Arroganz und Ignoranz zwischen Kulturphilosophie und der Massenkultur, die keine mehr ist. Noch ein Versuch einer begrifflichen Annäherung
Streifzüge 31/2004
von Roger Behrens
Zwischen Theorie und Praxis der Kultur macht sich eine Differenz bemerkbar, die im allgemeinen Widerspruch von Kultur und Gesellschaft fundiert ist: die Dialektik der Krise der bestehenden Ordnung, die einmal die Welt in einem ungeheuren Reichtum und Fortschritt erscheinen lässt, dann aber dieselbe Welt im Zustand regungsloser Starre, im Stillstand. Die kulturelle Praxis der modernen, kapitalistischen Gesellschaft hat in den letzten einhundertfünfzig Jahren Änderungen erfahren, die – je genauer sie untersucht werden – im nächsten Moment schon als Stagnationen erscheinen, als Strukturphänomene, denen gewissermaßen wie in einer sozialen Unschärferelation entweder Wellen- oder Teilcheneigenschaften zugeordnet werden können.
Heute kann sich niemand mehr der Massenkultur entziehen; die Massenmedien und die durch sie verbreiteten Produkte, Informationen, Nachrichten etc. sind mittlerweile so umfassend verbreitet, dass auch die kritische Forschung kaum noch Distanz zur Massenkultur bewahren kann; solche Distanz wäre aber dialektisch zu gewinnen: Wer nur das untersucht, was im Horizont der eigenen popkulturellen Alltagspraxis liegt, geht so leer und blind vorbei, wie derjenige, der sich als Forscher an Phänomene heranwagt, die ihm in seinem kulturellen Alltag fremd, nichts sagend, verborgen bleiben. Der kalte Entzug des analytischen Blicks bleibt dem Material gegenüber so spröde wie der fröhliche Positivismus der Poptheorie. Die Kritik neuerer Kultur richtet sich wesentlich auf die Kritik der alten Gesellschaftsstruktur. Die Massenkultur steht heute für eine kulturelle Totalität und nicht mehr für den Gegenpol, den bloßen niedrigen und niederen Abhub der wahrhaft kultivierten Hochkultur; die Hierarchisierungen der einstigen ideologischen Deutungsmuster haben sich in einem vielschichtigen Feld von Bedeutungsüberlagerungen, aber auch Sinnbeliebigkeiten verflüchtigt. Jede Beschäftigung mit Kultur ist heute selbst schon Teil der Kultur. Die relative Entfernung des akademisch-universitären Interesses an der neuen Kultur ist nicht mehr zu haben. Bedeutete die kulturtheoretische Beschäftigung mit der Alltagskultur um die Jahrhundertwende zumeist noch einen Annäherungsversuch an eine kulturelle Sphäre, die von den eigenen hoch-kulturellen Alltagsmustern, vor allem auch von den eigenen Bildungswerten, getrennt war, so hat sich dieser Komplex von gebildeter Kultur und kultureller Bildung mittlerweile in der Popkultur aufgelöst.
Dies tangiert den Begriff von Kultur selbst und lässt so manchen gegenwärtigen kulturtheoretischen Ansatz, der im Vertrauen auf einen obsoleten kulturellen Wertekanon Massenkultur noch immer mit dem Gestus des Gebildeten ignoriert, ebenso grotesk und kurios erscheinen wie den Jargon der anderen, die es sich mit popjournalistischen Phrasen immer schon in der Kultur eingerichtet haben wollen. Hinzu kommt, dass Begriffe wie Massenkultur, Alltagskultur, populäre Kultur und dergleichen inzwischen selbst fraglich geworden sind; gerade die Totalität einer globalen Kulturindustrie erlaubt es, Konsumenteninteressen in vollständig inkompatiblen Gruppen zu organisieren, die in ihrer Erscheinungsweise nicht mehr als „Masse“ beschreibbar sind. Gerade wenn es um die Analyse besonderer und konkreter alltagskultureller Phänomene geht, erweist sich die Rede von der Massenkultur als wenig plausibel.
