Leid und Opfer

Auszug aus: Fan und Führer, Krisis 28, S. 51-63

von Franz Schandl

11: Leiden als Leidenschaft

In einer falschen Gesellschaft wird auch falsch gelitten. Leid ist alles andere als eindeutig. Letztlich erscheint diese subjektive Empfindung als eine Empfindung von Subjekten. Doch deren Gefühle sind keineswegs ein gegen das Kapital abrufbares Register, sondern besetztes Terrain. Das Leiden mag ein konkreter Ansatzpunkt sein, müssen tut es das keineswegs. Aus dem Leid alleine folgt nichts. Leiden selbst ist einmal Folge einer Zumutung oder Zufügung. Diese Kriterien sind jedoch nicht ausreichend, das Leiden als solches bewusst zu erleben und zu benennen. Es muss einem trotz Wirkung gar nicht zur sinnlichen Gewissheit werden. Wir sind nicht auf die Sensibilität gegenüber dem Leiden eingestellt, im Gegenteil, das Leiden ist geradezu die verdrängte Größe des bürgerlichen Alltags.

Das trifft einen selbst wie die Mitmenschen. Das zuschauende Nichteingreifen etwa bei einem rassistischen oder sexistischen Übergriff auch durch deren Verächter ist nur partiell durch Angst bedingt, primär ist es wohl Folge von Apathie und Indifferenz (Mich betrifft’s ja nicht! Warum soll ich mich einmischen? Ist nicht meine Baustelle, nicht mein Geschäft). So läuft vieles wie ein Film ab, in den eins sich ja auch nicht einbringen kann. Den Menschen, die vormittags mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, ist solches Fehlverhalten direkt ins Gesicht geschrieben. Und da gibt es dann die noch Übleren, jene, die solchen Übergriffen laut oder klammheimlich applaudieren oder sogar im Ernstfall beitreten würden.

Zunehmend fallen beim Leiden Wirkung und Erkennung auseinander, sie müssen oft, so paradox das klingt, erst durch Erklärung zusammengeführt werden. Die schlichte Erfahrung ist alles andere als ein untrügliches Kriterium. Der bürgerliche Mensch blendet eigenes wie fremdes Leiden weitgehend aus, und das ist einerseits verständlich, denn sonst wäre das Leben wohl nicht auszuhalten. Andererseits verstellt dieser seelische Missstand aber die Möglichkeit, adäquat Leid zu erkennen und effektiv dagegen vorzugehen. Nicht nur „Was gehen mich die anderen an“, meint jener, auch: „Was gehe ich mich an? “ „Wenn’s mir schlecht geht, muss ich es ja nicht unbedingt wissen“, so eine unbewusste Maxime der durch das positive Denken verseuchten Subjekte. Kritik kann den Menschen diese Erkenntnis nicht ersparen, doch wenn nicht mehr geboten wird als diese, werden die Überbringer schlechter Nachrichten schnell mit dem Unwillen der in Kenntnis gesetzten konfrontiert. Aversion wendet sich dann gegen den Botschafter und nicht gegen die Botschaft.

Negatives Denken ist inkompetent betreffend die Reproduktion der unmittelbaren Existenz. Es ist kaum aushaltbar und noch weniger durchhaltbar. Es ist dem bürgerlichen Leben und all seinen Interessen feindlich, in dem seine Mitglieder doch stecken und sich dementsprechend verhalten. Dieses Verhalten ist gleichunwohl nur mit einer entsprechenden Haltung möglich. Die praktizierte Affirmation kann nicht spurlos an den Menschen vorbeigehen, umgekehrt: sie betreibt die Subjekte, ist Motor und Motivation ihres Tuns, aber auch ihrer Unterlassungen. „Angst und Leiden sind ins Extrem angewachsen und lassen von der Psyche des einzelnen kaum mehr sich bewältigen. Das nötigt zur Verdrängung, und diese, nicht die Positivität eines vorgeblich höheren Zustands von Scham und Selbstbeherrschung, steht hinter der Idiosynkrasie gegen den Ausdruck, der mit dem Leiden eins ist.“ Eins kommt um das positive Denken gar nicht herum, niemand ist davor gefeit. Nichtsdestotrotz ist es ständig zu bekämpfen und zu unterminieren. Die Frage nach dem „Wie“ ist nicht in erster Linie eine theoretische.

