Streifzüge 3/2003
von Franz Schandl
Das aktuelle politische Geschehen gleicht zusehends einer Hochschaubahn. Zumindest wenn wir uns ihre oberflächlichen Gestaltungen, das Parteiengezänk, die Wahlen und die mediale Verarbeitung so anschauen. In Wahrheit aber liegt die Politik völlig flach.
Was ist bloß mit den Wählern los? Immer weniger wählen, und die, die wählen wissen nicht mehr so recht, wen sie wählen sollen, daher wählen sie mal die einen und mal die anderen. Wobei es puncto letztgenannter Variante selbstredend schon die ersten Sozialwissenschafter gibt, die diese Flexibilisierung der Wählerschaft als deren Emanzipation auslegen. Indes ist dieses Mündig-Werden ein Nicht-mehr-fündig- Werden eines Wollens, das sich noch immer als freier Wille missversteht.
Nicht nur die Nichtwähler laufen in Scharen davon, auch die Wähler haben sich losgebunden und spazieren zunehmend unentschlossen und unlustig durch die politische Szenerie. In Germany etwa sind jetzt wieder viele Richtung Stoiber und Merkel unterwegs, während Schröder und seine SPD voll in den Keller fahren. In Austria hingegen verhält es sich andersrum. Hier gewinnt die oppositionelle SPÖ Wahl für Wahl, manchmal sogar mehr als 10 Prozent, so bei der letzten Landtagswahl in Oberösterreich. Die Partei Alfred Gusenbauers kann zur Zeit vieles falsch machen. Es schadet nicht, ja vielleicht nützt es sogar.
Obligate Klagen
Nehmen wir irgendein Zitat. Andreas Unterberger schreibt in „Die Presse“ vom 12. Oktober 1996 unter dem Titel „Tag der Ratlosigkeit“ folgendes: „Noch nie traf man auf so viele verzweifelt-ratlose Mitbürger wie in den letzten Tagen vor diesen Wahlen. In zwei, ja drei parallel laufenden Wahlkämpfen ist es den Werbern nicht wirklich gelungen, auch nur eine einzige Frage wirklich in die Herzen der Bürger zu tragen. Zugleich greift die allgemeine Verdrossenheit immer stärker um sich. Die überragenden Persönlichkeiten fehlen ohnedies schon lange. “
Aber diese Verdrossenheit ist nicht in erster Linie Folge unfähiger Politiker Menschen in Bann und Begeisterung zu ziehen. Die Ursache ist nicht dort zu suchen. Politikverdrossenheit ist vielmehr Ausdruck davon, dass die Macht der politischen Sphäre weitgehend Illusion gewesen ist und jetzt überhaupt verschwindet, dass politische Losungen geschweige dann Lösungen, immer weniger überzeugend wirken, die hohle Rhetorik offensichtlich ist, gerade auch weil die Wortwahl sich zuspitzt. Die Politikverdrossenen spüren das und deshalb flüchten sie der Politik.
Nicht die Parteien stürzen die Politik in die Verdrossenheit, sondern das Formprinzip Politik verfault an seinen Instrumenten. Die zentrale Frage ist die: Handelt es sich bei der Politikverdrossenheit um eine Verdrossenheit an den Politikern und deren Politiken, wie allgemein angenommen, oder handelt es sich tatsächlich um eine Verdrossenheit an der Politik? Was ist also marode: Die Funktionäre oder die Funktion? Der ersten Sichtweise kommt die Kritik der gesamten spezifischen Handlungsebene gar nicht in den Sinn, die bleibt draußen: Politik als Form wird nicht hinterfragt, sondern deren Exponenten, die Politiker (Funktionäre, Apparatschiks, Bürokraten) werden skandalisiert.
Gemeinhin kapriziert sich eins auf das Ergebnis, vergisst dessen Geschichte und Entwicklung. Vor allem das missliebige Resultat ordnet man dann eindeutig den Politikern zu, bestimmbaren Personen, nicht (von den Subjekten her betrachtet) unbestimmten Verhältnissen. Man weiß nicht, was los ist, man weiß aber umso entschiedener, wer schuldig ist. Schuldige werden stets gefunden. Steigt z. B. die Arbeitslosigkeit, dann kann man sicher sein, dass die Opposition die Regierung bezichtigt. Und wechselt die Regierung, dann tauschen Bezichtiger und Bezichtigte lediglich den Platz.