Allein nach Verkaufszahlen lässt sich ein Massenphänomen nicht mehr bestimmen. Selbst wenn heute Millionen an popkulturellen Ereignissen teilnehmen, bleiben von den Massenveranstaltungen fast keine Spuren zurück (jedenfalls nicht im kulturellen Gedächtnis). Längst haben Festivals die Größe von zum Beispiel Woodstock übertroffen; angeblich wichtige Schallplatten sind einmal Bestseller gewesen, heute kennt man nicht einmal mehr die Bands. Die meisten Bands, die gelegentlich die Chance haben in den Charts aufzutreten, bleiben, selbst wenn sie es auf die besseren Plätze schaffen, Nebensache in den Bilanzen der Kulturindustrie. Und fraglich ist, ob selbst von Millionenerfolgen, die einigen wenigen Produktionen vorbehalten bleiben, Rückschlüsse auf Massenstrukturen und Massenpublikum möglich sind: die hysterische Masse verschwindet in der Belanglosigkeit wie zuvor das Individuum in der Masse – die Love-Parade ist lediglich ökonomisch von Bedeutung, kulturell höchstens Gradmesser der Trostlosigkeit der Popkultur. Die größten Umsätze bleiben der Volksmusik vorbehalten. Aber ist Konsum überhaupt ein verlässlicher Indikator? Es wird immer mehr Musik gehört, obwohl immer weniger Tonträger verkauft werden. Auch betriebswirtschaftlich ist die Kulturindustrie längst in der Krise.
Es handelt sich also um eine Massenkultur, die keine Massenkultur mehr ist; es geht um allgemeine Massenphänomene, die in ihrer Besonderheit jedoch keine Massencharakteristik mehr besitzen. Im Rückblick auf die letzten einhundertfünfzig Jahre lässt sich vielleicht die Massenkultur als doppelter Dissoziationsprozess darstellen, wobei die Masse in derselben Weise in Singularitäten und Randzonen sich verflüchtigt, wie gleichzeitig die Kultur sich in der ökonomischen Verwertungssphäre als Ware universalisiert. Adorno und Horkheimer haben sich schon in den vierziger Jahren gegen den Begriff der Massenkultur aus anderen Gründen entschieden: Sie ersuchten ihn deshalb zu vermeiden, weil er suggeriere, dass es sich um eine Kultur der Massen handelt, letztlich um eine quantitativ und technologisch erweiterte demokratisierte Kunst. Genau dies sei jedoch das leere Versprechen der Massenkultur, ihre Ideologie, die letztendlich die Massen verhöhnen würde: So fern sie den Massen stehe, so fern stehe sie schließlich auch der Kultur. Mit dem Begriff der Kulturindustrie sollte beschrieben werden, wie im Zuge der Durchkapitalisierung aller sozialen und menschlichen Verhältnisse auch die Kultur zur bloßen Ware wird. „Die Ausbreitung der Kulturindustrie ist ein negativ gewendeter Indikator für das Gemeinsame der Kulturen, von dem im Hinblick auf die humanisierende Intention von Kultur als ganzer die Rede war. Kulturindustrie ist für die kritische Theorie die Fratze der Idee einer universalen Menschheitskultur, also die verhöhnende Karikatur des Programms der Aufklärung, die sie aber selbst mit hervorgebracht hat“, wie Gerhard Schweppenhäuser schreibt. 1 Schließlich wird Massenkultur dem ähnlich, was Adorno und Horkheimer schon als Ende der Kulturindustrie ahnten: Sie geht in Reklame über. Gerade die Universalisierung der Warenlogik, die alle Kultur rückstandslos verwertet, erlaubt es, die Konsumenten nicht länger in uniformen Massen zusammenzuschweißen. Die Menschen werden mit Spielweisen pseudo-individueller Bedürfnisse dafür belohnt, dass sie genügend Abstraktionsvermögen aufbringen, um sich vollständig als Warensubjekte zu affirmieren, wonach sie in Lohnarbeit und Geld höchste Befriedigung finden. Politische Meinungen, Wohnungseinrichtungen, Urlaubsziele, Lieblingsspeisen, Sternzeichen, Modestile, sexuelle Vorlieben, Lieblingsserien im Fernsehen und so weiter bilden heute das Ensemble individueller Verhältnisse, die aus jedem Menschen eine besondere gesellschaftliche Erscheinung machen.
