Streifzüge 3/2002
von Roger Behrens
„Das Meer, das Feuer und die Frauen… “ Hellenischer Spruch (für Männer)
Anstelle einer verschwundenen Widmung: „Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt. “ Walter Benjamin, Einbahnstraße 1
„In dem zwiespältigen Verhältnis der Liebe zur Welt gründet es, dass die Zeit die einzige immanente Gefahr ist, die ihre Macht über die Liebe behält. Sie heilt, wie sie immer wieder krank macht, und eben die Heilung ist das gefürchtete Ende. “
Herbert Marcuse, Notizen zu Proust2
Von den bürgerlichen Ideen ist die der Liebe die kostbarste, humanste; die Methoden, die das bürgerliche Subjekt parat hält, um das Scheitern dieses Glücks auszuhalten, sind allerdings die unmenschlichsten: Rache, Verletzungen, Betrug, das Schlechtmachen des anderen, die Beleidigung, das Zufügen von Schmerz. Nirgends war das bürgerliche Subjekt grausamer, wenn es darum ging, sich und anderen Schmerz zuzufügen, um den Verlust einer Liebe auszuhalten. Die subjektive Schwäche provoziert die objektiven Zwangsverhältnisse als Waffe: Geld und Krieg. Trennung wird zu einem Krieg, der auf dem Schlachtfeld der Ökonomie ausgetragen wird („Ehekrieg“, „Beziehungskrieg“; Besitzverhältnisse klären: die Fragen „Was bin ich dir wert? „, „Was habe ich alles in diese Beziehung investiert? „; es wird auch gesagt, wenn es etwa um Hintergehungen geht, „das kaufe ich dir nicht ab“, oder man „bezahlt für seine Fehler“). Dadurch wird versucht, die subjektiv unbewältigte Trauer zu objektivieren. Erst an diesem Schnittpunkt, im nicht zu bewältigenden Schmerz der Scheidung, wird auch die Liebesbeziehung zum Fetischverhältnis, oder zumindest als warenförmiges Fetischverhältnis offenbar. Es wird gesagt, man verliert sich in der Liebe, gibt sich auf im anderen. Das ist schön, wenn man sich vorher hatte; ohne Selbstbewusstsein wird diese Liebe aber zum vollendeten, manifesten Selbstverlust, die Aufgabe der Möglichkeit zu werden. Eine Liebe, die den Liebenden das Werden verhindert, schlägt deshalb nur zu leicht in den sprichwörtlichen Hass um: Selbsthass. Oft kommt es vor, dass es im Streit nur noch um die Schuld geht. Schuld ist eine ökonomische Kategorie. Solange das so bleibt, ist jedes Glück, auch das der Liebe, tatsächlich nur , geliehen‘. Dem spätmodernen Bewusstsein erscheint folglich aller Verlust an Liebe als Kontingenz; wer über genügend Ichstärke verfügt, nennt diese Zufälligkeit und Plötzlichkeit Ironie, der die gelingende Liebe technokratisch Solidarität ist (man rauft sich zusammen; die Beziehung der kleinen Leute, die Zweckgemeinschaft). – Die Sprache des Herzens ist vorläufig nicht in die Sprache der Vernunft übersetzbar. Deshalb sind auf allen Stufen der bürgerlichen Selbstbehauptung das Private und das Politische mehr und mehr getrennt worden.