Unterbergers „Tag der Ratlosigkeit“ spiegelt deutlich eine „Zeit der Ratlosigkeit“, doch das will niemand so recht zugeben. Die Politik behauptet weiterhin ihre Rezepte, auch wenn sie völlig nackt ist. Die Formel der Ratlosigkeit ist richtig, sie ist allerdings zu verallgemeinern. Der Rekurs auf die „überragenden Politikerpersönlichkeiten“, bei Unterberger wohl Raab und Figl, ist jedenfalls daneben. Raab und Figl in heutigen Zeiten würden lächerlich wirken, was jetzt nichts über deren historische Rolle sagt, sich aber dagegen ausspricht, dass das Manko der jetzigen Politiker in den entsprechenden Individuen zu suchen ist. Das ist wahrlich zu kurz gedacht. Würden heute die Politiker der fünfziger, ja der siebziger Jahre bei uns auftreten, sie würden „Aliens“ gleichen, Menschen von einem anderen Stern, indes sie doch nur Politiker in einer anderen Zeit gewesen sind.
Zum Charakter der Verdrossenheit
Traditionell wird der Politik Macht zugeschrieben: „Unser Schicksal ist die Politik“ (Max Weber), so könnte man den gängigen Konsens umschreiben. Politiker erscheinen nicht als arme Narren der Politik, sondern als potenziell Mächtige. Ein allgemeines Volksvorurteil lautet: Politik bestimmt die Welt. Dieses Bewusstsein, das wir als ein bürgerliches Pflichtbewusstsein bezeichnen würden, ist in den letzten Jahren brüchig geworden. So recht will niemand mehr daran glauben, auch wenn die Verlautbarungen noch in die gleiche Richtung gehen, ja sogar an Penetranz zulegen.
Politikverdrossenheit ist nun ein Empfinden, das sich zwar nicht auszudrücken versteht, aber sich auch kaum mehr beeindrucken lässt. Sie sollte nicht vorschnell abgetan werden. Sie ist auch ziemlich unabhängig davon, wo die Menschen politisch stehen oder besser: gestanden sind. Ebenso autonom ist sie von der sozialen Stellung. Sie kann alle ergreifen.
Im Gegensatz zur Politikunverdrossenheit, die weiterhin gebetsmühlenhaft ihre Appelle und Postulate loslässt, ist die Politikverdrossenheit nicht willens sich aktiv zu artikulieren. Sie entzieht sich, verweigert sich, will einfach nicht. Sie findet nicht nur keine gemeinsame Sprache mit der Welt der Politik, sie hat überhaupt keine. Dieser Welt ist sie entflohen ohne anderswo an Land gegangen zu sein. Sie ist also ein flüchtiges Dazwischen, ein Nicht-Mehr, aber auch ein Noch-Nicht.
Die Aufgabe der Politikgläubigen besteht nunmehr darin, die Politikattentisten, die zu Politikatheisten zu werden drohen, in die Politik zurückzuholen, zumindest zum Kirchgang, d. h. zur Wahl zu drängen. Der Parlamentarismus verfällt nämlich, wenn die Wähler ihm die Gefolgschaft verweigern. Er ist auf Zustimmung aus und auch darauf angewiesen. Nichtwählen bedeutet nicht bloß Desinteresse, sondern beherbergt auch einen transvolutionären Keim der Ablehnung. Es gilt aber unbedingt den Schein der Souveränität der Wähler aufrechtzuerhalten.
Die Verdrossenheit ist zwar keine politische Reaktion mehr, aber auch keine antipolitische, sondern eine unpolitische. D. h. sie verspricht sich von dieser Form der gesellschaftlichen Verallgemeinerung, eben der Politik, nichts mehr, hat aber keine Vorstellung von einer anderen, weil sie gleich den Politikgläubigen diese (von ihr nicht mehr bediente Form) trotzdem für die einzig mögliche und natürliche hält. Was aber auch bedeuten kann, dass die spezifische und notwendige Desillusionierung an der Politik ins Subjekt regrediert. Potenzielle Emanzipation verwandelt sich in individuelle Depression. Dieser Weg ist aber nicht determiniert.