Es geschieht so auch recht häufig, dass wahrgenommenes Leid im Nachhinein verklärt wird. Was einst weh getan hat, wird auf einmal gerechtfertigt, ja glorifiziert. „Da musst du durch! “ oder „Zeit heilt Wunden“, so die dazugehörigen Gemeinsprüche. Bezogen auf die Arbeit lautet einer: „Auch wir haben uns plagen müssen! „. In dieser Sicht wird die Plage zwar als solche bezeichnet aber doch befürwortet. Freilich ist auch hier nicht alles so eindeutig. Ebenso kennt der Alltag Sätze wie „Meinen Kindern soll es besser gehen.“ Etc. – Aber so ist das nun einmal mit den fragmentierten Personen.

Ähnlich eminenten Widersprüchen sind auch reflektierte Theoretiker ausgeliefert. Der seltsame Umstand, dass diverse Arbeitskritiker als Arbeitsbienen ihr Leben entäußern, wird des öfteren festgestellt, hat aber noch zu keinerlei Konsequenzen geführt. Im Gegenteil, fast alle Besprechungen und Beschlüsse laufen auf eine Intensivierung der Tätigkeit hinaus, gerade so als seien die Personen rund um die Uhr verfügbar. Die Unfähigkeit, das eigene Pensum erträglich zu bestimmen, ist in diversen Zusammenhängen auffällig. Aber auch da herrscht die Verdrängung. Dass die Künder des „guten Lebens“ unglaubwürdig wirken, wenn sie selbst ihre aktuellen Möglichkeiten permanent durchstreichen, ist offensichtlich. Woher das wohl kommt?

Nun, Lust nicht an der Lust, sondern Lust am Leiden propagierte der Aufklärer Immanuel Kant, als er davon sprach, dem Vergnügen zu entsagen und die Arbeit zu lieben. Und es macht noch einmal einen Unterschied, ob man die Arbeit bloß als aufgeherrschte Notwendigkeit anerkennt oder in Liebe zu ihr aufgehen soll. Diese Disziplin ist den Menschen aber nicht eigen oder gar angeboren, sie musste ihnen erst mühsam eingetrichtert werden. Die ideelle Disziplinarordnung der Aufklärung war und ist jene des reellen Kapitals. Sie sind das Parallelprogramm der Moderne, eins ist ohne das andere gar nicht denkbar. Die Bestimmung der Pflicht als Lust ist eine der irrsten Verunglückungen menschlichen Denkens. Indes, Leid muss als Leid benannt, darf nicht umdefiniert werden. Leiden – auch dort, wo es nicht zu verhindern ist – ist stets zu beklagen, nie zu befürworten. Denn Lust am Leiden ist identifizierbar mit der Pflicht zum Leiden und zum Leiden-Lassen. Aus der Lust am Leiden füttert sich auch in letzter Instanz die Mordlust in Pogrom und Krieg. Die Schlachtbank ist ein Opfergang par excellence, und die quasi-natürliche Befürwortung ist innerstes Wesen der pflichtbesessenen und leidbewussten Subjekte. Sie sind zum Opfern gezüchtet.