Liebe „ist ein Glück, das immer nur in den Augenblicken besteht, ja das am stärksten in gleich verschwindenden Lustmomenten aufbricht. Das Unglück überwiegt dauernd, – aber es ist eine der Erkenntnisse der , Temps perdu‘, dass das Unglück erst das Glück möglich macht. Nicht so, als ob erst der Unglückliche für das Glück aufnahmefähig würde. Das Glück ist vielmehr in sich selbst negativ: Es ist wesentlich Linderung, Beruhigung, Stillung von Schmerz. So ist es mehr als die bloße Abwesenheit von Schmerz und Unlust: Schmerz und Unlust bleiben als sich legende im Glück gegenwärtig. „3 – Die Menschen haben mit dem Zustand, den sie Glück nennen, keine Erfahrung. Auch der Marxismus hat noch keine Strategien entwickelt, das Glück – vor allem das der Liebe – aushaltbar zu machen. Der Marxismus ist keine Theorie, die Liebe erklären kann. Ein kategoriales Problem: Liebe ist keine Angelegenheit des Klassenkampfes; die Verteidigung der Liebe verlangt andere Formen des Widerstands, nämlich eine Ästhetik des Widerstands, die Abschied nimmt von der Ideologie der Stärke und Gewalt. Statt dessen ginge es um eine Erotik der Emanzipation. „Soll Liebe in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im bewussten Widerstand. „4 Das meint eine Praxis, in der das Private das Politische wird, und umgekehrt, das meint: Zulassen des subjektiven Faktors. Oder konkreter: das Zulassen des Subjekts, des Selbst und des Anderen. Das Bürgertum vermochte diese Idee des Glücks nur romantisch zu fassen: idealisiert und schon von vornherein von dem Schmerz des Scheiterns in der Praxis gezeichnet. Erst die Psychoanalyse hat deutlich gemacht, dass das Seelenleben keine Theorie ist, sondern die Praxis der Menschen bestimmt, führt. Lust ist keine Idee, sondern konkret – in der Sexualität wird sie zum Spiel und opponiert damit dem Realitätsprinzip, von dem sie zugleich den Charakter der Produktivität aufgezwängt bekommt; die Leistungsgesellschaft versucht, das Moment der Lust und Sinnlichkeit als Qualität der guten, gesunden Arbeit umzubiegen: nur wer schwitzt, ist fleißig; die Tüchtigkeit diktiert noch der Idee vom „guten Sex“ als Maßstab Länge und Ausdauer, als sei das nicht gerade die Freude und das sinnliche Spiel der Erotik, die lange dauert, weil sie sich das Recht nimmt, Dauer und Länge, ja Zeit überhaupt zu vergessen: wird in der Mühe und der gequälten Anstrengung produktiver Sexualität die Zeit genutzt, die bleibt, bis die Arbeitszeit fortzusetzen ist, kennt die Lust des Empfangens und Entgegennehmens keine Zwänge des nächsten Tages, kein Büro, keine Dienststunde, keine Verpflichtung, keine Normalität, die die Liebenden daran hindern könnte, ihr befriedigendes Spiel fortzusetzen.
„In der Liebe ist die Dimension der Lust gewiss die Sinnlichkeit, als die einzig gebliebene Lustquelle innerhalb der Klassengesellschaft. Aber dass die Lust von der Sinnlichkeit ausgehend und mit ihr auch alle anderen Bereiche der Person und des Daseins ergreift, dadurch gerät sie in eine ganze Feindschaft mit der Normalität. Die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, Körper und Seele, Natur und Geist wird aufgehoben: Auch der Verstand, die Seele und der Geist des geliebten Menschen werden zur Lustquelle. Indem die Erkenntnis lustbesetzt wird, verwandelt sie sich in eine totale Kritik der Normalität. „5 Als solche „totale Kritik“ ist die politische Praxis der Lust als Hedonismus bezeichnet worden; die private Praxis der Lust ist die Liebe – nur deshalb ist Lust subversiv: weil sie das vermeintlich Objektive sprengt. Zum Beispiel beim Ficken: die Wahrnehmung des anderen als Sexualobjekt wird nur dann zur Verletzung der Subjektivität, wenn der begehrte Körper zum Sexualobjekt als Vergegenständlichung wird, durch die sich – zumeist – der Mann als Sexualsubjekt bestätigt und konstituiert. Erst die lustvolle Hingabe der Liebenden als Sexualobjekt des anderen und als Objekt der eigenen Lust respektiert Subjektivität. 