Die banalste aller (ungestellten) Fragen dabei lautet: Warum sollen die Politikverdrossenen nicht politikverdrossen sein? Umgekehrt als üblich, ist daher festzuhalten: Nicht Verdrossenheit ist den Wählern zu verübeln, eher ist zu fragen, warum so wenige noch verdrossen sind. Verdrossenheit ist die erste, wenngleich noch primitive Reaktion auf das Gebotene, auf jeden Fall viel besser als der berüchtigte Denkzettel, wo das Wählen ja nicht in Frage gestellt wird, sondern „gerade zu Fleiß“ stattfindet.
Indifferenz als Differenz
Wählen unterstellt, eine Auswahl zu haben, die sich von einem Sortiment im Supermarkt dahingehend unterscheidet, dass es an Prinzipien und Programmatiken hängen soll. Doch ist dem so? Ist die Wahl zwischen Gusenbauer und Schüssel, zwischen Stoiber und Schröder grundsätzlich eine andere als zwischen Rama und Vita, Pepsi und Coke, Obi und Baumax? Eigentlich ist solche Benennung abgeschmackt, denn das weiß inzwischen jedes Kind. Warum bleiben aber partout entschiedene Konsequenzen aus?
Wenn der Wiener Politologe Emmerich Talos sagt: „Die Sozialdemokratie ist von den Konservativen und Liberalen nicht mehr unterscheidbar“ (Volksstimme 35/ 1999), warum sollen dann die zur Entscheidung Getriebenen zwischen ihnen auswählen? Welchen Kriterien sollen sie da folgen? Warum sollen sie sich nicht gegen den substanziell-einheitlichen Block formieren, statt in dieser Ununterscheidbarkeit Unterscheidungen zu treffen? Wo Indifferenz ist, sollte Differenz sich nicht halluzinieren. „Alle Parteien wollen dasselbe – geben es nur nicht zu“, schreibt etwa Bernd Ulrich im Vorspann eines Leitartikels der Zeit vom 6. November 2003. Dem ist so.
Wähler werden in diesem Spiel zusehends zur Verschubmasse der Reklame, sie sind nicht der Souverän, wie das Staatsbürgerkundebuch es den Staatsbürgern irreführend unterstellt, sondern eine leicht beeindruckbare und aufschreckbare Horde, aber auch eine genügsame Herde. Je nach dem. Politikverdrossene verzichten darauf, der Verschubmasse anzugehören. Was soll daran schlecht sein, wenn sie lieber einen Ausflug in den Wienerwald machen?
Was stattfindet, ist Wählerverarschung. Diese ist freilich nur möglich, wenn die Wähler sich auch bereitwillig verarschen lassen. Das ist der Fall. Zumutungen werden kaum als solche aufgefasst, höchstens als Belästigungen. Der Wahlkampf ist eine ungustiöse Anmache, die als solche zwar auffällt, aber doch hingenommen wird. Das Aufgenommene muss ja nicht unbedingt als Rezipiertes wahrgenommen werden. Es wird reflektiert, ohne dass das, was reflektiert wird, reflektiert wird. Es vermag sich in das Intuitive einzuschleichen. Man spürt von dem man nichts weiß. Politik gestaltet sich als Wettbewerb um sinnliche Gewissheit, als nuancierter, aber doch prononcierter Ausdruck eines gesunden Menschenverstands. Das objektive Diktat tritt in aller Ignoranz als freier Wille auf die Bühne und lässt sich als Demokratie abfeiern. Letzteres zurecht.
Das oftmalige Entsetzen darüber, dass die Wähler für blöd verkauft werden, ist nicht nachvollziehbar. Die Bevölkerung kann bloß für so dumm verkauft werden, wie sie auch ist. Politiker sind keineswegs mieser als ihr Klientel, das ist wahrlich ein Volksvorurteil der dümmsten Sorte. Wobei das nun keine Entschuldigung ist, sondern nur eine Berichtigung.