Kann das Leiden nicht verdrängt werden, tritt folgendes ein: Leidende personalisieren ihr Leid, indem sie es entweder individualisieren – ich bin schuld; oder projizieren – andere sind schuld. Es ist entweder identisch mit einem oder es hat mit einem nichts zu tun. Dass es mit einem sehr wohl zu tun hat, aber eben kein individuelles Manko darstellt, sondern eine verarbeitete Folge von gesellschaftlichen Konstellationen und Situationen, in denen man sich befindet, ist, will nicht so recht einleuchten. Die Leute reagieren (wobei diese Gegenüberstellungen nicht als Ausschließlichkeiten zu verstehen sind) entweder mit einem sozialdarwinistischen Komplex: Ich muss mich mehr anstrengen. Ich muss mehr leisten. Ich darf nicht krank werden. Mein Auftreten muss besser werden; oder mit einem (meist rassistisch codierten) Sündenbock-Reflex: Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Die Schmarotzer machen unser Sozialsystem kaputt. Die Neger verleiten unsere Kinder zum Drogenkonsum. Die Spekulanten ruinieren unsere Wirtschaft.

Dass jede gesellschaftliche Beanstandung sogleich zu den Subjekten führt und sie als Schuldige benennt, ist naheliegend in einer Gesellschaft, die davon ausgeht, dass Subjekte die entscheidende gesellschaftliche Kraft sind. Dort, wo die Illusion von freier Wille und Selbstbestimmung Voraussetzung für das Selbstwertgefühl der Menschen ist, ist diese personelle Zuschreibung fast zwingend. Über die Schuldigen wird sodann demokratisch gestritten und abgestimmt. Dass jemand schuld ist, daran besteht allerdings kein Zweifel, das bleibt unhinterfragte Voraussetzung. Wir mögen ganz pluralistisch über die Schuldigen befinden, der Schuldbegriff bleibt unangetastet. Bestimmbare Akteure haben Schuld zu sein. Oder wie Martin Heidegger es in ontologischer Unschuld ausdrückt: „Alle Gewissenserfahrungen und -auslegungen sind darin einig, dass die , Stimme‘ des Gewissens irgendwie von , Schuld‘ spricht.“

In der Ökonomie meint Schulden das Noch-Nicht-Bezahlte. Unschuldig kann man demnach nur werden, wenn man permanent zahlt, also zahlungsfähig und zahlungswillig ist. Mit Geld betreibt man einen weltlichen Ablasshandel von möglicher Schuld. Auch das verräterische Gerede von „unschuldigen Opfern“ lässt sich dechiffrieren als der Wunsch nach Bestrafung schuldiger Opfer. Wie Kriminelle gilt es sie schuldig zu sprechen. Niemand bedient nun diese Vorurteile so ausgezeichnet wie die Populisten. Die sprechen Klartext und benennen in aller Offenheit die Schuldigen. Insbesondere ihre Fans wissen das und dürsten danach. Die Frage ist nie: „Was ist? “ oder „Was ist warum? „, sondern „Wer ist schuldig? „, was meint: „Wer opfert uns? “ und „Wen sollen wir opfern? “ Jede Diskussion über Löhne und Renten, über Zuwendungen und Streichungen im Sozialbereich führt uns das plastisch vor Augen. Die Inspiration und Positivsetzung von Schuld und Sühne, und natürlich auch des Opfers, rührt zweifellos aus dem abendländischen Christentum. Dort wird das Kreuz, das wir zu tragen haben, ja geradezu opfersüchtig angebetet. Im Wert hat es sich nur säkularisiert.

Dass vielleicht Strukturen existieren, die Menschen in quasi absolute Abhängigkeiten zwingen und Befangenheiten herstellen (Geld haben müssen; sich am Markt zu verkaufen; positiv zu denken; der Nation als Staatsbürger zu gehören und zu gehorchen, also z. B. in den Krieg geschickt zu werden), das wird gar nicht richtig wahrgenommen. Nicht Beziehungen werden betrachtet, nicht Zusammenhänge aufgezeigt, sondern kausale Ursache-Wirkung-Prinzipien unterstellt. Der gesunde Menschenverstand feiert Hochkonjunktur. Seine Überträger versichern sich gegenseitig diverser Ungeheuerlichkeiten. In dieser Betrachtungsweise haben Missstände mit Zuständen nichts zu tun. Dafür deckt man Verursacher auf, skandalisiert das Ereignis und kriminalisiert die Beteiligten. Eigenes Leiden soll dadurch gelindert werden, indem man versucht, die, die man nicht leiden kann, leiden zu lassen.