6 Die Aufhebung der Entzweiung von Subjekt und Objekt, die die Vernunft und die rationale Praxis manifestierte, ermöglicht die Sinnlichkeit als Liebe, in dem sie Subjektivität durch das Lustobjekt vermittelt. Genau das macht die Sinnlichkeit und Lust der Liebe und der Sexualität zur Ästhetik, zur Kunst der Erotik. Deshalb spricht die materialistische Psychoanalyse von der „Kunst des Liebens“ (Erich Fromm). Auch Adornos berühmtes „Monogramm“ spielt auf die lustvolle Einheit von Subjekt und Objekt an: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren. „7 Solange die Liebe der kostbarste Kristall der Utopie bleibt und immer wieder scheitert, tarnt sich alles Gefühl und alles Sehnen nach Glück im sozialtechnischen Begriff der Beziehung; jede Beziehung wird zusammengehalten nicht von Liebe, sondern von Macht. Erst die Macht lässt zu, in der Beziehung auch zu lieben. Nur: die Liebenden spüren diese Macht nicht, solange sie lieben: diese Macht ist die Zeit, und die Liebenden glauben sich in ihrem Glück außerhalb der Zeit setzen zu können. „Die Zeit wird in einem strikten Sinne für die Liebe konstitutiv, indem die Bedrohung durch die Zeit, die Angst vor dem Verlust, dem Aufhören und Stillstellen selbst zur Lustquelle wird, welche die Liebe immer wieder speist und weitertreibt. Auch hier würde die garantierte Sicherheit des Besitzes die Liebe absterben lassen. Denn ihre Unbedingtheit steht in der Klassengesellschaft notwendig gegen das System der Normalität und alle es erhaltenden und verfestigenden Institutionen. Die Angst vor der Zeit ist ein Siegel ihrer Wahrheit, da die Zeit für das Bestehende arbeitet… „8 Deshalb kann die Macht der Liebe durchaus zur politischen Erotik werden: „Macht ist sexy.“ Diese Macht ist aber keine der Wahrheit, oder nur die ihrer Negation: Ohnmacht, dieses heute bei aller Liebe vorherrschende Gefühl, ist unsexy, liebestötend. „Die Liebe kennt immer nur ihre eigene Wahrheit und wird jeder anderen gegenüber gleichgültig. Sie nimmt für sich ein Glück vorweg, das nur als allgemeines Glück sein kann. Daher kann sie nicht glücklich sein: Sie setzt sich selbst ins Unglück, wie sie sich selbst ins Unrecht setzt. Die Normalität behält ihr gegenüber recht, weil in der Normalität die Ansprüche der Allgemeinheit und der besseren Zukunft aufgehoben sind. „9 Die Liebe vermag als machtvolles, gelingendes Glück für einen Augenblick – der bestenfalls auch ein Leben lang währt – gegen die Normalität bestehen; zumeist zu dem Preis, die Normalität auch aufzugeben. Doch die Normalität lässt sich nicht aufgeben; je mehr es gelingt, sie aus der Liebe rauszuhalten, desto stärker schlägt sie zurück: das Realitätsprinzip erinnert an den kapitalistischen Alltag, Büro oder Fabrik; oder Tod („… da die Zeit für das Bestehende arbeitet… „). Dort, wo der Druck der Normalität allerdings gegen die Liebenden sich stellt und unaushaltbar wird, droht die Macht der Liebe sich gegen sich selbst zu richten, offenbart die Ohnmacht der Liebenden: die Hoffnung, dass nach der verlorenen Liebe eine neue kommt, verspricht nicht nur Lust, Zuversicht, Offenheit, sondern stellt – gerade im Schatten der Unwiederbringlichkeit des in der Liebe Verlorenen – die alte Liebe in Frage und verzerrt damit das Bild der schönen Erinnerung. So wird versucht, sich von der Größe der Liebe, die nie wieder so sein wird, zu überzeugen – ein Phantasma, welches nicht so sehr die Idee der Größe einer Liebe beschädigt, sondern die Kraft der Liebe überhaupt, die ein Menschen noch empfindet und geben kann. Schlimmstenfalls ist dies ein Verlust der Fähigkeit, sich selbst zu lieben, und das Geliebtwerden wird nicht mehr zugelassen. Es gibt in dieser Situation keine Kraft der Überzeugung. „Für Männer“ notierte Walter Benjamin in der , Einbahnstraße‘: „Überzeugen ist unfruchtbar. „10
Zusätze
Bei schweren emotionalen Schlägen, guten wie schlechten, bei Gefühlen, die plötzlich und heftig überraschen, wird gesagt: „Das hat mir ganz schön zugesetzt.“ Frage: Wie verhält sich dieses Ganz-schön-Zusetzen, also dieser wohl nicht unangenehme Moment der Selbstwahrnehmung zum Idealismus des sich (unter Umständen sogar: selbst) setzenden Ichs? Ist dieses Zusetzen ein Hinzusetzen, der Schatten meines Glücks und Unglücks? Oder Teil meiner Grunderfahrung als Subjekt im Spätkapitalismus, schließlich aus allerhand verdinglichten, fetischisierten, warenförmigen Zusätzen zu bestehen (da hätte der Idealismus von „Zuthaten“ gesprochen).
Von der Lächerlichkeit der Liebe I
„Nichts, was ich berühre ist von Dauer, /nichts bringt das Verlorene zurück. /Das einzige was bleibt, ist meine Trauer, /der Schmerz und die Erinnerung ans Glück. „11 Die Liebe ist vergänglich vor allem in der Epoche, die sich selbst vergänglich macht: Dabei werden die Gefühle nicht zu Ruinen vergangenen Glücks, die sanft an die Natur zurückgegeben werden, die überwachsen werden, sondern sie werden kultiviert als brutale Moden des Glücks. Vergänglichkeit der Liebe heißt heute nicht mehr das Verschwinden eines Gefühls, die Erinnerung daran, wie es war, das Bild, sondern: Vergänglichkeit heißt Verdrängen, heißt modische Wiederkehr der ewig gleichen Muster, um das Muster zu vergessen. Liebe wird zum Saisongeschäft der kapitalistischen Gefühlsökonomie, eine Verordnung: „Der große Test: Bin ich sexy? – Finden Sie jetzt ihren Traumpartner – Frühlingsgefühle – Wie Sie ihre Beziehung retten – 100 Tipps, 1000 Tipps – Bin ich gut im Bett? Mehr Spaß im Bett – Richtig Flirten – Der große Liebestest…“ Das ist dieselbe Sprache der Liebe, die auf anderen Titeln, eher für Männer, nackte Menschen samt deren vermeintlich intimsten Geständnisse präsentiert. Die nächste Mode der Liebe empfiehlt mehr Kuschelsex, Treue, Seitensprünge, Sexspielzeug, neue Stellungen, die alten Stellungen, mal miteinander reden, Blumen mitbringen, keine Blumen mehr mitbringen. Keine marxistische Theorie der Liebe. Hat die radikale Linke denn überhaupt eine Sprache der Liebe? Walther von der Vogelweides , Liebsgetön‘ (München 1991) ist vergriffen; und Roland Barthes , Fragmente einer Sprache der Liebe‘ (Frankfurt am Main 1988) hat als wichtigste Referenz Goethes , Werther‘. Anmerkung I: Die sexuelle Zwangs- und Doppelmoral betrifft nicht nur die fickenden Geschlechter, sondern jede emotionale Beziehung und ihren sprachlichen Ausdruck, ihren Ausdruckszusammenhang überhaupt. Der Sprache der Liebe fehlen die Real-Symbole und Allegorien, weil sie verwertet wurden in der Reklame (und damit entwertet: die Rose), oder verdinglicht als Wissenschaftssprache, oder als Sprache des Obszönen vulgarisiert. Günther Anders stellt fest, „dass die rasante Veränderung unserer Fähigkeiten, namentlich unserer technischen, uns so überholt hat, dass deren Vorsprung vor unserer emotionalen Kapazität