Immer wieder ein letztes Mal ein kleineres Übel zu unterstützen, ist ein großes Übel. Womit natürlich nicht gesagt wird, dass nie und nimmer mehr gewählt werden darf. Eine dementsprechende Entscheidung ein Kreuzchen zu machen, kann durchaus kurzfristigen Überlegungen folgen, die nicht einmal eingehender Debatten bedürfen.
Es mag z. B. ab und zu noch einsichtig sein, völlig emotionslos PDS zu wählen, damit Leute wie Winfried Wolf oder Ulla Jelpke Bundestagsmandate erhalten, oder dass einige kluge Köpfe in der Rosa-Luxemburg- Stiftung ihre Arbeitsplätze behalten und akzeptable Bildungsprogramme gestalten. Da ist aber kein großes Aufheben darum zu machen. Man sollte das keineswegs ideologisieren, oder sich deswegen für die kapitalkonforme Linkspartei mobilisieren lassen. Eine Perspektive lässt sich daran nicht knüpfen.
Wähler als Zähler
Praktische Politik vertritt nicht die Ansichten und Bekenntnisse der Leute, sondern verwaltet deren Verhalten, sie moderiert die Verhältnisse. Dieser „Widerspruch“ ist konstitutiv. Noch einmal: Politik handelt nicht nach dem Willen der Menschen, sehr wohl aber nach dem Handeln derselben. Sie redet nach den Reden und sie handelt entsprechend der Handlungen. Dass sich Politik abseits der Beteuerungen abspielt, hat man in den Parteien erkannt, nur muss stets das Gegenteil oder besser noch: es müssen viele Gegenteile behauptet werden. Ein gelungener Wahlkampf ist jener, wo geschickt platzierte Sirenen auf bestimmte Segmente der Bevölkerung wirken und gleichzeitig von anderen überhört werden. Einfach ge- sagt: Je mehr es gelingt, Dummheit zu bedienen, zu befördern und zu beflügeln, desto mehr Sektkorken werden knallen.
Politik wird zynisch. Für Eindeutigkeiten ist da kein Platz, auch wenn diese im Warensortiment der Parteien kaltschnäuzig angeboten werden. Die Qualität hält nicht, was die Verpackung verspricht. Es ist die hohe Kunst der Imagination, die eingefordert wird. Dieser nicht zu entsprechen, wirkt lächerlich, dieser zu widersprechen, erscheint geradezu grotesk.
Es mag einige Unverdrossene erschrecken, wenn etwa Politiker Botschaften aussenden, die sich einander völlig widersprechen. Gerade darum geht es im Wahlkampf: man will signalisieren, dass man wie in einem Supermarkt mit allem dienen kann. Dass das bloß Fiktion ist, ist völlig egal. Politik ist ein mediales Kasperltheater. Von den eigentlichen Entwicklungen lenkt sie mehr ab als dass sie diese erklärt oder gar, was sich noch immer viele einbilden, leitet.
Wähler sind nicht als Wähler interessant, sondern als Zähler. Es geht wie in der Ökonomie ums Quantum, d. h. um eine Akkumulation gleicher Einheiten. Wählen meint heute nicht, sich qualitativ zu äußern, sondern sich quantitativ zuzuordnen. Stimmen werden nicht erhoben, sondern abgegeben. Wie der Arbeitskraftverkäufer auf bestimmte Zeit seine Arbeitskraft verkauft, so weisen Wähler für festgeschriebene Fristen ihre Zustimmung zu. Das vermag auch kein noch so ausgeklügeltes System der Partizipation, etwa das der berüchtigten direkten Demokratie, aufzuheben. Im Gegenteil, letztere ist für Populismus und Demagogie sogar um vieles anfälliger als das Repräsentationssystem.
Politik und somit auch Wahlen sind dazu da, dass sich das, was sich blind hinter dem Rücken der Menschen durch ihre Handlungen herstellt, nachträglich oder vorsorglich als freie Entscheidung erscheint. Der Zyniker Luhmann sprach daher von einer „retrospektiven Sinngebung„: „Was schon entschieden ist, muss ständig neuen Beschreibungen ausgesetzt werden, um es anzupassen an das, was gegenwärtig als mögliche Zukunft erscheint.“ (Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 154. )
Freier Wille und freie Wahl sind Instanzen des Vollzugs bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. Die Vergesellschaftung über den Wert ist keine direkte (Was wollen wir? Was tun wir? ), sondern eine indirekte, eine fetischistische, wo sich die Menschen über Markt, Vertrag, Geschäft, Recht, Politik vermitteln. In der Politik geht es um Interessen gesellschaftlicher Rollen, nicht um die Bedürfnisse von Menschen. Das heißt, dass diese lediglich als verwandelte auftreten können, nicht als unmittelbare, sondern gebrochen durch jene. Die Pflicht der Rollenträger besteht im Dienst an den Formen des Werts.