Die Brutalisierung der Kommunikation in der Kulturindustrie läuft synchron zur Brutalisierung in der Konkurrenz, einer Konkurrenz, die jede sozialdemokratische Betulichkeit und sozialstaatliche Absicherung abwerfen will. Politik ist diesbezüglich immer mehr zu einer Sparte der Unterhaltungsindustrie abgesunken. Gegner, die als Feinde vorgeführt werden, werden verhöhnt und verbal erledigt: Dort ist der Populist in seinem Element. Und dieses Element ist das Leid, das durch systematische Beleidigung den inkriminierten Gruppen und ihren Exponenten zugefügt wird. Seine Leidenschaft besteht darin, dass er andere leiden lässt. Daran erbauen sich seine Fans. Meute will Beute. Das Publikum beginnt zu johlen und zu stampfen, demonstriert damit, wie es beisammen ist. Die akklamierte Inszenierung der Populisten verweist auf die Pathologie der Gesellschaft.

Diese Leidenschaft will im wahrsten Sinne des Wortes Leiden schaffen, nicht abschaffen. Es handelt sich dabei sowohl um masochistische als auch sadistische Bedürfnisse. Letztlich um einen Kannibalismus der Leidenschaften. Populisten wie Jörg Haider sind diesbezüglich hervorragende Transformatoren. Während konventionelle Politiker von Komplexität reden, Ausflüchte gebrauchen, zu Vorsicht mahnen, Kommissionen bilden, machen jene die Exorzisten. Und diese Figur ist – man sehe fern – ein positives Identifikationsobjekt, sei es ein kalifornischer Cop oder ein deutscher Autobahnpolizist. Alle gieren nach den Ordnungsmachern. Die Rambos haben Saison, werfen wir nur einen Blick ins Fernsehprogramm, das heute zweifellos mehr aussagt als jedes Parteiprogramm. Was die Masse ganz entschieden ausmacht, ist der unentwegte Schrei nach dem Opfer.

Daher ist auch Setzung des Schreis, wie John Holloway sie vornimmt, äußerst problematisch. Für Holloway ist „der Schrei ein Schrei-gegen“. „Er ist Verweigerung, eine Negation der Unterordnung. Er ist Schrei der Auflehnung, das Gemurmel der Nicht-Unterordnung.“ Das grenzt an Wunschdenken, vor allem in der pathetischen Absolutierung, in der es hier vorgetragen wird. Der Schrei, den wir hören, kommt vielfach schon als Heimzahlen, als Revanche, als Rache, als Recht in die Welt. Er mag verständlich sein, aber auch er kann nicht unberührt oder authentisch sein, erst die Reflexion könnte ihn zu einem emanzipatorischen Fixpunkt machen, aber dann ist es wohl kein Schrei mehr. Nicht dass der Schrei nachträglich manipuliert werden könnte, ist von vorrangiger Bedeutung, sondern dass er als unmittelbare Reaktion durch und durch gesellschaftliche geprägt ist. Der Schrei gegen das Leid ist so oft ein Schrei nach dem Leid.

Der uns bekannteste Widerschrei ist übrigens der nach Gerechtigkeit. In der Anrufung der Gerechtigkeit ist das Andere schon ausgelöscht, eben weil jene ein Prinzip diesseitiger Proportionalisierung ist. Dieser Schrei nach Gerechtigkeit ist kein natürliches Empfinden, das den Menschen innewohnt, sondern spiegelt die Zurichtung der bürgerlicher Subjekte auf einen bestimmten idealisierten Verhaltenskodex wider. Diese meinen geradezu fanatisch, Gleiches müsse mit Gleichem abgegolten werden. Beklagt wird letztlich ein Verstoß gegen die Marktgesetze, gefordert wird deren Erfüllung. Gerechtigkeit meint die jeweilige Einlösung eines realisierten oder idealisierten Werts.

