von Ernst Lohoff
Militärische Sieger lösen sich so schwer von ihren vertrauten Feindbildern wie verlassene Liebhaber von ihren Verflossenen. Auch nach der endgültigen Niederwerfung des Gegners bleibt ihr Denken der Frontstellung des letzten großen Konflikts meist lange verpflichtet. Eine neue Bedrohung muss auf den Plan treten, damit wirklich Schluss mit den Reminiszenzen ist. Selten rasch hat die US-amerikanische Politik einen solchen Feindwechsel angesichts der Blockkonfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. Die nationale Psyche hinkte damals um viele Jahre hinterher. Erst mit dem Vietnamkriegstrauma haben für sie Nazideutschland und Japan – die einschlägigen Hollywood-Produktion dokumentieren das ihre Stellung als der Feind der Feinde verloren.
Daran gemessen reagierte die US-amerikanische Politik auf das Ende des Kalten Krieges ausgesprochen zögerlich. Im Konstrukt der „Schurkenstaaten“ lebte die Vorstellung eines modernisierungsstaatlich organisierten „Reichs des Bösen“ fort. Imagologisch gesehen, zogen die USA im Irak und in Restjugoslawien also gegen etwas klapprig und magersüchtig geratene Dritt- und Viertversionen des Sowjetimperiums zu Felde. Aber auch gegenüber dem ehemaligen Original-Gegner zeigten sich die US-Administration und ihre Strategen recht konservativ und legten eine ausgesprochen Übervorsicht an den Tag. Nicht nur die angepeilte Nato-Ost-Erweiterung hatte eindeutig eine gegen Russland gerichtete Spitze, sondern auch die abgedrehten Raketenabwehr-Phantasien, die das US-Territorium unverwundbar machen sollen. Für den Fall, dass Russland gegenüber der „totalitären Versuchung“ rückfällig werden sollte, wollten die US-Strategen den einstigen Gegenspieler so weit wie möglich präventiv eingedämmt und militärisch in jeder Hinsicht chancenlos wissen.
In den häuslichen virtuellen Welten hat sich der Feindbildwechsel schon vor geraumer Zeit vollzogen. Das Computerspiel „Command and Conquer“, die klassische, aus den USA stammende Reprise auf den Ost-West-Konflikt, hat seine Stellung als Marktführer eingebüßt. Konjunktur haben stattdessen Ballerspiele wie „Counterstrike“, die Antiterroreinheiten und Terroristen aufeinander treffen lassen. Im Gefolge des 11. September hat die offizielle amerikanische Politik nachgezogen. Im Zeichen der Antiterrorkoalition ist aus dem misstrauisch beäugten Russland einer der wichtigsten, wenn nicht derzeit der wichtigste Partner im antiislamistischen Feldzug geworden.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat alles getan, um der US-Führung entgegenzukommen und auf diese Wendung hinzuarbeiten. Schon unmittelbar nach den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center reagierte die russische Führung so, als läge Ground zero nicht in New York, sondern in Sankt Petersburg. Sie ließ die Luftabwehr des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzen. So viele kleine und große Demütigungen der Ex-Supermacht in den letzten Jahren von amerikanischer Seite auch zu Teil geworden waren – der Gipfelpunkt war die einseitige Aufkündigung der Salt-Verträge durch die USA gewesen, die russische Führung übernahm auch in der Folge bedingungslos den Part des good guy. Vor allem machte sie Russlands politischen Einfluss geltend, um den US-amerikanischen Militärs den ungehinderten Zugang zum „weichen Unterbauch“ der ehemaligen Sowjetunion zu öffnen. Ohne diesen vorauseilenden Freundschaftsdienst hätten die Militäroperationen gegen die Taliban kaum so reibungslos ablaufen können.
Die Geschichte neigt zu ironischen Wendungen. Anfang der achtziger Jahre leitete der sowjetische Afghanistan-Krieg einen neuen atomaren Aufrüstungsschub ein. Zwanzig Jahre später führt der von Russland und seinen mittelasiatischen Außenstationen logistisch unterstütze amerikanische Afghanistan-Krieg zum genauen Gegenteil. Im Mai 2002 kam es in Reykjavik zum größten atomaren Abrüstungsvertrag aller Zeiten. Um ihre neue antiislamistische Freundschaft zu besiegeln, beschlossen die USA und Russland, die Zahl der strategischen Nuklearsprengköpfe von derzeit jeweils 6000 auf 2200 pro Seite zu reduzieren. Mit der geplanten großangelegten Reduktion des Atomwaffenarsenals verschwinden zwei Drittel eines kostspieligen Anachronismus. Atomare Abschreckung und Overkill haben mit dem Ende des Blockkonfrontation ihren Sinn verloren. In der Auseinandersetzung mit den heutigen und künftigen Gegnern al Qaida und Co. nutzen Nuklearsprengköpfe dem Weltpolizisten ungefähr genauso viel wie dem Nanotechnologen der gute alte Vorschlaghammer. Während dem Inhalt nach die große Abrüstungsaktion nur die späte partielle Anerkennung gründlich veränderter Realitäten bedeutet, läuft sie ihrer Formnach freilich auf das genaue Gegenteil hinaus. Indem die USA mit dem Hauptnachfolgestaat der Sowjetunion zu einem Abkommen über gleichgewichtige Abrüstung kommen, akzeptieren sie ihren neuen Junior-Partner noch einmal als das, was Russland längst nicht mehr ist – als eine gleichberechtigte Supermacht. Bereits die Wahl des Verhandlungsortes lässt sich als eine symbolische Anerkennung ungedeckter russischer Großmachtsambitionen verstehen. In Islands Hauptstadt unterbreitete 1986 Gorbatschow dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan umfängliche Abrüstungsvorschläge; und so suggeriert die Rückkehr an den alten Schauplatz, man wäre jetzt endlich am Ende des damals von der sowjetischen Führung eingeschlagenen Weges zur Verständigung der beiden Supermächte angelangt.