Die Grundvoraussetzung von allem Denken und Handeln ist die Verwertbarkeit der „eigenen“ Charaktermaske am Markt. An der Funktion des Käufers und Verkäufers, an der Ontologie des ewigen Tauschs wird nicht einmal gekratzt, geschweige denn gerüttelt. Indes, die freie Entscheidung beginnt ausgerechnet dort, wo das automatische Subjekt erkennt, dass es keine freie Entscheidung hat, als Mensch aber eine haben will. In diesem Moment keimt das Individuum. Diesen Widerspruch zu konstatieren gleicht einer emanzipatorischen Inauguration des Selbst. Das Sich will zum Ich.
Altkluge Politikgläubigkeit
Das infantile Gedränge am schnellen Markt der Stimmungen ersetzt jedenfalls konzeptionelles und programmatisches Denken. Politik wird inferior. Stimmt die Stimmung, stimmen die Stimmen. Die Politikverdrossenen machen dieses Schauspiel nicht mit, sie sind nicht mehr in Stimmung und sie wollen sich partout nicht in eine solche versetzen.
„Wenn man in Österreich für eine Wahlbeteiligung werben muss, ist etwas falsch gelaufen“, schreibt etwa die österreichische Politikwissenschafterin Sonja Puntscher- Riekmann im Kurier vom 12. Juni 1999. Aber weshalb denn? Ist das reaktive Verhalten der Abgestumpften nicht vielmehr die adäquate Antwort auf das politische Spektakel? Wäre es nicht viel ärger, sie wählten einfach weiter? Ließen sich alles bieten, was geboten wird? Ließen sich gefallen, was missfällt? Ist es so falsch, wenn die Leute meinen, sie bewegen da sowieso nichts? Gibt es noch positive Erlebnisse oder Ergebnisse in der Politik, die einerseits mehr sind als ordentliche Verwaltung, andererseits sich aber diesseits des populistischen Schauspiels ansiedeln?
Die Situation lässt sich so beschreiben: Politik verspricht mehr als sie halten kann. Doch würde sie nichts versprechen, was würde man dann von ihr noch halten. Die Verdrossenen spüren das, aber die Unverdrossenen wollen es ihnen absolut nicht zugestehen. Erstere fühlen, was Demokratie ist, letztere möchten es nicht und nicht wahrhaben. Wenn jemand zu ist, dann die Politikbesoffenen. „Eine weitere Frage ist, wie Politik überhaupt in der Lage sein kann, in Situationen, die sind, wie sie sind, Alternativen zu sehen.“ (Luhmann, S. 160) Sie sollte gestellt werden, unentwegt. Man muss deswegen Luhmanns blanke Affirmation nicht teilen.
Mehr als die Verdrossenen stören die Unverdrossenen, d. h. jene Spezies Mensch, die scheinbar nichts erschüttern kann, die immer wieder auf billige Demagogie und plumpe Anmache hineinfallen. Jene Leute, die von Schröder zu Stoiber wechseln, die einen Karl-Heinz Grasser schick finden oder auf einen Arnold Schwarzenegger hineinfallen wie sie gestern auf Jörg Haider abgefahren sind. Jene, die den „democratic circus“ (David Byrne/Talking Heads, Naked, 1988) um nichts in der Welt durchschauen wollen, sondern lieber als Hooligans ihrer Stars, als flanierender und flankierender Fanclub, wenn schon nicht durch die Gegend, so zumindest zur Urne laufen und vor dem Fernseher schimpfen.