Der Schrei wird in der Gesellschaft auch nicht als „unzulässig ausgegeben“ , im Gegenteil, er wird vielfach protegiert. Ja, der Schrei ist in gewisser Weise sogar zu einem Schlager der Kulturindustrie geworden, sie hat ihn regelrecht kommerzialisiert. Nirgendwann wurde so viel geschrieen. Kein Schrei, der nicht übertönt werden kann. Keine Gesellschaft war bisher so laut wie die bürgerliche. Ihr Dröhnen wäre unüberhörbar, hörten wir es nicht täglich. Der Kapitalismus ist die systematisierte Industrie des Schreis, denken wir an den letzten Schrei in der Mode oder überhaupt das ganze marktschreierische Verhalten in Reklame und Medien. Schon die Kleinkinder sind auf das Schreien programmiert. Wenn sie etwas haben wollen, dann plärren, platzen, weinen sie, bis sie es kriegen. Meistens – wie könnte es anders sein – orientieren sich ihre Wünsche an den neuesten Markenprodukten und Unterhaltungsfilmen, also am aktuellen Unsinn, an dem sie teilhaben möchten. Und die Eltern geben dem affirmativen Geschrei meistens nach, anstatt sich in praktischer Negation zu üben. Aber das sind hier nur Rudimente einer Kritik des Schreis.

Zusammenfassend können Leid und Schrei Nährstoff, ja Treibmittel theoretischer Kritik und emanzipatorischer Praxis sein. Die Akzentverschiebung weg von einer objektivistischen Sicht der Dinge, die einen auf Seiten von Fortschritt und Geschichte wähnt, ist durchaus zu begrüßen. Ebenso, dass nicht gleich die Härte der Kader gegen die Verhärtung der Gesellschaft propagiert, sondern das Individuum als sensibles Zentrum gesetzt wird. Freilich ist damit die Frage nach den Möglichkeiten nicht entsorgt oder einfach im Wollen aufgehoben. Aber um etwas anderes zu erreichen, muss es gewollt werden, sonst wird es nichts. Leid und Schrei drücken aber mitnichten die enorme Qualität aus, auf die es sich nun unablässig zu orientieren gilt. Im Gegenteil, von solcher Fixierung ist abzuraten. Strategisch offensiv kann eine transvolutionäre Kraft nur werden, wenn sie neben leidenschaftlicher Kritik eine Perspektive setzen kann, die anstrebbar und verwirklichbar erscheint, und somit Akzeptanz findet. Wird diese Ebene nicht erreicht, wird es keine Emanzipation geben. Weder mit Ideologiekritik, aber auch nicht mit Leid und Schrei ist diese ausreichend bestimmt. Wenn das Individuum etwas entscheidend motivieren sollte, dann nicht das Wissen, was es zu erleiden hat, und dass es schreien soll, sondern wie ein gutes Leben jenseits des Kapitals ausschauen könnte und welche Schritte gesetzt werden müssen. Die Entschlossenheit der Abschaffung ist nur durch die Entschlossenheit einer Schaffung evozierbar.

12: Opfer und Täter

Das Konkurrenzprinzip könnte bei näherer Betrachtung zerlegt werden in das Sich-Opfern, um andere opfern zu können. Konkurrenz ist säkularisiertes Opfern. Das was man anderen antun möchte, muss man gleichzeitig sich antun, um jenes bewerkstelligen zu können. Um übrig zu bleiben, zu überleben im Konkurrenzkampf, ist es notwendig, ausreichend Energie für das Opfern zu verwenden. Die Konkurrenz ist der Zuchtmeister der Opferbereitschaft und der Markt ist sein Trainingslager. In diesem Realszenario geht es darum, sich und andere dem Leid zu überantworten. Andere leiden zu sehen, erzeugt nicht Mitleid, sondern erregt Leidenschaft. Der Fan ist nun der Affirmatiker par excellence, dessen Idealtypus. In ihm wird der zaghafte, ja verzagte Verteidiger (seiner selbst) zum Stürmer (gegen die anderen). Der Erniedrigte erhöht sich, indem er andere zu erniedrigen versucht oder, denken wir an unseren Fall: niedermachen lässt. Das Opfer schreit nach Opfern. Dativ Plural wie Dativ Singular. Substantiv wie Verb.