Es ist nicht alles Pop, was glänzt – Ambivalenzen des Popdiskurses
„Es ist nicht mehr klar, ob wir eine Kritik an der Sprache der Konsumgesellschaft hören, ob wir die Sprache der Konsumgesellschaft konsumieren, oder ob wir die Sprache der Kritik als Sprache der Konsumgesellschaft konsumieren.“ Umberto Eco
Die Verunsicherung über die – nicht nur wissenschaftliche – Brauchbarkeit von Begriffen wie Alltags- oder Massenkultur drückt sich in einem neuen Schlagwort aus, das allmählich seine Spezifik verloren hat und nun zur relativ diffusen und allgemeinen Bezeichnung für verschiedene kulturelle, soziale und ästhetische Komplexe geworden ist: Popkultur, oder kurz „Pop“. Statt die Kultur in Hochkultur und Massenkultur zu unterscheiden, wird nunmehr Pop in Mainstream und Subkultur geschieden. Statt Homogenität der Massenkultur steht die Popkultur unter dem Vorzeichen der Heterogenität. „Pop“ ist dabei als Wort schon freundlicher, die ökonomische Verwertung der Kultur ist in den meisten Fällen zwar nicht begriffen, aber akzeptiert, weil man glaubt, innerhalb der Heterogenität der Popkultur genügend Nischen zu finden, in denen – wie es heißt – „Subversion“ und „Dissidenz“ ihren Ort haben können. Die Popsubkulturen werden so in den Kontext der alten künstlerischen Avantgarden der Hochkultur gebracht.
In den letzten dreißig Jahren haben sich Strategien der Selbstreflexion der Massenkultur etablieren können. Bemerkenswert ist das Theorieverständnis und der Jargon, der hier gesprochen wird, weil sich offenbar ein neues Deutungsmuster von Kultur und Bildung durchzusetzen beginnt, welches vom universitären, hochkulturellen und humanistisch-bürgerlichen Ideal sich absetzt, hinterrücks allerdings den elitaristischen Kulturkonservatismus wieder aufnimmt. Zunächst ist die Theoriefeindlichkeit auffällig. „Kultur“ wird mehr als „Gemeinschaft“ denn „Gesellschaft“ verstanden; während die kritische Theorie Kulturkritik nur in Rückbezug auf Gesellschaftsanalyse für sinnvoll erachtete, gilt hier das Primat der Kultur – als je eigenes soziales Umfeld -, dem die Reflexion auf soziale Großstrukturen nachgeordnet ist. Eine Kulturalisierung, die ihre Affinität zum Vitalismus sowenig leugnet wie die Sympathie für den Kommunitarismus in der spätmodernen Fassung der Biografisierung.
Auch insofern dient der Popdiskurs vorrangig der Selbstlegitimation; sein Hauptaugenmerk scheint darin zu liegen, der Popkultur beständig Phänomene zuzuordnen – alles kann Pop sein (als sei damit für die Gesellschaft und ihre Beschreibung schon etwas Positives gewonnen); und gleichzeitig sind die geschätzten Phänomene dem Pop so fern. Während die einen von Walt-Disney-Freizeitparks, Bon Jovi und Boy-Groups sprechen, meinen andere Atari Teenage Riot, Sleater-Kinney oder The Crass. Im Popbegriff selbst fallen zwei koexistente, fast schon symbiotisch verschmolzene Bedeutungsvarianten von Pop zusammen: die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft wird durch Pop sowohl in Frage gestellt wie auch bestätigt. Dialektisch: Pop ist Teil des Problems, als dessen Lösung er sich anbietet. Für die Poptheorie gilt aber, dass das, was gemeinhin als Pop akzeptiert ist, im engeren Diskurs gar nicht vorkommt (Die Toten Hosen, Rammstein, Bon Jovi, Phil Collins), mithin das Subversive der Popkultur lediglich in der Beharrlichkeit gründet, mit der es behauptet wird. Das vermeintlich Subversive bleibt ohnehin in der Regel immer der nachträgliche Diskurs, der sich allein kraft der Stärke seiner Legitimationsstrategie (Sprecherposition, Performanz, Theorieschick und Beleidigungen) zu behaupten vermag.