Schlimmer als die Politikverdrossenheit ist solch altkluge Politikgläubigkeit, die aus einer autistischen Betriebsblindheit der Demokraten herrührt. Diese Grundhaltung der parlamentarischen Andacht ist zutiefst antiemanzipatorisch, weil sie Demokratie nicht als kapitalistisches Formprinzip, sondern als ehernes Projekt der Menschheit für alle Zukunft auffasst. Was Puntscher-Riekmann einfordert, das ist ein frenetisches Glaubensbekenntnis zur Demokratie. Sie gilt als Sakrament der Moderne. Sie diskutiert Verdrossenheit als moralisches Manko des Publikums und/oder der politischen Akteure, nicht als Selbstverwerfung des politischen Systems. Denn dieses ist ideologisch sakrosankt.
Politikverdrossenheit ist selbst in ihrer deformierten Form um vieles besser als die selbstgefällige Demokratieversessenheit, der religiöse Sermon, den der Konsens der Demokraten stets zu erzwingen versucht, um jedwede prinzipielle Kritik im Vorfeld abzuwürgen und die Kritiker ins totalitäre Eck zu rücken. Das Problem jener ist nur, dass sie in der passiven Renitenz einer unbewussten Negation verharrt, der antipolitische Impuls derselben sozusagen nicht zum Durchbruch kommt, sondern im Unpolitischen verbleibt. Im Gegensatz zur Politikgläubigkeit ist jene aber ein Ansatzpunkt aktiver Resistance, ein Widerstand, der, wenn auch dunkel, nicht bloß gegen Missstände protestiert, sondern die Zustände selbst zum Gegenstand der Verweigerung macht.
Die Politikverdrossenen sagen noch nicht „Nein! „, aber sie sagen und zwar einzeln und unabgesprochen: „Ich mag nicht.“ Die Leute sind renitent, aber sie sind nicht kritisch. Sie wechseln von den angepassten Bekenntnissen in eine apathische Bekenntnislosigkeit. Sie erkennen keine Perspektiven, aber mitspielen – so als wäre nichts geschehen – wollen sie auch nicht mehr. Aufgabe wäre es nun, die Apathie in eine Antipathie zu transformieren.
Mit der Desillusionierung von etwas darf nicht die Hoffnung auf etwas gleich miterledigt oder durchgestrichen werden. Denn wenn es nicht gelingen sollte, Ziele jenseits der Politik anzugeben, dann ist auch nicht auszuschließen, dass sich die Verdrossenheit Luft macht in schwer pathologischen Entladungen. Eine Form davon ist der Amoklauf, wo Menschen das, was sie nicht mehr aushalten zerstören, oft in dem sie dessen Exponenten liquidieren. Da stürmt dann ein ehemals Strengpolitikgläubiger in ein Schweizer Kantonsparlament und mäht mit seiner Pumpgun die verhassten Volksvertreter nieder.
Neben dem Auszucken ist aber auch das Einklinken nicht zu unterschätzen. Noch funktioniert es ganz gut. Die Potenz eines Jörg Haider etwa bestand darin, diese bewusstlose Stimmung der Verdrossenheit – wenn auch segmentiert – in die Politik zurückzuführen, die Verkommenheit des Systems dann einigen bestimmten Systemsubjekten (Parteien, Politikern, Bürokraten, Spekulanten, Schmarotzern, Ausländern… ) anzuhängen und (im wahrsten Sinne des Wortes) abzuräumen. Die traditionelle radikale Linke hingegen nimmt jene Gegebenheiten als Möglichkeiten nicht einmal in Ansätzen wahr, sondern hängt in aufklärerischer Manie dem absurden Wunsch nach, Politik zu repolitisieren, anstatt sie als kapitalistische Funktion zu demaskieren.
Repolitisierung oder Antipolitik?
Die Wende in Österreich brachte jedenfalls keine „Rückkehr des Politischen“, wie manch Intellektueller prophezeite, sondern bloß eine neue Konstellation der Inszenierung. Die Spektakel der Opposition oder der Donnerstag-Demonstranten („Widerstand! „, “ Widerstand! „) dürfen nicht überschätzt werden, beide haben zu keiner wie immer gearteten Politisierung beigetragen, sie sind selbst nur Bestandteil der großen Maskerade. Aber auch die Wende ist – zumindest auf der polit-ökonomischen Ebene – nicht als solche wahrzunehmen. Rot- Schwarz oder auch Rot-Grün hätten grundsätzlich nichts anders gemacht, das demonstriert etwa Deutschland! Merke: Wer heute keinen Sozialabbau betreibt, kann unmöglich ein Politiker im Regierungsamt sein.
