ZU CHRISTIAN FELBER UND DER PENSIONSDEBATTE
Streifzüge 3/2003
von Andreas Exner
Alle wollen sie reformieren. Die Pensionen. Ob Schwarz, ob Blau, von Rot bis Grün. Reform jedoch ist heutzutage eine Drohung. Im Fall der Alterssicherung läuft sie auf eine Demontage des solidarischen Umlageverfahrens hinaus. Als Erklärung für diesen Anschlag auf unseren Lebensstandard sollen wir uns mit „Sachzwängen“ abspeisen lassen. Da sind sich im Grunde alle Parteien einig. Attac hingegen will das Umlageverfahren erhalten. Doch in den demokratischen Polit-Büros nimmt das niemand wirklich ernst. Die Frage stellt sich also: Wollen sie nichts anderes oder können sie nicht anders?
Ende Juni erschien in der Wochenendbeilage des Standard „Eine kleine Pensionenmythologie“, ein Artikel über die Zukunft unserer Pensionen. (1) Im Unterschied zur üblichen Propaganda für private „Vorsorgeprodukte“ wird darin für die Beibehaltung des staatlich organisierten Umlageverfahrens argumentiert. Der Autor ist Christian Felber, Gründungsmitglied und Pressesprecher von Attac. Zwar nennt er alle Pferdefüße der Privatpension beim Namen, scheint aber – interessant genug – mit dem Volksmund übereinzustimmen, der da sagt: Das Umlageverfahren ist nicht finanzierbar. So wird denn eine ganze Reihe „Schräubchen“ aufgelistet, an denen die Politik zu „drehen“ hätte, „um das Umlageverfahren finanzierbar zu halten„. Woraus folgt, dass es ohne Schraubstock nicht zu halten ist. Überraschenderweise gelangt Felber jedoch geradewegs zum Gegenteil, allen Anstrengungen der Feinmechanik zum Trotz: Das Werkel nämlich laufe eigentlich ganz reibungslos, das Umlageverfahren strotze vor Finanzkraft; auch könnte das in Hinkunft sicherlich so bleiben, wäre nur der politische Unwille nicht davor.
Uns zukünftigen PensionärInnen ist das zweifellos eine Beruhigung. Was uns im Licht der harten Globalisierungsrealität aber beunruhigt, das sind die Voraussetzungen, die der Autor macht. Still sind sie, so still, dass sie gar keiner Diskussion zu bedürfen scheinen. Diese wollen wir hiermit nachholen.
Wo bleibt die Arbeit?
„Das Umlageverfahren ist dann gesund, wenn die Arbeitslosigkeit möglichst niedrig und die Beschäftigung möglichst hoch ist; und wenn Löhne und Gehälter möglichst rasch steigen„, so lesen wir. Da haben wir also unsere zwei kleinen Probleme, pardon, Schräubchen: Arbeit und Geld. Bekanntlich haben wir von beidem zuwenig. Und werden wir auch immer weniger haben. Wenn wir nämlich die Entwicklung der letzten 30 Jahre fortschreiben, die Felber gerade für die Behauptung des Gegenteils, jene würden uns weiter über den Kopf wachsen und so das Umlageverfahren über Wasser halten, ins Treffen führt.
Was sagt uns die Statistik? Wie in allen anderen Ländern steigt in Österreich die Arbeitslosigkeit seit Anfang der siebziger Jahre. 1975 beträgt die Arbeitslosenzahl 55.500 (Arbeitslosenrate 2 Prozent), 1985 sind es 139.400 (4,8 Prozent), 1995 schon 215.700 (6,6 Prozent) und 2001 203.900 (6,1 Prozent). (2) In anderen Industriestaaten ist der Trend genau derselbe. Für die G7 betragen die Arbeitslosenqoten im Zeitraum von 1950 bis 1973 3,1 Prozent, im Zeitraum 1973-1993 hingegen bereits das Doppelte, nämlich 6,2 Prozent. (3) Die Zuwachsrate der Erwerbsquote hat sich in Österreich im Vergleich zu den achtziger Jahren deutlich verlangsamt, sie scheint seit dem Jahr 1994 ein Plateau erreicht zu haben (Grafik 1). Der langfristige Trend wird anhand von Daten der österreichischen Volkszählung sichtbar: Demnach betrug die Erwerbsquote 1971 41,8 Prozent und stieg bis 1981 um 3,4 Prozent auf 45,2 Prozent. Zwischen 1981 und 1991 wuchs sie hingegen nur mehr um 2,1 Prozent auf 47,3 Prozent. (4)
Bedenken wir, dass Felber „zwei Drittel des demografischen Problems“ für gelöst hält, wäre erst die Kleinigkeit einer Anhebung der Erwerbsquote erledigt, droht unser Vertrauen in das Umlageverfahren gewaltig zu schwinden. Ist die bestehende Arbeitslosigkeit ja schon kein Lercherl, so wird auch der Produktivitätsfortschritt nicht so rasch in den Lehnsessel sinken, die Zunahme der Arbeitslosigkeit also fortdauern. Gerade auch in ihren versteckten Formen, die bekanntlich von Statistik-Tricks über Billig- Jobs bis hin zur Teilzeitarbeit reichen.