So vage die politischen Maßstäbe sind, so unklar bleiben auch die Kriterien ästhetischer Beurteilung. Hier kommt es immer wieder zu merkwürdigen Ereignissen, die sowohl von der meinungsprägenden Macht des Popdiskurses wie gleichzeitig von seiner Beliebigkeit und Belanglosigkeit Zeugnis ablegen. Beispielsweise wurde 1997 Mouse on Mars‘ „Autoditacker“ „einhellig und ohne jegliche Absprache unter den Blättern in mehr als fünfzig Magazinen des Landes zur Platte des Jahres 1997 erklärt… Und dies, obwohl , Autoditacker‘ nichts anderes als nett, freundlich, besinnlich, zart, ja vor Behaglichkeit triefend ist. „2 – Dass diese Musik allerdings ganz unfreiwillig zum Soundtrack der spätbürgerlichen Krisen-Behaglichkeit wurde, kann von einer Poptheorie, die um die Gesellschaft denselben Bogen macht wie um die Krisentheorie, nur ignoriert werden, um sich ganz auf das Geschmacksurteil zu verlassen. (Im Popdiskurs wird so getan, als könne aus dem Geschmacksurteil eine politische Kritik der Musik abgeleitet werden; das ist Unsinn. Vielmehr müsste aus der politischen Kritik sich ein Geschmacksurteil begründen lassen. Dass Mouse on Mars „gute Musik“ machen, ist von ihrer strukturellen ideologischen Funktion nur vermittelt zu erfassen. Deswegen heißt ja auch eine Platte von ihnen „Idiology“. )
Neben der Legitimationsfunktion kommt dem Popdiskurs die Aufgabe zu, für das Konsumverhalten eine politische Kasuistik und Verhaltensregeln aufzustellen, die den Konsum (und damit den positiven Bezug zur Warengesellschaft) als eine gesellschaftlich relevante und bewusst steuerbare Handlung vorführen. Dies geschieht durch den Ausdruckszusammenhang im Zwischenfeld des Warentauschs und der Kulturwerte, etwa vermittels der Mode. Die Kriterien sind geschmäcklerisch und leicht steht jemand im Verdacht des Unzeitgemäßen und Konservativen, wenn eine Mode nicht mitgemacht oder die falsche, etwa „veraltete“ Musik gehört wird. Auf diese Weise haben sich, mitunter quer zur Unterscheidung von Mainstream und Subkultur, auch im Popdiskurs Kriterien etabliert, nach denen „guter Pop“ vom Schund abgegrenzt werden kann. Während in der alten Dichotomie von hoher und niederer Kultur die Massenkultur tendenziell als Schund oder bloßes Entertainment galt, auch wenn gelegentlich ihre demokratische Verfügbarkeit gepriesen wurde, reglementiert der Popdiskurs seine Bewertungen über das Diktum der Geschmacksautonomie (gewissermaßen lautet das aufklärerische Leitmotiv der Popkultur: „Ausgang aus der selbstverschuldeten Geschmacklosigkeit“3).
