von Ernst Lohoff & Maria Wölflingseder
Kein Tag vergeht, an dem PolitikerInnen, Arbeitgeberverbände oder irgendwelche so genannte WirtschaftsexpertInnen nicht mit neuen Vorschlägen zur „Rettung des Sozialstaats“ und zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage aufwarten würden. Der Begriff „sozial“ macht einen grundlegenden Bedeutungswechsel durch. Früher bezeichnete „sozial“ eine Pflicht der Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern. Heute steht das Wörtchen „sozial“ umgekehrt für die Fürsorgepflicht der Gesellschaftsmitglieder gegenüber der kapitalistischen Gesamtmaschine.
Der Sozialstaat, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, war darauf ausgerichtet, die Abhängigkeit der Arbeitskraftbesitzer vom Verkauf ihrer Arbeitskraft kollektiv abzufedern. An die Stelle kollektiver und dadurch gemilderter Abhängigkeit vom Markt tritt heute in allen kapitalistischen Ländern die konsequent individualisierte Auslieferung. Im herrschenden orwellschen Neusprech formuliert, lautet das Motto dieses Umbaus: „Wo Lohnnebenkosten sind, soll Eigenverantwortung werden.“ Die Menschen müssen endlich lernen, wie toll die Segnungen dieser neuen Freiheit sind, diese auch nützen und sich nur voll in die Arbeit knien, dann wird schon alles gut. „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.“ Doch die schöne neue Marktwirtschaft will nicht so recht den Wohlstand für alle bringen. Sie erkennt nur das als gesellschaftlich gültig an, was sich kaufen und verkaufen lässt. Alles andere ist wertlos und im Prinzip zur Vernichtung freigegeben. Die so genannte Plünderungsökonomie ist in ihr grundgelegt. Die kapitalistische Gesellschaft hat einen durch und durch irrationalen und destruktiven Grundcharakter.
Die Arbeitsgesellschaft deklariert willkürlich einige Tätigkeiten als Arbeit, andere dagegen als Hobby oder Privatsache. Gerade die unter „Arbeit“ subsumierten Tätigkeiten sind für die menschliche Reproduktion oft komplett unnötig, ja widersinnig. Sie sind Zeit raubend, nervtötend, krankmachend, ja massenhaft tödlich und Natur zerstörend.
Die Versprechungen von Glück und Freiheit sind stets warenförmig: Wir haben die Freiheit zwischen 70 Fernsehprogrammen wählen zu können, zwischen 30 Telefontarifen oder zwischen 20 Sorten Katzenfutter. Die Freiheit, in einer gesunden Umwelt zu leben, unvergiftete Lebensmittel zu essen, Zeit und Muße zu haben, geschweige denn, ohne Job bzw. ohne Geld eine Lebensberechtigung zu haben, die haben wir nicht.
Marionetten des Marktes
Körper und Geist sind zum Ich-Kapital, zur Ich-Aktie mutiert, zur Marionette des Marktes. Liebe, Sex und Sinnlichkeit, ja sogar das Schlafen mutieren mehr und mehr zum Produktivitätsfaktor. Innere Leere und Erschöpfung sind größer denn je.
Immer mehr Lebensäußerungen und Naturressourcen, die bisher nicht für kommerzialisierbar gehalten wurden, werden in die Warenform gepresst: der Verkauf von Luftverschmutzungskontingenten; die Patentierung aller menschlichen, tierischen und pflanzlichen Gene; menschliche Organ werden gehandelt; Kinder werden entführt, um sie als „Ersatzteillager“ auszuschlachten. Zwischenmenschliche Zuwendung wird immer öfter gegen Geld erworben: in Form von Therapien aller Art, in Form von Lach-, Flirt- und Trauerseminaren, in Form von Massagen, Partnervermittlung und Prostitution. Eltern reichen gar im tschechischen Grenzgebiet ihre Kleinkinder österreichischen und deutschen Männern zur Prostitution durchs Autofenster, – so groß ist die finanzielle Not bereits auch hier.