Wo bleibt die Jugend?
Nach einer Studie des WIFO sollen aufgrund einer Alterung der Bevölkerung die Arbeitskräfte bis 2030 knapp werden. Das Problem der Arbeitslosigkeit würde sich zur Freude unserer Pensionen sozusagen ganz von selbst erledigen. Was hier wie ein Segen aussieht, entpuppt sich an anderer Stelle jedoch als Qual: Zwar ginge die Arbeitslosigkeit aufgrund einer Alterung der Bevölkerung zurück, gleichzeitig stiegen aber die Pro-Kopf-Aufwendungen für die Pensionen. Allerdings könnte der negative Effekt einer alternden Bevölkerung durch ein entsprechendes Reallohnwachstum der Jüngeren kompensiert werden.
Wo bleibt der Lohn?
Was den einen die Waffe der Kritik, das sind den anderen die Waffen der Statistik. So beruft sich Felber darauf, dass die Realeinkommen in den letzten dreißig Jahren um das Doppelte gestiegen wären. Keine Logik, vor allem nicht die des Standortwettbewerbs, erlaubt den Schluss, doch Felber meint, die Realeinkommen würden auch in den nächsten dreißig Jahren genau das Gleiche tun wie in den letzten dreißig, nämlich wachsen. Und zwar rasch.
Scheint auch die Sonne mit jedem Aufgang am nächsten Tag ein Stückchen sicherer aufzugehen, in der Ökonomie fehlt uns ganz dezidiert der Glaube ans Gesetz der Serie. Zudem entnehmen wir der Statistik etwas anderes als Felber, ziehen wir nicht einen Durchschnitt über gerade jenen Zeitraum, der eine angenehme Zukunftsprognose erlaubt. Verglichen mit dem „goldenen Zeitalter“ von 1950-1973 bringt die Periode des „langen Abschwungs“ von 1973- 1993 den Beschäftigten der USA, Deutschlands und Japans nämlich ein stagnierendes Reallohnwachstum. Bezogen auf die EU- 11 beträgt das Reallohnwachstum 1960- 1973 noch 5,6 Prozent, 1973-1979 sowie 1979-1990 nur mehr 2,8 Prozent, um in der Periode 1990-2000 auf ganze 0,6 Prozent zu fallen. Für den Zeitraum 1995-2000 beträgt es überhaupt nur 0,3 Prozent. (5) Nicht allein die Zwänge der Globalisierung, in denen Arbeitslöhne nicht mehr als potentielle Nachfrage wirken, sondern bloßer Kostenfaktor sind, lassen jeden Optimismus punkto Reallohnzuwachs übertrieben erscheinen. Auch die zunehmenden Probleme der Weltwirtschaft legen Pessimismus nahe. Immerhin ist es in den letzten dreißig Jahren trotz tiefgreifender und für das Kapital außerordentlich günstiger Gesellschaftsveränderungen nicht gelungen, die Profite wieder auf das Niveau der sechziger Jahre zu bringen. Das aber würde erst die Voraussetzung für stärkere Reallohnzuwächse schaffen. (6)
Wo sind die alten Zeiten?