Man setze sich nur vor die Flimmerkiste. Vor allem in den Reality-Serien oder diversen Talkshows ereifern sich die Leute, wenn ihresgleichen gedemütigt und drangsaliert, verarscht und zugerichtet werden. Die Quoten sind umso höher, je irrer und übler dieses Spiel getrieben wird. Freude ist nur noch als Schadenfreude erlebbar. Um auf die Kosten zu kommen, muss jemandem weh getan werden. Dort, wo das Leben ein permanenter Opfergang sein soll, wird dieses Leiden nicht als solches begriffen. Positiv denken meint unter anderem auch, das eigene Leid und das der anderen nicht mehr beklagen zu dürfen, ja beklagen zu können. Der Mangel an Klage beseitigt freilich nicht die Angst, er verdrängt und bestärkt sie bloß, eben weil sie nicht einmal mehr zu ihrem adäquaten Ausdruck finden kann. Insgesamt versucht das positive Denken betreffend das Leid folgende Strategien: a) das Leiden soll gar nicht erst als solches empfunden werden; b) das Leiden ist einfach zu wollen; c) das Leiden ist zu projizieren; d) andere sollen (ebenfalls) leiden.

Leute, die wissen, dass sie geopfert werden könnten, empfinden natürlich Angst. Die Furcht etwa vor der Entwertung, sei es der Verlust der Auftrags oder des Arbeitsplatzes, gehört zu den meistverbreitetsten Ängsten. Die Geängstigten versuchen dem Opfer dadurch zu entgehen, indem sie selbst Angst verbreiten und anderen das Fürchten lernen, z. B. durch Mobbing, das ja nichts anderes darstellt als die praktische Umkehrung von Solidarität. Entsicherung wird jedenfalls allseitig. Das bürgerliche Subjekt tut genau das, wovor es sich fürchtet. Der kategorische Imperativ Kants funktioniert, aber invers. Tu es ihnen an, denn sonst tun sie es dir an! Tun funktioniert hier als ein Antun. Es geht um die Schädigung der Anderen zur Würdigung und In-Wert-Setzung des Eigenen. Nackt betrachtet ist das bürgerliche Konkurrenzsubjekt der verängstigte Angstmacher, der verletzte Verletzer, der verhetzte Verhetzer.

Es ist schon makaber: Die Furcht vor der Opferung treibt einen geradewegs in diese hinein. Täter werden zu Tätern, weil sie auch Opfer sind und immer wieder sein könnten, weil ihnen diese Opferung als eherne Konstante des Lebens gegenübertritt. Ihrer Opferung wollen sie entgehen, indem sie andere opfern wollen. Es ist dieses „Fressen oder gefressen werden“, das da seine kapitalistischem Fratze zeigt. Das 20. Jahrhundert kann trotz aller Zivilisationslegenden durchaus als eine große Zeit der Verherrlichung des Opfers gesehen werden. Auch das Schlachten und Abschlachten ist nur möglich gewesen, wenn das dazugehörige Personal einen Sinn darin sieht, eben kein „sinnloses Opfer“ (übrigens auch so eine demaskierende Phrase). Ja, es diente geradezu zur moralischen und emotionalen Erbauung. Von der Philosophie bis zur Musik wurde dieses Ritual geistig wie ästhetisch vorbereitet. Man lese etwa folgende Stelle bei Martin Heidegger, wo einmal mehr der Vorrang des Seins vor dem Seienden seine ganze Böswilligkeit zeigt, wird es nur richtig verstanden: „Das Opfer ist die allem Zwang enthobene, weil aus dem Abgrund der Freiheit erstehende Verschwendung des Menschenwesens in die Wahrung der Wahrheit des Seins für das Seiende. Im Opfer ereignet sich der verborgene Dank, der einzig die Huld würdigt, als welche das Sein sich dem Wesen des Menschen im Denken übereignet hat, damit dieser in dem Bezug zum Sein die Wächterschaft des Seins übernähme.“ Auch in Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ (1913) , einem der Schlüsselwerke des letzten Jahrhunderts, finden wir eine Glorifizierung des Opfers und der Opferung: „Subjektivität nimmt bei Strawinsky den Charakter des Opfers an, aber – und darin mokiert er sich über die Tradition humanistischer Kunst – Musik identifiziert sich nicht mit diesem sondern mit der vernichtenden Instanz.“ Adorno spricht von „der Liquidation des Individuums, die Strawinskys Musik zelebriert“.