Die Popkultur hat ihren eigenen, von den klassischen kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Modellen weitgehend unabhängigen Diskurs in den neunziger Jahren entfaltet; dieser Diskurs verfügt nicht nur über eine eigene Sprache, sondern mittlerweile sogar über eine geschichtliche Logik. Auch wenn das theoretische Fundament dieses Popdiskurses, trotz gelegentlicher Anleihen bei poststrukturalen und postmodernen Philosophien, die Arbeit an den Begriffen ausspart: Wichtig ist an diesem „popistischen“ Theorie-Praxis-Verhältnis, inwiefern sich spezifische kulturelle Bildungswerte ausdifferenziert haben, die der Popkultur insgesamt eine diskursive Stärke und eine relative soziale Bedeutung verleihen, so dass sie nicht mehr in das klassische Muster von hoher und niederer Kultur passt beziehungsweise mit Mehrdeutigkeiten operiert, wonach dasselbe Popphänomen zugleich als banaler Schund wie auch elaborierte, avancierte Kunst gelten kann, und auch inhaltlich wie formal entsprechend allegorische Façetten zeigt – und dies ist nicht einfach nur eine Vieldeutigkeit der möglichen Interpretation, sondern bereits Vieldeutbarkeit im Material. Bei aller begrifflichen Unschärfe steht man also vor der Frage, ob die Popkultur bloße Unterhaltungskultur ist (vielleicht sogar die Unterhaltungskultur oder nur ein spielerischer Umgang mit der Unterhaltung), oder ob Pop eine neue Form der Hochkultur darstellt. – Bemerkenswert ist im Übrigen, dass dem Pop überhaupt diese legitimationsproblematische Reichweite zugesprochen wird; in der bürgerlichen Kulturgeschichte gab es das nicht einmal für die Romantik, höchstens für den Neoklassizismus und gelegentlich für den (Post-)Modernismus. Daran hängt freilich die Frage, ob Pop denn überhaupt ein systematischer Epochenbegriff ist (gibt es Pop auch als überzeitliches Phänomen? ). Benjamin hat solchen Effekt für die Kunst der Jahrhundertwende diagnostiziert, bezeichnenderweise für die Literatur. Unterhaltungsliteratur habe es immer schon gegeben, also Kunst, „die keinerlei Verpflichtung der Zeit und den Ideen gegenüber, die sie bewegten, auf sich nahm als höchstens die, solche Ideen in einer angenehmen, modisch konfektionierten Form dem Konsum zuzuführen.“ In der bürgerlichen Kultur hat dies durchaus seine Berechtigung. „Was aber noch nie geschah, in der bürgerlichen sowenig wie in einer anderen Gesellschaftsordnung, ist dass diese reine Konsumtions- und Genuss-Literatur identisch mit der Avantgarde, der technisch und artistisch vorgeschobensten, wurde. „4
War Massenkultur mit ihrer beständigen Abwertung konfrontiert, so drängt die Popkultur zur Aufwertung; sie repräsentiert das Bedürfnis einer neuen Elite, in der sich Besitz und Bildung warenfetischistisch verkettet haben: ihr kulturelles Kapital ist eine Ableitung ihres ökonomischen Eigentums (Generation Golf). – Arnold Hauser hat Anfang der siebziger Jahre diesen Effekt als die Besonderheit der Popkultur festgehalten: „Die Produzenten und Konsumenten der Pop-Art stellen nichtsdestoweniger eine eigene, besonders zusammenfassbare … Bildungsschicht dar, die mit ihren künstlerischen Bedürfnissen und Wertkriterien einen mittleren, zwischen den Trägern der hohen und dem Anhang der volkstümlichen Kunst befindlichen Rang einnimmt. „5 In dieser Haltung einer neuen Bildungsschicht, die das Erbe der Jugendlichkeit weiterträgt, regt sich nicht nur der Versuch, mit der Popkultur jenseits von Klassenwidersprüchen einen verbindlich-verbindenden Sinnzusammenhang herzustellen.