Ist es nicht pervers: niemand wünscht sich und anderen all das, aber alle spielen mit. Jeder nimmt seine Rolle ein – gemäß den „Sachzwängen“, wie die menschenverachtenden Gesetze des Kapitalismus verharmlosend genannt werden. Alle wissen, dass es so nicht weitergeht, dass es so nicht weitergehen kann, ohne noch mehr Elend und Leid herbeizuführen. Dennoch machen alle weiter wie bisher, – als ob sich alles bald wieder zum Guten wenden würde. Wir sind doch alle so politisch korrekt, aber all den himmelschreienden Wahnsinn nehmen wir seltsam ruhig hin.
Dem Kapitalismus geht die Puste aus
Im Kapitalismus sind Leben und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ein Abfallprodukt der Profitproduktion und der Teilnahme an der großen Arbeitsmühle. Sie können und dürfen nichts anderes sein. Die Linke hat an diesem Dogma bis heute nicht ernsthaft gekratzt. Seit dem 19. Jahrhundert hat sie sich selber positiv auf die Arbeit bezogen. Sie hat dafür gekämpft, der Arbeit und den Arbeitenden zu ihrem Recht zu verhelfen. Auch der Konflikt zwischen Reformisten und Revolutionären war innerhalb dieses Horizonts angesiedelt. Die einen wollten die bestehende kapitalistische Arbeitsmühle menschlicher gestalten, die anderen eine eigene aufmachen.
Im Zeitalter der Massenarbeit war es immerhin möglich, unter dem Banner der Arbeit für bessere allgemeine Lebensbedingungen zu kämpfen. Es gab so etwas wie Solidarität auf der Grundlage der Unterwerfung unter das Arbeitsdiktat. Angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft nimmt die Forderung „Recht auf Arbeit“ eine andere Bedeutung an. Der Schrei nach Arbeit ist der Schrei, in der entfesselten Konkurrenz und im allgemeinen Vernichtungswettbewerb um jeden Preis im Rennen zu bleiben. Die Arbeit entpuppt sich in der Krise der Arbeitsgesellschaft als von vornherein asozial und trennend. Dem Konkurrenzprinzip kann im Kapitalismus niemand entkommen. Das liegt nicht am fehlenden guten Willen, sondern am Grundcharakter dieser Gesellschaftsform.
Die Forderung nach menschlicheren Lebensbedingungen kann heute nur noch heißen: Angriff auf die Herrschaft von Arbeit und Ökonomie. Wenn es wieder Solidarität geben soll, ist gemeinsamer Widerstand gegen den Terror von Arbeit und Ökonomie unumgänglich.
Selbstbestimmte Produktion – selbstbestimmtes Leben
Wir leben in einer Gesellschaft, die mit immer weniger Arbeit immer mehr Güter produzieren kann. Warum sollen da am überbordenden stofflichen Reichtum nur jene teilhaben dürfen, die einen Arbeitsplatz ergattern konnten? Die Vollbeschäftigungsperspektive ist eine Fata Morgana. Die Zeit, in der das Kapital nach massenhafter lebendiger Arbeit gierte, ist vorbei. Diese Tatsache wird dauernd weghalluziniert und Arbeitslosigkeit zur privaten Schuld der vielen Arbeitslosen umdefiniert. Das ist zu benennen und zu kritisieren. Die Ökonomie kennt nur ein Gebot: die Minimierung der einzelbetrieblichen Kosten. Die Natur, die Arbeitenden und die Gesellschaft haben für diese Minimierung einen hohen Preis zu entrichten, und er steigt ständig. Politik und Wirtschaft halten es für selbstverständlich, dass die ökonomischen Kriterien den Vorrang vor allen anderen haben.
