens an, sondern das Muss, die Wirtschaft am Wachsen zu halten.

Was ich tue, ist für mich abgeschnitten von seiner Bedeutung, seiner Wichtigkeit oder Belanglosigkeit, von seinen freud- oder leidvollen Auswirkungen auf Gesellschaft und Natur. Ich überblicke nur, was ich unmittelbar vor Augen habe und bescheide mich damit, daran Spaß zu haben, weil mehr sowieso nicht drin ist – eine Situation, in der eine Aussage über die eigene Arbeit wie „Ich bin zufrieden. Sie ernährt ihren Mann und bringt niemand um, zumindest nicht direkt“ bereits ein Ausbund an übergreifender Reflexion ist.

Nicht mangelnde Mobilität hat daher die Welt automobil gemacht, nicht Mängel der Kommunikation haben den Handyboom erzeugt, sondern der Verwertungszwang hat Mensch und Welt so zurichten lassen, dass wir automobil und allerorts telefonabel sein müssen – und wollen, ja spaßig finden, was wir müssen. Der Zwang diktiert Bedürfnis und Erfüllung, genau genommen das Surrogat eines Bedürfnisses und ein Placebo statt Erfüllung, damit der Kreislauf weitergeht. Die Frage ist schon längst nicht mehr, was uns gut tut, sondern wie wir die Leere füllen, die sich nie füllen lässt. Denn ein Genug wäre das Ende des Systems. Ein Rückgang der Vergiftung ist eine Wirtschaftskatastrophe – wir müssen uns vergiften um mit dieser angeblichen Ordnung weitermachen zu können

Die fulminante Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus hat den Menschen instrumentalisiert. Auf die Spitze getrieben lässt sich sagen: Je länger der Kapitalismus herrscht, desto mehr gilt: Nicht die Warenproduktion ermöglicht und bereichert unser Leben, sondern wir geben unser Leben für sie hin. Wir leben nicht, wir werden gelebt. Depression und Aggression sind endemisch; zu lachen gibt es in Villenvierteln oft nicht mehr als in Elendsquartieren.

Auf der Suche nach dem Jenseits

Ansatzpunkte aus der Misere herauszukommen, sind m. E. in erster Linie nicht sich im Kapitalismus herausbildende, seiner Logik gegenläufige „Keimformen“ eines Neuen, sondern vielmehr das Leid, das diese Ordnung Menschen zufügt, der Ekel, den sie hervorruft, und das Denken und Handeln derer, die sich damit nicht abfinden wollen. Ohne die kapitalistische Zumutung an Mensch und Natur zu thematisieren und der System-Logik, die alles zu durchdringen sucht, nachzuspüren ist ein Ausbruch aus den herrschenden Zuständen nicht gut möglich.

Es kann ein Projekt wie Oekonux m. E. in seiner Kapitalismuskritik nur stärken, wenn es den (für mich als Nicht-Informatiker nicht überschaubaren) deformierenden Auswirkungen der lebensfeindlichen, destruktiven Herkunft der eigenen technologischen Grundlagen nachgeht.

Auch die Erkenntnis der Kontamination des eigenen Denkens könnte durchaus weiterhelfen. Dieses ist ja keineswegs nur von freier Kooperation und Freigabe der Nutzung ihrer Produkte geprägt, sondern zeigt durchaus die übliche Kurzsichtigkeit kapitalistischer Wahrnehmung – so wenn z. B „Freude am Autofahren“ als Grundlage eines relativ umfangreichen Projektversuchs (OSCAR) nicht einmal auf einer Oekonux-Konferenz eine Debatte über dessen Sinnhaftigkeit auslöste (was ich übrigens durchaus mir selber als Teilnehmer an dem damaligen Workshop anzukreiden habe).

Ein Überwinden des Verwertungssystems besteht grundsätzlich kaum darin, dass wir nur über schon Erreichtes hinausgehen, die Hüllen einer obsolet gewordenen Form abstreifen müssten. Die Methode besteht viel eher darin, dass eine von Anfang an grundsätzlich destruktive soziale Ordnung als solche erkannt, denunziert und darauf aufbauend destruiert wird. Dies freilich ist nicht zu haben, ohne dass an ihre Stelle Neues gesetzt wird, das aus dem Negativen und dem Leid daran im Experiment zu entwickeln ist.

Nach dieser Sicht gibt es für den Ausbruch aus dem Kapitalismus keinen privilegierten Ort. Ob Informatiker in den globalisierten Hi-Tech-Buden oder indische Bauern gegen die Enteignung gesellschaftlichen Wissens streiten, ob brasilianische Sem Terras Grund und Boden oder in Europa Städter leere Häuser besetzen, ob kenianische Frauen die verordneten Cash Crops roden um Nahrungsmittel anzubauen oder argentinische Arbeiter sich Fabriken aneignen und für angeschlossene Kooperativen produzieren – an jeder Stelle des Systems kann grundsätzlich ein Bruch mit der Verwertungslogik zumindest zu einem Haarriss im Monolithen führen.

Ob sich solche Risse vertiefen lassen, hängt jedoch nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt die Bemühungen zu kombinieren, ob gegenseitige Unterstützung möglich und wirklich wird, ob scheinbar weit auseinander liegende widerständige und aneignende Bestrebungen ihr Tun und ihren Diskurs mit anderen Aufbrüchen in einer generellen Auseinandersetzung um Kultur und gutes Leben gegen die Unverträglichkeiten der Warenwelt, ihrer Märkte und Staatsgewalten sinnvoll zusammenbringen können.


Anmerkungen

1 Eine Störung, die, so meine ich, in den historischen Rahmen des Auftretens und der Entwicklung von (pleonastisch: patriarchaler) Herr-schaft gehört, den darzustellen m. E. eine essentielle Vertiefung und Fortführung des Themas wäre. Ich versündige mich mit dieser Betrachtungsweise natürlich am immer noch dominanten Gemeinplatz der historischen Höherentwicklung, in dem auch Herrschaft als Fortschritt interpretiert wird, und knüpfe an die seit der Antike bestehende Kritik des herrschaftlichen Eingriffs in Gesellschaft und Natur an. Dazu vielleicht ein andermal mehr.

2 Zu den historischen Details siehe die Studie von Geoffrey Parker: Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt am Main/New York 1990 und zusammenfassend den Aufsatz von Robert Kurz, Die Diktatur der abstrakten Zeit. Arbeit als Verhaltensstörung der Moderne, in: Feierabend. Elf Attacken gegen die Arbeit, hgg. von Robert Kurz, Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, Hamburg 1999; online: www. krisis. org/r-kurz_diktatur-abstrakter-zeit_feierabend.html

3 Siehe Karl Polanyi (The Great Transformation, Frankfurt am Main 1978), der m. E. jedoch diesen wesentlichen Zug des Kapitalismus als bloß liberales Konzept verkennt.

4 Die Zeitschrift Wissenschaft und Frieden, Bonn; online: www.uni-muenster.de/PeaCon/wuf/Default.htm – bietet dafür eine große Menge Beispiele.

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