Zur Genese der Popkultur – Ein Exkurs
„Der ganze Trick der Rockmusik besteht darin, dass sie spiegelt, was ohnehin läuft.“ Pete Townshend (The Who)
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam es zu einer Osmose zwischen etablierter Kultur und Subkultur. Während die musikalische Moderne sich zunehmend in einer Expertenkultur isolierte, wurde die populäre Musik zu einer Kunstform, die sich durch vielfältige und breite Öffentlichkeit sowie ständige Präsenz im Alltag auszeichnet. Mit dem Ausbau des Rundfunknetzes, durch das Fernsehen und durch die Filmindustrie wurde immer mehr Musik benötigt, die bestimmte Stimmungen erzeugen konnte, ohne in ihrer Struktur die Hörgewohnheiten zu verunsichern. Auch die Ausweitung des Konsums durch Kaufhäuser, Schnellrestaurants und Supermärkte führte zu einer enormen Ausbreitung einfacher musikalischer Grundmuster (in diesem Fall wie auch bei Behörden, Flughäfen, Fahrstühlen etc. zur Hintergrundbeschallung und Berieselung), die nicht durch harmonische Abweichungen Wiedererkennungswert erlangten, sondern durch eine Vielfalt an Klängen – „Sounds“ -, in denen die simplen Akkordfolgen immer wieder ertönen. Der Vorstoß der populären Musik in den Alltag gelang aber vor allem vermittels neuer Techniken: Wichtig sind hier die Einführung der Langspielplatte Anfang der fünfziger Jahre, die Audiokassette Ende der sechziger Jahre, die Verbesserung der Studio- und Aufnahmetechnik sowie die Entwicklung der Musikelektronik, die zum Beispiel die Beschallung großer Konzerthallen ermöglichte. Hier gab es auch Unterschiede zur Jazzmusik, die als Massenkultur nur rassistisch getrübt erschien: Schallplatten, auf denen Afroamerikaner abgebildet waren, verkauften sich schlechter, Radiostationen verweigerten, Jazzmusik zu spielen, die Instrumentierung war selbst für die europäische Tradition populärer Musik ungewöhnlich. Und vor allem war der Jazz eine abgegrenzte Kultur bestimmter Clubs, sehr großstädtisch, und er muss in seiner Leichtigkeit perfekter Beherrschung der Instrumente geradezu als Zynismus empfunden worden sein.
Der Pop- und Rockmusik der sechziger und siebziger Jahre gelang es dann, den Gestus des gebildeten Musikers zu nutzen. In verschiedener Weise wurde versucht, auf Attitüden der bürgerlichen Kunstmusik zurückzugreifen. Rockmusik wurde in Form von Rockopern oder sinfonischen Werken geschrieben (The Who: „Tommy“, Yes: „Tales from Topographic Oceans“); Rockmusik arrangierte und adaptierte klassische Werke (The Nice; Emerson, Lake & Palmer), stellte die Musik in den Kontext solcher Werke (um zum Beispiel Konzerte zu eröffnen: Yes, Rolling Stones, Deep Purple) oder berief sich auf den Einfluss der ernsten Musik (Beatles und Stockhausen; Frank Zappa und Strawinsky oder Xenakis). Der Starkult und seine äußeren Formen – lange Haare, weite Gewänder – hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert und kehrte dann im Art-Rock (Rick Wakeman im silbernen Umgang inmitten seiner Keyboards) oder Glamrock (David Bowie, Roxy Music) wieder; das Virtuosentum mancher Rockmusiker ist durchaus einem Paganini oder Liszt vergleichbar (Jimi Hendrix, Led Zeppelin; Liszt ist in „Liszt-o-Mania“ sogar Thema eines Rockmusicals). Manche Tonträger wurden als programmmusikalische und konzeptuelle Werke angelegt (Pink Floyd: „The Dark Side of The Moon“, Genesis: „The Lamb Lies Down on Broadway“; The Who: „Quadrophenia“) oder als Mischformen von Band- und Orchestermusik arrangiert (Jon Lord: „Concerto for Group and Orchestra“, „Gemini Suite“, „Windows“, Rick Wakeman: „Journey to The Centre of The Earth“ und neuerdings: „The Return to The Centre of The Earth“). Von dieser vermittelten Popularisierung einiger Muster bürgerlicher Kunstmusik profitierte auch die bürgerliche Kunstmusik. Sie konnte nicht nur mit Vereinfachungen Erfolge erzielen (Gorecki, Orff-Euphorie, aber auch: Mahler-Renaissance), sondern fand ebenso in der Massenkultur – etwa als Filmmusik – Verwendung (Ligeti und Strauss in „2001: A Space Odyssey“, Beethovens 9. Sinfonie in „A Clockwork Orange“, das Adagio aus Mahlers 5. Sinfonie in „Tod in Venedig“, Ravels „Bolero“ in „Zen – Die Traumfrau“). Manche klassischen Musiker konnten wiederum Rockattitüden aufgreifen und damit berühmt werden (Nigel Kennedy, Vanessa-Mae, Apocalyptica). Die Öffentlichkeit der Rock- und Popmusik ist, sowohl im Gegensatz zum Jazz und