katastrophal groß geworden ist. „12 Anmerkung II: Die radikale Linke hat keine Sprache der Liebe. Der bürgerliche Zwangscharakter macht bei Linken keine Ausnahme, außer die, dass er hier besonders zugreift, zurichtet, mehr verbietet und sublimiert, um sich der Illu- sion hinzugeben, der bessere Mensch zu sein. Aber radikal hieß ja an die Wurzel gehen, die der Mensch selber ist; und am Menschen demonstrieren: Und das ist in aller Liebe nicht der bessere Mensch, sondern der schmutzige, in den Dreck getretene, geile, begehrende; die radikale Linke wäre in dieser Sache die unsachliche: Radikal ist statt Leistungsprinzip nicht das Realitätsprinzip, sondern das Lustprinzip. – Die Aufregung ist zu groß, wenn Deleuze und Guattari schreiben „Es scheißt, es fickt“13, wenn Foucaults Vorlieben für sadomasochistische Praktiken herauskommt. Was für eine gewagte Sprache! Was für ein verruchtes Leben! Für diese Aufregung ist aber keine Zeit, die Kritik führt zu weit. Fickt und scheißt soviel ihr wollt, aber kritisiert die Verwertungslogik, lest die Schlagzeilen der emotionalen Zurichtung des Warensubjekts und diskutiert sie; setzt eine Sprache der Liebe dagegen! Nutzen wir die Phallussymbole, die wir überall entdecken, mit praktischer Phantasie, statt sie im symbolischen Widerstand noch zu verlängern! Gönnen wir dem System nicht auch noch unsere letzten Reserven, die manche sich auch noch selbst vorenthalten, indem wir es ficken wollen!
Von der Lächerlichkeit der Liebe II
In Liebeserklärungen Auswege suchen, und nichts finden
„Denn wir haben überhaupt keine Philosophie der Liebe (… ) womit ich das Fehlen des Minimums meine: Dass wir nämlich in unseren ausgesprochenen oder unausgesprochenen Philosophien die Liebe einfach ausgelassen haben. Noch nicht einmal als Bagatelle mit geringster, aber immerhin bestimmbarer Rolle im Ganzen kommt sie vor… „14 Dazu und dagegen Erich Fromm: „Die Wahrheit ist, dass es kein solches Ding wie , Liebe‘ gibt. , Liebe‘ ist eine Abstraktion; vielleicht eine Göttin oder ein fremdes Wesen, obwohl niemand je diese Göttin gesehen hat. In Wirklichkeit gibt es nur den Akt des Liebens. Lieben ist ein produktives Tätigsein, es impliziert, für jemanden (oder etwas) zu sorgen, ihn zu kennen, auf ihn einzugehen, ihn zu bestätigen, sich an ihm zu erfreuen – sei es ein Mensch, ein Baum, ein Bild, eine Idee. Es bedeutet, ihn (sie, es) zum Leben zu erwecken, seine (ihre) Lebendigkeit zu steigern. Es ist ein Prozess, der einen erneuert und wachsen lässt. „15 – Was ist Liebe? „Liebe ist Freundschaft, Sex und Zärtlichkeit“, singt Jochen Distelmeyer von Blumfeld; und er weiß auch: „Was Liebe nicht zustande bringt, das schafft die Dummheit.“ Liebe schneidet: „Jedes Bild ist wie ein Messer ein Gebrauchsgegenstand/und lesen meint hier denken mit anderem Verstand/indem man liest und was begreift/sich und den anderen sucht und findet (das ist Arbeit)/das Gefundene mitteilt und verbindet (das ist Technik)/gemeinsam eine neue Welt erfindet (das ist Liebe)/und wer das nutzt macht sich verdächtig/ wird unberechtigt Ladendieb genannt so wird ein Zeichensprecher Schwerverbrecher/so wird Gebrauchsgegenstand zwingend Mordinstrument. “
Exkurs zum Ficken als wollüstige Selbstschändung
Geschlechtsneigungen als Beiwohnung