Die vorgegebene Struktur wird als Natur hingenommen, nein besser noch: hergerichtet, – und in der Natur, wir kennen sie doch alle, ist es so. Nur den Ort könne eins – vorausgesetzt es verfügt über die nötigen Geschicke – selbst bestimmen. Da geht es dann um Durchsetzung. Die Konkurrenz gleicht einem organischen Trieb: Entweder gehörst du zu den Siegern oder zu den Verlierern. Ein drittes ist ausgeschlossen. Wer die anderen nicht niedermacht, wird niedergemacht. Adorno nicht nur gegen Heidegger gewandt: „Identifikation mit dem Unausweichlichen ist, als Opfer, der ganze Trost der tröstlichen Philosophie: die letzte Identität. Aufgewertet wird das zerschlissene Prinzip der Selbstsetzung des Ichs, das stolz sich durchhält, indem es sein Leben bewahrt auf Kosten der anderen, durch den Tod, der es auslöscht.“

Das Tätern ist ein Opfern und das Opfern ist ein Tätern. Man könnte die Täter-Opfer-Dialektik in verschiedenen Aussagesätzen mit dem doch jeweils gleichen Ziel auffächern:

1)Täter erfassen Opfer als Opfer und möchten sie opfern.

2) Täter erfassen Opfer als Täter und möchten sie opfern.

3) Opfer erfassen Täter als Täter und möchten sie opfern.

4) Opfer erfassen Täter als Opfer und möchten sie opfern.

5) Täter erfassen Täter als Täter und möchten sie opfern.

6) Opfer erfassen Opfer als Opfer und möchten sie opfern.

7) Täter erfassen Täter als Opfer und möchten sie opfern.

8) Opfer erfassen Opfer als Täter und möchten sie opfern.

Hier wird nur die obligate Fantasie der gesellschaftlichen Träger auf die Grundconclusio der Opferung gebracht, denn auf dieses ist es auch zu bringen. Fazit: Täter und Opfer spüren sich als ihresgleichen. Sie erschaudern ob der potenziellen Identität, und möchten daher maximale Differenz herstellen. Das Opfer hingegen bleibt unhinterfragt, aber um die jeweilige Position beim Ritual entbrennt ein heißer Kampf.

Die Sprache der politischen Ökonomie ist sowieso eine des Krieges. Konkurrent A sagt zu Konkurrent B: „Auch du hättest den Zuschlag erhalten können, aber ich habe zugeschlagen.“ Wer am Markt nicht zuschlägt, den erschlägt derselbe. Jenes intuitive Muster will sich aller Handlungen bemächtigen. Diese Rationalität ist jene der Subjekte. Sie wissen es nicht, aber sie handeln dementsprechend. Was als Triebstruktur erscheint, ist aber eigentlich ein soziales Betriebssystem, das sich ihnen durch menschliche Setzungen als automatisch und sakrosankt aufherrscht.