zur Kunstmusik als auch im Gegensatz zu früheren Formen der populären Musik (Musical, Rock’n’Roll, obwohl – wie auch beim Jazz – Übergänge dann fließend sind) dadurch geprägt, dass ein und dasselbe Musikstück auf sehr unterschiedliche Weise rezipiert werden kann und geradezu allegorische Bedeutungsoffenheiten aufweist, die es ermöglichen, dass Menschen unterschiedlichster Klassen und mit unterschiedlicher Bildung, sowie mit unterschiedlichsten Interessen die Musik rezipieren können. Diese Entwicklung der populären Musik hatte Einfluss auf andere Künste: Andy Warhol kommt hier eine fast paradigmatische Rolle zu, denn er entwarf nicht nur Schallplattencover (Rolling Stones: „Sticky Fingers“), sondern realisierte mit der Band Velvet Underground eine konzeptuelle Künstlerästhetik. Die Musik von Velvet Underground konnte als Tanzmusik konsumiert werden, als Drogenmusik abgelehnt oder befürwortet werden, als Kunstereignis diskutiert werden, als klangliches Arrangement analysiert oder kontemplativ genossen werden und so weiter. Ähnliche Bezüge zwischen bildender Kunst und Musik gibt es auch heute noch, etwa bei Mike Kelley und Sonic Youth oder der Gruppe Laibach und der Neuen Slowenischen Kunst. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass die neuere Popmusik strukturell für bildende Künstler sehr attraktiv ist, weil sie viele Möglichkeiten zwischen Konzept- und Gebrauchskunst bietet, vom Plattencover über die Bühnenshow, von der Corporate Identity einer Band bis zur grafischen und typografischen Gestaltung der Popmagazine.
Vermutlich kann auf diese Verbindung und Bezugnahme von bildender Kunst und populärer Musik zurückgeführt werden, dass sich im Verlauf der Siebziger und Achtziger, doch endgültig erst in den Neunzigern eine theoretische Reflexion auf die Popkultur entfaltet hat, die eher ästhetisch, wenn nicht ästhetizistisch ausgerichtet ist. Sie orientiert sich am Authentischen, das sie nicht selten durch einen Positivismus zu überwinden versucht, weniger durch begriffliche Reflexion und praktische Konkretion am Material. Auch deshalb dominiert vermutlich der Bezug auf die somatischen Elemente der Popkultur, auf Formen körperlicher Rituale und Praktiken wie Schmuck, Tanzen oder körperliche Gewalt. Nicht selten schlägt Poptheorie paradox in Theoriefeindlichkeit um, bis hin zu anti-intellektuellen Ressentiments. Das Interesse an Phänomenen der Popkultur bleibt weitgehend kulturell beziehungsweise kulturalistisch begründet, entspricht dem Wunsch nach einer Ästhetisierung als Aufwertung des eigenen Lebens.
Kritische Theorie der Popkultur
Eine kritische Theorie der Popkultur hat sich der Frage zu stellen, warum und weshalb sich mit Popkultur beschäftigt wird. Es kann nicht darum gehen, sich in begriffslosen Grabenkämpfen zu verlieren oder geschmäcklerische Überzeugungen zu Momenten popkultureller Dissidenz und Subversion zu verklären. Zum Problem wird, ob überhaupt eine ästhetische Bewertung im Sinne von gut/schlecht oder richtig/falsch heute noch die Gegenstände angemessen zu erfassen vermag, ob sie die Kultur überhaupt berührt. So ist auch das Gegenteil des Geschmäcklerischen, nämlich das objektivistische Pauschalurteil, alle Massenkultur sei Schund und deshalb abzulehnen, Unfug. Das Problem ist eines von Widersprüchen: Einerseits lässt sich mit geschmäcklerischen Attributen, die allenthalben zu lesen sind, kaum eine Musik begreifen, die doch vor allem nach eben solchen Attributen rezipiert wird. Umgekehrt erscheint die moderne Popmusik, vom material-ästhetischen Standpunkt der europäischen Kunstmusiktradition her beurteilt, tatsächlich, bis auf wenige Ausnahmen, aus immer wiederkehrenden Stereotypen zusammengebastelt, mithin gibt es Gründe, hier von Schund zu sprechen. Dies scheint mir allerdings mitnichten ein Grund zu sein, Popmusik zu verurteilen, abzulehnen oder nicht zu mögen – einmal davon abgesehen, dass die Kriterien, nach denen der Pop Schund sein könnte, gleichfalls und allemal für die Reste bürgerlicher Kunstmusik gelten. Die Krise der Popkultur verweist gleichwohl auf eine Krise der bürgerlichen Kultur überhaupt. Was sie zu bieten hat, ist mitnichten „besser“, „gehaltvoller“ oder „schöner“. Wenn überhaupt heute noch etwas sich ereignet an Kunst oder in der Kunst, die auch nur annähernd vermag, die Gegenwart auf den Begriff zu bringen, dann ist es die der Popkultur.