Ein bisschen Balsam für die arg strapazierte russische Großmachtseele ist auch dringend notwendig. Putins entschlossener Salto occidentale ist in Russland alles andere als unstrittig. Zu tief sitzt das großeAbstiegstrauma, der demütigende Durchmarsch von der ersten in die dritte Liga.
Als Michail Gorbatschow die Offensivkapitulation der überrüsteten Sowjetunion einleitete, war an die West-Öffnung die Hoffnung geknüpft, dass dem maroden Reich damit eine umfängliche Friedensdividende zu Teil würde. Sie blieb bekanntlich aus. Das Land, das im Zentrum der militärischen Ängste des Westens gestanden hatte, verkam stattdessen zu einer der vielen vom Weltmarkt abgekoppelten und vom kapitalistischen Zentrum vergessenen Weltregionen. Kann heute die neue Waffenbrüderschaft die misslungene ökonomische Anbindung ersetzen und Russland und den Westen zueinander führen?
Partiell erst einmal wohl ja. Zum einen verbindet kaum etwas so stark wie eine gemeinsame Feindschaft, und an der Entschlossenheit Moskaus, gegen die islamische Bedrohung mobil zu machen, dürfte nach den Tschetschenien-Kriegen niemand zweifeln. Zum anderen verlagert sich die Basis der Zusammenarbeit auf ein Gebiet, auf dem Russland als Haupterbe der Sowjetunion dem Westen eine ganze Menge zu bieten hat. Ökonomisch ist Russland, sieht man von einigen Rohstoffen (etwa Erdgas) und den illegalen Märkten ab, auf keinem Gebiet konkurrenzfähig. Die wirtschaftspolitische Kooperation mit dem Westen reduzierte sich dementsprechend im letzten Jahrzehnt im Wesentlichen auf einseitige wirtschaftspolitische Unterstützungsleistungen – nicht unbedingt die ideale Basis für ein dauerhaftes Engagement. Militärisch ist Russland dagegen nach wie vor eine Macht, und seine Führung wird verstehen, das in Euro und Dollar umzumünzen.
Solange die russische West-Politik ihre Basishoffnung in der wirtschaftlichen Kooperation fand, war sie notwendigerweise auf Europa ausgerichtet. Mit der vom Militärischen ausgehenden Neufundierung der Ost-West-Kooperation verschieben sich die Gewichte innerhalb des westlichen Lagers. Angesichts der Remilitarisierung der Politik, dem Bündnis der Sicherheitsfundamentalisten Putin und Bush gerät Europa erst einmal ins Hintertreffen. Auf militärischen Gebiet sind Frankreich, Deutschland und Co außerstande mit der US-Übermacht auch nur ansatzweise mitzuhalten. Selbst wenn die Lage der europäischen Haushalte freundlicher wäre, und sich massive Aufrüstungsprogramme finanzieren ließen, angesichts der amerikanischen Übermacht -das Land leistet sich höhere Militärausgaben leistet als die nächsten 15 Mächte zusammen – würde sich daran noch Jahrzehnte lang nichts ändern. Nach der Bildung des NATO-Russland-Rats, der faktischen Beerdigung der NATO, bleiben Paris und Berlin keine großen Wahmöglichkeiten. Sie können nur den USA die Weltpolitik zu überlassen oder sich vorsichtig von der sicherheitsfundamentalistischen Linie absetzen. Die etwas andere, ein bisschen friedlichere Interpretation der westlichen Werte wirkt aber weder sonderlich zeitgemäß und glaubwürdig noch darf sie mit Gegenliebe beim neuem russischen Partner rechnen. Dass der Geheimdienstmann Putin und Ölmann Bush heute die westlichen Wertegemeinschaft repräsentieren ist keineswegs als Hohn auf Freiheit und Demokratie zu betrachten. Es sagt freilich schon alles über die westlichen Werte.