Die Konstruktion der bürgerlichen Zwangsmoral aus dem Geiste des Idealismus, Immanuel Kant in , Die Metaphysik der Sitten‘: „Die Geschlechtsneigung wird auch Liebe (in der engsten Bedeutung des Worts) genannt und ist in der Tat die größte Sinnenlust, die an einem Gegenstande möglich ist; – nicht bloß sinnliche Lust, wie an Gegenständen, die in der bloßen Reflexion über sie gefallen (da die Empfänglichkeit für sie Geschmack heißt), sondern die Lust aus dem Genusse einer anderen Person, die also zum Begehrungsvermögen und zwar der höchsten Stufe desselben, der Leidenschaft, gehört. Sie kann aber weder zur Liebe des Wohlgefallens, noch der des Wohlwollens gezählt werden (denn beide halten eher vom fleischlichen Genuss ab), sondern ist eine Lust von besonderer Art (sui generis) und das Brünstigsein hat mit der moralischen Liebe eigentlich nichts gemein, wiewohl sie mit der letzteren, wenn die praktische Vernunft mit ihren einschränkenden Bedingungen hinzukommt, in enge Verbindung treten kann. „17 Das ist „wolllüstige Selbstschändung“ – keine Metaphysik der Liebe, keine Metaphysik des Begehrens. Kant fasst dies unter den „Kasuistischen Fragen“; in Brasilien sagt man „Casu“ und meint eine sexuelle Affäre. Kant reklamiert das Hausrecht der bürgerlichen Liebe: „Der Mann erwirbt ein Weib, das Paar erwirbt Kinder und die Familie Gesinde. – Alles dieses Erwerbliche ist zugleich unveräußerlich und das Recht des Besitzers dieser Gegenstände das allerpersönlichste (… ). Der Ehe-Vertrag wird nur durch eheliche Beiwohnung (copula carnalis) vollzogen. „18 – Das ist die körperlose, begehrenslose, ungeile „fleischliche Gemeinschaft“, die so auch nahtlos in die Sexualtheorien der frigiden und hysterischen Frau überführt werden können… Aber auch umgekehrt; Brøgger schreibt: „Von der Kernfamilie zur Kernwaffe (… ) das ist kurz gesagt die Geschichte der patriarchalischen Kultur.“ 19 Die Idealfrau im Atomzeitalter ist Sexbombe im Bett, mit Atombusen. – Vgl. dazu de Sades , Juliette‘ und Batailles , Das obszöne Werk‘. Vergleiche auch die Zurichtung der Liebe durch die Kulturindustrie: „Indem so die Gefühle zur Ideologie aufsteigen, wird die Verachtung, der sie in der Wirklichkeit unterliegen, nicht aufgehoben. Dass sie, verglichen mit der Sternenhöhe, in welche die Ideologie sie transponiert, stets als zu vulgär erscheinen, hilft noch zu ihrer Verbannung mit. Das Verdikt über die Gefühle war in der Formalisierung der Vernunft schon eingeschlossen.“ 20 Während die radikale bürgerliche Philosophie sich wenigstens in das Obszöne, das Vulgäre flüchtet, hegt der Konformismus der Gefühle dafür zwar heimliche Symphatie, möchte aber Liebe und Ficken sozialdemokratisch wie diskursethisch rationalisieren und le- gitimieren. Die Philosophie kennt keine Liebe, während die bürgerliche Soziologie positivistisch als Liebe nimmt, was der gesellschaftliche Betrieb als empirisches Datenmaterial angerichtet hat: Umfrage – Lieben Sie? Wie oft haben Sie Sex? Leben Sie in einer Partnerschaft? Was bedeutet Ihnen Treue? Aus den Erhebungen erhebt sich zugleich eine Soziologie der Liebe. 21 Sie bestätigt die Zurichtung des alten romantischen Ideals durch die Kulturindustrie. Bemerkenswert, dass Foucault nach der Konstruktion von Sexualität fragt, nicht nach der Normierungsmacht der zwangsmonogamen, zwangsheterosexuellen Liebesbeziehung: die Familie und ihre ideologischen Surrogate (Singlehaushalt, „Verbotene Liebe“, Prostitution etc. bleiben ja der „Kitt“, die „psychische Agentur der Gesellschaft“ (Horkheimer), und Sexualität – so extravagant, langweilig, spritzig, gewagt sie auch immer sein mag und vorgeführt werden muss – der Ausnahmefall. 22 Die Regel hingegen ist die „Geschlechtsgemeinschaft“, „der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht“, 23 das Schlafzimmer: Wir sagen „miteinander schlafen“ und meinen doch „miteinander ganz wach sein“.