Eine kritische Theorie der Popkultur ist beides, eine notwendige Abstraktion wie eine fällige Konkretion. Sie abstrahiert vom Pop selbst und versucht den Gegenstand an einzelne Tendenzen sozialer Entwicklung rückzubinden: „Wir interpretieren [Kunst] als eine Art von Sprachkode für Prozesse, die in der Gesellschaft ablaufen, als einen Kode, der mit Hilfe der kritischen Analyse zu dechiffrieren ist. „6 So war es im Programm des Instituts für Sozialforschung vorgesehen. Es geht also um eine Analyse des Kitts wie um den Sprengstoff, der die Gesellschaft zusammenhält und ebenso ihre Strukturen zu durchbrechen vermag. Erst über diesen Rückbezug auf Gesellschaft erhält eine materialistische Analyse der Popkultur auch eine ästhetische Relevanz, wenn nämlich in der Kunst etwas Bedeutungsvolles für den sozialgeschichtlichen Prozess entschlüsselt werden kann, das durch andere Zeugnisse der Kultur nicht ablesbar wäre – auch für die Popkunst gilt, dass sie nicht einfach nur die menschliche Geschichte kommentierend begleitet, sondern selbst in den geschichtlichen Prozess eingreift; aber, wie gesagt: dies in Tendenzen, in Strömungen, in Segmentierungen innerhalb der sozialen Praxis. Es gibt kein Außen, nirgends; aber es gibt ein Abseits als sicheren Ort. Eine kritische Popkulturtheorie ist Konkretion, insofern sie allgemeine Erscheinungen des Pop und der Kulturindustrie sowohl am ästhetischen Material differenziert wie auch innerhalb der jeweiligen sozialen und kulturellen Felder expliziert. Die begrifflichen Widersprüche und sprachlichen Ambivalenzen der Popkultur versteht eine kritische Theorie nicht ausschließlich als bloßen Ausdruck kultureller Zerfallslogik, sondern gleichsam als Ansatzpunkt für die mögliche Begründung einer kulturellen Praxis. „Erst wenn man akzeptiert, dass die verschiedenen Niveaus komplementär betreten werden können (sollten), lässt sich ein Weg zur kulturellen Verbesserung der Massenmedien öffnen. „7 Und eine kulturelle Verbesserung der Massenmedien entbindet nicht von der Notwendigkeit einer Veränderung der bestehenden sozialen Ordnung; aber die kulturelle Verbesserung der Zustände, birgt sie auch die Gefahr der Ästhetisierung, bietet unter Umständen unterhaltsamere, tanzbarere und lustvollere Möglichkeiten, dieses Leben hier humaner zu gestalten. Man kann den Pop nicht aufheben, ohne ihn zu verwirklichen.
Anmerkungen
1 Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung, Hamburg 1996, S. 148 f.
2 Martin Büsser, Sozialambient, in: Testcard. Beiträge zur Popgeschichte, Heft 5 (1998), S. 243.
3 Was wir wollen: Genuss statt Geschmack; Ficken statt Erotik etc.
4 Benjamin, Zur Literaturkritik. Programm der literarischen Kritik, in: GS Bd. VI·1, S. 168.
5 Arnold Hauser, Soziologie der Kunst, München 1983, S. 684.
6 Ten Years on Morningside Heights: A Report on the Institute’s History, 1934-1944, zit. n. Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt a. M. 1985, S. 213.
7 Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main 1986, S. 55.