Noch vor den Schräubchen „Harmonisierung der Pensionssysteme“ und „Anwendung des Verursacherprinzips“ finden wir zwei weitere im Mythenkasten. Erstens eine „Umstellung der Arbeitgeberbeiträge auf Wertschöpfungsbasis“ und zweitens: „Die Globalisierungsgewinne – Kapitaleinkommen, Gewinne, Vermögen – müssen wieder im selben Ausmaß zur Staatsfinanzierung beitragen wie noch vor 30 Jahren – oder wie im EU-Schnitt. In beiden Fällen hätte Österreich einen soliden Budgetüberschuss. “
Zweifellos, das wäre schön. Der internationale Standortwettbewerb ist aber leider keine Lügengeschichte neoliberaler Propaganda- Abteilungen, sondern ökonomisches Faktum des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Dass dieses Faktum politisch hergestellt wurde, heisst nicht, es deshalb auch gleich ignorieren zu können. Nur starker gewerkschaftlicher Druck könnte Regierungen dazu bewegen, eine stärkere Besteuerung von Wertschöpfung und Globalisierungsgewinnen in Angriff zu nehmen. Davon ist aber nichts zu sehen. Denn solange die Gewerkschaften vornehmlich das beschränkte Interesse am puren Arbeitskraftverkauf vertreten, stehen sie bei struktureller Massenarbeitslosigkeit, Individualisierung der Arbeitsverhältnisse, schlechter wirtschaftlicher Lage und freier Beweglichkeit des Geldkapitals auf denkbar schwachen Beinen. Es ist daher nicht Ergebnis politischen Unwillens oder einer neoliberalen Verschwörung, dass die Streikintensität in ausnahmslos allen OECDStaaten im Verlauf der achtziger Jahre drastisch zurückgeht, um sich in den Neunzigern auf sehr niedrigem Niveau zu konsolidieren (Grafik 2, 3). (7) Eine rückläufige Entwicklung zeigt übrigens auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Beschäftigten, ganz gleich ob in den USA, in Frankreich, in Italien oder Deutschland. (8) Selbst wenn eine stärkere Besteuerung von Globalisierungsgewinnen durchsetzbar wäre, so würde sie wohl die gegenwärtigen rezessiven Prozesse beschleunigen und die Finanznot des Staates damit erst recht verstärken.
Kampf der Finanzierbarkeit!
Der kapitalisierte Mensch hält es für das Natürlichste der Welt, seine Bedürfnisse zurückzuschrauben, wenn die Finanzierbarkeit das Handtuch wirft. Wer sich am Kassastand orientiert, der hat dem Diktat der leeren Kassa bereits die Legitimation ver- schafft. An den Schräubchen von Geldtöpfen zu drehen, ist so nur der erste Schritt dazu, den Geldhahn vollends zuzudrehen. Nicht Verständnis für die Finanzierungsnot des Staates ist also zu fordern, sondern ein Verstehen der Zusammenhänge gilt es zu fördern: Machbarkeit und Finanzierbarkeit sind zwei Paar Schuhe; und das erste ist uns davon bei weitem lieber.
Nicht an Schräubchen wollen wir drehen. Vielmehr plädieren wir dafür, den kapitalen Werkzeugkasten über Bord zu werfen, bevor wir selber über die Reling gehen. Machen wir, was machbar ist! Unsere Gesellschaft ist reich genug. Eine Alterssicherung für alle ist problemlos möglich. Die Rückkehr zur Vollbeschäftigung, ewiges Wirtschaftswachstum und endlose Einkommenssteigerungen in einer Gesellschaft, die bereits sichtbar aus den Angeln von Geld und Arbeit bricht, hingegen nicht.
Anmerkungen
(1) Christian Felber (2003): Eine kleine Pensionenmythologie, in: Der Standard, 28. Juni; Zitate aus dem Artikel im Folgenden kursiv.
(2) ILO Labour Statistics, Quelle: Employment Office Records, https://web.archive.org/web/20030621110736/http://laborsta.ilo.org/
(3) Robert, Brenner (2003): Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft. Tab. 1.1. , S. 43.
(4) ILO Labour Statistics, Quelle: Population census, https://web.archive.org/web/20030621110736/http://laborsta.ilo.org/
(5) Robert, Brenner: a. a. O.
(6) Vgl. Robert, Brenner (2003): Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft.
(7) Vgl. Marco, Revelli (1999): Die gesellschaftliche Linke. Jenseits der Zivilisation der Arbeit.
(8) Marco, Revelli a. a. O. ; Robert, Brenner a. a. O.