Das gebrochene Herz oder: Der romantische Masochist
Für meinen lieben Freund Tim Gallwitz
Zwischen der idealistischen Restriktion und Rationalisierung und der materialistischen Enthemmung des Geschlechtslebens24 hat sich die Erotik der romantischen Liebe versteckt. Novalis: „Bedeutender Zug in vielen Mährchen, dass wenn Ein Unmögliches möglich wird – zugleich ein andres Unmögliche unerwartet möglich wird – dass wenn der Mensch sich selbst überwindet, die Natur zugleich überwindet (… ). Vielleicht geschähe eine ähnliche Verwandlung, wenn der Mensch das Übel in der Welt liebgewänne – in dem Augenblicke, als ein Mensch die Kranckheit oder den Schmerz zu lieben anfienge, läge die reizendste Wollust in seinen Armen – die höchste positive Lust durchdränge ihn. Könnte Kranckheit nicht ein Mittel höchster Synthesis seyn – je fürchterlicher der Schmerz desto höher die darinn verborgene Lust. (Harmonie. ) Jede Kranckheit ist vielleicht nothwendiger Anfang der innigen Verbindung 2er Wesen – der nothwendige Anfang der Liebe. „25 – Zu retten ist die romantische Liebe nur als die Narbe der Krankheit, des Schmerzes der alten Wunde; das gebrochene Herz hat sein Recht in der Trauer, um mit diesem Herz jene Romantik zu brechen, die als Glücksversprechen in der Kulturindustrie fortgesetzt wird: Also gegen die Prinzessin im sozialdemokratischen Kleinfamilienmuff, von der Pur singen, gegen den Weiberkommunismus des Heinz-Rudolf- Kunze-Sexismus („Es gab mal Zeiten, wo die Brüste unserer Mädchen noch kein Geheimnis waren, noch kein Privatbesitz“), gegen Schulhefte und Federmäppchen, die mit Herzchen, Pärchen und Püppchen bedruckt und beklebt sind, gegen den Kuschelsex der Spießer und die Beziehungsprobleme der Schönen. , Kein Sex mit Mike‘. Also gegen die entwürdigende Pornografie von Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen, gegen den witzigen Triebverzicht, keine von Doris Dörrie entworfenen Liebesszenarien, die von Uwe Ochsenknecht und Veronika Ferres vorgeführt werden. Warum wird in den Multiplexkinos nicht mehr gefummelt, wo doch alle Sinne und alle Sinnlichkeit zu befriedigen versprochen wird? Wurde jemals in den Kinos gefummelt? Warum ist es lächerlich, aus der Liebe eine Waffe zu machen? Warum stören sich manche mehr an Blumfelds Liebesliedern als an der allgemeinen „Lovesong-Regression“ (Mühlhäuser) des Soundtracks der Neuen Mitte? Was stimmt nicht an den Liebesliedern des Altkommunisten Dieter Bohlen? Was stimmt nicht an der Aufmerksamkeit, mit der auch wir uns für sein Privatleben, für Verona Feldbusch und so genannte „Teppichluder“ interessieren? Dieter Bohlen macht, was die Sterne als Parole ausgegeben haben: er „fickt das System“! Und Rocko Schamoni bringt dazu die ironische Wendung, wenn er proklamiert, die Hausbesitzer aus den Wohnungen rauszuschmusen. – Schmust das System! Und so weiter. All das hat nichts zu tun mit den Verletzungen und dem Vertrauen der Verliebten, mit der Hingabe und der Gänsehaut, mit Küssen und Lecken. Es gibt eben nur Fragmente einer Sprache der Liebe, so wie es nur die Augenblicke ihres Glücks gibt, das wir versuchen mit einem hilflosen Wort festzuhalten, zu bewahren und zu erinnern. „Verzweiflung ja, Selbstmitleid nein“ (Knarf Rellöm) – das Paradies der Ungeliebten ist die Hölle der Normalität.