Von Kalifornien bis Rumänien, die Wahlbeteiligungen sinken. Kann man an der Westküste der USA mit 11 Prozent der wahlberechtigten Stimmen Gouverneur werden, so fürchtet man in den Karparten, dass zu wenige Menschen zur Urne schreiten, um in vorauseilendem Gehorsam einem Land eine EU-konforme Verfassung zu verpassen. „Wir haben nichts zu entscheiden, warum sollen wir so tun als hätten wir“, werden sich viele Rumänen fragen. Wiederum zurecht. Und nicht nur sie.
Politikverdrossenheit muss man fördern und fordern, nicht beargwöhnen und beklagen. Jeder Kampf dagegen ist nichts anderes als eine neuerliche Fütterung der großen kulturindustriellen Illusionsmaschinen. Wir sind Vertreter einer offensiven Entpolitisierung, für eine, die nicht ins Unpolitische führt, sondern Antipolitik als ihr Ziel begreift. Antipolitik steht vor der Aufgabe, sich gesellschaftlich einzubringen, dabei aber nicht den bürgerlichen Gesetzlichkeiten der Politik aufzusitzen. Nicht mitspielen, sondern das Spiel der hartnäckigen Einbildungen konsequent aufzudecken und zu durchkreuzen. Die arbeitsgesellschaftlichen Bezugspunkte dürfen nicht mehr den Horizont abstecken. Kurzum, es hat eine Praxis jenseits der Politik zu geben.
Es geht also nirgendwo um die Repolitisierung der Politikverdrossenen, sondern um die Verinhaltlichung der Verdrossenheit. Sie soll gestützt, ja erhöht werden, indem man sie von der Renitenz zur Kritik führt. Wenn Räsonieren „die Freiheit von dem Inhalt und die Eitelkeit über ihn“ (G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, FfM 1986, S. 56) ist, dann gilt es umso entschiedener diese unbestimmte Reaktion zur bestimmten Aktion zu überführen. Es ist den Leuten zu vermitteln, was sie weshalb spüren, nicht ihnen das Gespür abzusprechen. Deren Desinteresse ist nicht so dumm wie es behandelt wird.
Es wäre falsch, dieses Nichtwollen auf Resignation zu reduzieren. Diese mag eine Rolle spielen, aber Politikverdrossenheit geht nicht in ihr auf. Man kann diese Desillusionierung am politischen Betrieb umgekehrt sogar als sehr befreiend empfinden, dann, wenn man aufhört, das Märchen des mündigen und informierten Staatsbürgers nachzubeten. Ja, es muss sogar das Ziel sein, diese Ernüchterung der Hörigen, die nur auf den ersten Blick als Bewusstseinsschock erscheint, vehement voranzutreiben.
Verdrossen zu sein meint auf die Inszenierung nicht mehr hereinfallen zu wollen, lieber eine Land- oder Kartenpartie zu machen als wählen zu gehen. Das ist keineswegs ein Mangel an Reife, eher schon ein Ausdruck von Überreife. Das Problem der Überreife ist bloß, dass sie möglicherweise den richtigen Moment versäumt hat, und selbst regressiv zu werden droht, indem ihr emanzipatorisches Potenzial mangels an Evaluierung und Eventualisierung einfach verfault.
Politik heute, das ist eine Verdummungsagentur sondergleichen. Wer sich zuviel damit abgibt, wird deppert. Was als emanzipatorische, doch stets bürgerlich-immanente Kraft in der Aufklärung begann, ist zu einem regressiven Faktor des gesellschaftlichen Daseins geworden. Politik idiotifiziert. Nötig wäre eine breite antipolitische Kampagne zur Senkung der Wahlbeteiligung. Wo es nichts zu wählen gibt, gibt es nichts zu wählen. Dass endlich aktiv wird, was passiv ist. Dass Leideform in Leidenschaft umschlägt. Noch sind wir dazu nicht imstande, aber eines Tages wird dieser Fall eintreten.