Täter als Opfer anzuerkennen, hat übrigens nichts mit einer prophylaktischen Entschuldigung oder nachträglichen Rechtfertigung ihres Handelns zu tun. Da wird auch nicht Unvergleichbares verglichen und schon gar nicht gleichgesetzt, wohl aber das substanzielle und allgemeine Wesen dieses ehernen Konkurrenzzwangs zur Exklusion deutlich gemacht. Was wäre auch die Alternative? Alle möglichen Täter abzustrafen oder gar vorsorglich zu erledigen. Abgesehen, dass das sowieso nicht ginge, wäre damit das Problem nicht nur nicht aus der Welt, sondern das üble Spiel wäre weitergespielt, könnte doch nur eine Phalanx von Tätern diese möglichen Täter zur Strecke bringen. Das Opfern wäre somit nicht unterbrochen, geschweige denn überwunden, sondern es hätte sich einmal mehr prolongiert.

Freilich hat es eine Situation gegeben, die selbst die irre Dialektik des Kampfes negativ sprengte. Die Vernichtungslager der Nationalsozialisten versuchten das „reine Opfer“ und den „reinen Täter“ zu kreieren. Hier fand auch keine Schlacht statt, sondern eine Abschlachtung. Im Kampf hingegen muss jeder potenzielle Täter damit rechnen auch zum Opfer zu werden. Die Dialektik ist intakt, auch bei größtmöglichem Ungleichgewicht. Anders auf der Rampe in Auschwitz, wo sich entmenschte „Tätergötter“ und „Opfertiere“ gegenüberstanden, wo die Dialektik von Opfer und Täter zur puren Metaphysik wird, eben weil totale Trennung gegeben war, das eine sich nicht mehr im anderen fand, absolute Differenz hergestellt wurde. Die Tragik offenbarte sich in einer doppelten Entmenschung: Die Opfer durften keine Menschen mehr sein und die Täter waren keine Menschen mehr. Nie wurde der Menschheit bis dahin solches angetan.

Nicht erst in extremen Lagen gilt es „Nein! “ zu sagen, sondern schon vorher, wo es auch leichter ist. Es gilt ganz kategorisch das “ Nein! “ einzubringen, explizit wie implizit, in der Fabrik, im Büro, am Markt, in der Kommunikation. Auch wenn dieser Anspruch unmittelbar schwer einlösbar ist, muss in diese Richtung einiges unternommen werden. Das Unsagbare soll zum Tragfähigen werden, daher ist es so oft wie möglich auszusprechen. Von den Menschen ist zu fordern, dass sie in ihr Leben eintreten und die Abläufe ihrer Subjekte durchkreuzen. Nicht nur der Befehl, auch der Gehorsam muss denunziert werden. Weder sind Schuldige zu suchen, noch Entschuldigungen zu akzeptieren. Subversive „Nein-Programme“ sind zu entdecken und zu entwerfen. Das System ist nicht nur anzugreifen, es ist auch zu unterlaufen. Kritische Praxis meint Auseinandersetzung und Zersetzung als unteilbaren Prozess.

Das banale: „Lasst uns aufhören mit dem Opfern! „, kann jedoch nicht kommen in einer Gesellschaft, die den Zwang zum Opfern internalisiert und ritualisiert hat. Das Opfer erscheint den heutigen Gesellschaftsgliedern als Bedingung ihres Daseins, und das ist es auch, aber nicht als natürliche Grundlage, sondern nur betreffend einer spezifischen Struktur, in der wir uns bewegen. Es ist also demokratisch betrachtet keine Untugend, die sich hier breit macht, sondern eine Verpflichtung gegenüber der Form. Emanzipatorisches Ziel ist es, nicht nur nicht Opfer sein zu wollen, sondern das Opfern überhaupt zu überwinden. Schauen wir was da ist, schauen wir was machbar ist, schauen wir, dass alle etwas haben; und wenn es wo eng wird, lasst uns eine Teilung beschließen. Was anstünde, wäre die Verallgemeinerung der Gunst (die absolut nichts gemein hat mit dem besonders Günstigen). Jemand anderem etwas zu vergönnen, wird heute gemeinhin als Drohung aufgefasst, ist also negativ zu verstehen, bedeutet Missgunst nicht Gunst. Gönner sein, das sollen wir nicht dürfen.

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