Anmerkungen
1 Walter Benjamin, Einbahnstraße, in: Gesammelte Schriften Bd. IV. 1, Frankfurt am Main 1991, S. 119.
2 Herbert Marcuse, Notizen zu Proust, in: Kunst und Befreiung. Nachgelassene Schriften Band 2, Lüneburg 2000, S. 152.
3 Marcuse, Notizen zu Proust, a. a. O. , S. 153.
4 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, in: Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 195.
5 Marcuse, Notizen zu Proust, a. a. O. , S. 153 f.
6 Die bürgerliche Philosophie denkt dies nur als sachliches Eigentumsverhältnis des Besitzes. „Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht, ist ein Genuss, zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich der Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, dass, indem die eine Person von der anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her.“ (Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Darmstadt 1956, S. 390 f. )
7 Adorno, Minima Moralia, a. a. O. , S. 218.
8 Marcuse, Notizen zu Proust, a. a. O. , S. 152 f.
9 Marcuse, Notizen zu Proust, a. a. O. , S. 155.
10 Walter Benjamin, Einbahnstraße, a. a. O. , S. 87.
11 Jochen Distelmeyer; Blumfeld, Der Wind, aus: Testament der Angst, 2001.
12 Günther Anders, Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens, München 1989, S. 9.
13 Gilles Deleuze und Félix Guattari, AntiÖdipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1977, S. 7.
14 Anders, Lieben gestern, a. a. O. , S. 12. Nun hat Axel Honneth in einem Literaturbericht gezeigt, dass die Liebe als Thema der Philosophie doch vorkommt: Axel Honneth, Liebe und Moral. Zum moralischen Gehalt affektiver Bindungen, in: Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2000, S. 216ff. Bürgerliche Kälte durchzieht diesen Diskurs…
15 Erich Fromm, Haben oder Sein, München 1967, S. 27.
16 Blumfeld, Sing Sing, auf „L’Etat e Moi“, 1994.
17 Kant, Die Metaphysik der Sitten, a. a. O. , S. 559.
18 Kant, Die Metaphysik der Sitten, a. a. O. , S. 392.
19 Suzanne Brøgger, … sondern erlöse und von der Liebe, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 64.
20 Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3, a. a. O. , S. 111.
21 Vgl. auch: Ulrich Beck und Elisabeth Beck- Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990.
22 Insofern ist Foucaults Kritik der so genannten Repressionshypothese zu diskutieren: Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit Band 1, Frankfurt am Main 1983.
23 Kant, Die Metaphysik der Sitten, a. a. O. , S. 389.
24 Zur Entstehung der Pornografie als mitunter feministischer und materialistischer Angriff auf patriarchalische Lustverweigerung, Verzicht und Verbot, vgl. Lynn Hunt (Hg. ), Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne, Frankfurt am Main 1994, vor allem: Margaret C. Jacob, Die materialistische Welt der Pornographie, S. 132 ff.
25 Novalis, Schriften Band 2: Das philosophischtheoretische Werk, hg. v. Hans-Joachim Mähl, Darmstadt 1999, S. 628.