Wer gegen diese Verrücktheiten etwas unternehmen will, kann sich nicht mit einer Kritik an den politischen und wirtschaftlichen Machthabern begnügen. Die Verrücktheiten der derzeitigen Diskussion wurzeln in der verrückten Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaft. Die Herrschaft der Arbeit kritisieren heißt, diese Grundstruktur zum Thema zu machen. Gegenüber dem traditionellen Antikapitalismus bedeutet das eine grundsätzliche Verschiebung der Perspektive, die wir hier nur andeuten können. Im Zentrum des traditionellen Antikapitalismus stand bekanntlich stets die „Ausbeutung der Arbeit“. Das Kapital wurde kritisiert, weil es sich den von anderen erarbeiteten Reichtum aneignet. Das eigentliche Problem liegt aber tiefer, nämlich im Charakter von gesellschaftlichem Reichtum unter kapitalistischen Bedingungen.
Reichtum existiert in der modernen kapitalistischen Gesellschaft stets doppelt, als sinnlich stofflicher Reichtum und als Geldreichtum. Wie jede andere kommt auch diese Gesellschaft nicht umhin, Güter zu produzieren. Was das Aufhäufen von materiellen Güterbergen angeht, zeigt sich die kapitalistische Gesellschaft sogar sämtlichen Vorgängern gegenüber haushoch überlegen. In der kapitalistischen Gesellschaft existiert der sinnlich-stoffliche Reichtum aber nie als er selber. Daseinsberechtigung hat er nur als Repräsentant seines Pendants, des abstrakten Geldreichtums. Der Geldreichtum der Gesellschaft entspringt aber letztendlich nichts anderem als kapitalistisch vernutzter lebendiger Arbeit.
Das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft hängt dieser seltsamen Logik entsprechend nicht davon ab, ob sie in der Lage ist, genug Gebrauchsgüter für alle bereitzustellen; das wäre überhaupt kein Problem. Ihr Funktionieren steht und fällt damit, dass sie genug lebendige Arbeit absorbieren kann, die sich dann in tote Arbeit, also in Kapital, also in Geld verwandelt. Das ist jedoch ein massives Problem, genauer gesagt: ein unlösbares. Mit der Krise der Arbeit schwinden keineswegs die Möglichkeiten zur stofflichen Güterproduktion dahin, im Gegenteil. Sie markiert aber den historischen Punkt, an dem sinnlich-stofflicher Reichtum und Geldreichtum auseinandertreten und nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Die allgemeine Finanzierungskrise ist folglich keine Erfindung übel wollender Herrschender. Sie ist die logische Folge der Entkoppelung der Reichtumsproduktion von der Arbeit.
Die Forderung, die Politik müsse wieder mehr Verantwortung übernehmen, zeugt also von wenig Kenntnis über das Wesen des Kapitalismus. Die mörderische Warenlogik ist universal geworden. Der Wert ist kein krudes wirtschaftliches Ding, sondern totale gesellschaftliche Form, also auch Subjekt- und Denkform. Was soll denn Politik heute ausrichten? Politik und mit ihr Demokratie sind Hand in Hand mit dem Kapital groß geworden. Sie sind ehern aneinander gebunden. Dass Demokratie, Marktwirtschaft und (Menschen-)Rechte nur Wurmfortsätze des Kapitalismus sind, will niemand wahrhaben. Das moderne demokratische Bewusstsein ist Ausdruck des zu sich gekommenen universellen warenförmigen Denkens, das seine eigenen Schranken nicht einmal mehr erkennen kann und sich deshalb jede Lösung der sozialen Probleme nur auf der Basis von Arbeit und Geld im Rahmen des Wirtschaftswachstums vorstellen kann. Die meisten Menschen können sich eine selbstbestimmte Produktion und Verteilung von Gütern ohne Tausch und ohne Zwang nicht vorstellen. Woher rührt bloß die panische Angst, über die todbringende Logik des kapitalistischen Systems hinauszudenken?
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DEAD MEN WORKING, ,
hg. von Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, Karl-Heinz Lewed, Maria Wölflingseder
Unrast Verlag, Münster 2004, 302 Seiten, 18,60 Euro