Streifzüge 3/2001
von Amir Assadi
Ich bin ein iranischer Weltwirtschaftsflüchtling, der seit anderthalb Jahrzehnten in Deutschland lebt. Ich habe den islamischen Terror am eigenen Leib erfahren, und vielleicht ist das der Grund meines Entsetzens über die Brutalität der anti-wertkritischen und antideutschen Stellungnahmen im letztem Dossier der Jungle World vom 26. September 2001 (mit Beiträgen u. a. von Herrn Thomas Heinrich, Professor für amerikanische Wirtschaftsgeschichte in New York). Diese anti-wertkritischen Stellungnahmen sind Dokumente des geistigen Scheiterns der deutschen Linken.
Frau Heike Runge will alle Wertkritiker – also wohl auch mich – nach Afghanistan abschieben, denn „wenn ich Wertkritiker wäre, würde ich nach Afghanistan ziehen. Da wird nicht viel produziert, und ich hätte nicht so viel zu tun.“ Dass diese schwergewichtige Philosophin à la Schil(l)y-Beckstein gerne weiter Wert und damit Mehrwert produzieren will, ist ihre demokratische Pflicht. Was mich hier in Staunen versetzt, ist bloß ihr solidarisch-unschuldiger Analphabetismus. Denn offenbar spürt sie zwischen der heutigen Lage in Afghanistan und der Welt als Weltmarkt sowie der Weltgeschichte keine Verbindung. Es ist eine gelungene Verdrängung.
Herr Landgraf ist in dieser Hinsicht konsequent, “ denn in diesem Falle ist der Kapitalismus seinen Feinden vorzuziehen…. Wenn nötig, auch mit Gewalt.“ Lieber Herr Anti-Antisemit, wie wäre es mit dem systematischen Massenmord an fünf Millionen hungernden Afghanern? Weil ihr Hunger ja Produkt der Wirtschaftsverhältnisse auf einem anderen Planeten ist. Oder mit Kamikaze- Angriffen gegen die unter dem Embargo leidenden Babys in Bagdad? Sind Sie wirklich so zynisch und instrumentalisieren die Verbrechen der Nazis an den Juden dafür, dieses Leid zu leugnen oder auch nur klein zu reden, das Ihr famoser Kapitalismus im Hier und Heute tagtäglich produziert?
„In diesem Falle“ kann man vielleicht Deutschland auch für eine antideutsche Koalition für die humanistisch-emanzipatorische Politik des Staates Israel gewinnen. Aber bevor man sich diese konsequent demokratischen Fragen stellt, sollte man einsehen, dass Landgraf den „Clash of Civilizations“ schon längst verinnerlicht hat, sonst könnte er nicht von „Feinden des Kapitalismus“ oder sogar von „diesem Falle“ sprechen, in dem „wenn nötig, auch mit Gewalt“ reagiert werden müsse. Hier muß man beachten, dass das Wort „Kapitalismus“ zur bloßen Kodierung für die sogenannte fortschrittlich- demokratische Weltwestgesellschaft verwendet worden ist. Die übrige Welt erscheint offenbar als ein düsteres und barbarisches „Außen“. Die Bezeichnung „Kapitalismus“ wird begrifflich völlig ausgehöhlt und ist damit nur noch bloße (linke) Geste. Alles ist Schein, ist Zeitgeist. Tatsächlich aber bedeutet die von Herrn Landgraf geforderte und von Mr. Rumsfeld umgesetzte Politik für die Völker des Nahen Ostens und meine Verwandten in der Region gleichermaßen linke Politik mit gleichen bombastischen Ergebnissen. Es ist erschreckend grandios.
Wenn die BRD 50 Jahre Zeit brauchte, um die eigene Geschichte vergessen zu machen und damit Auschwitz zur Eintrittskarte für den Krieg instrumentalisieren zu können, bedurfte die (anti)deutsche und antiwertkritische Linke sage und schreibe weniger als 20 Tage, um die Geschichte des Nahen Ostens zu verdrängen. Aber es ist wohl eher zu vermuten, dass sie nie eine Ahnung davon hatte.
Es ist schwer, wie einst Hegel sagte, die Last der Geschichte auf sich zu nehmen und erst dadurch Individuum zu werden. Und daher empfiehlt Herr Schmidt „Sleeper“ zu werden. Wecken Sie mich bitte nicht, selbst wenn Krieg da ist. Als ob diese genial-originelle Idee nicht genug wäre, setzt er sogar noch Folgendes drauf: „Für den Krieg aber mag ich auch nicht sprechen, denn er bekämpft nur die Symptome des Elends, nicht seine Ursachen“. Man hört es: ein zarte Seele! So zögerlich! Wie mag dann wohl die „Kur“ aussehen, wenn der Krieg schon als „Symptombehandlung“ gelten darf? Wie viele Leichen dürfen es denn sein? Bitte keine Sorge, schlafen Sie weiter. Die gesamte Menschheit ist dabei, Sleeper der Marktwirtschaft zu werden. Happy End for You.
Und Sie Herr Heinrich, Professor für amerikanische Wirtschaftsgeschichte: „Keine Träne für New York“? Kein Zweifel: es ist schwer und erschütternd, aus der Nähe mitzuerleben, wie Bekannte und Mitbürger der eigenen Stadt zum Opfer eines Massenmordes werden. Glauben Sie mir: ich weiß, wovon ich spreche. Daher frage ich Sie als New Yorker und als Wirtschaftsprofessor: Haben Sie jemals auch an meine Landsleute gedacht – von Tränen ganz zu schweigen -, als Bomben made in USA meinen Freunden die Beine und das Leben nahmen? Haben Sie jemals etwas für meinen 18-jährigen Cousin empfunden, als er mit chemischen Bomben made in Germany in einem Teheraner Krankenhaus wie viele andere Tausende aufgepustet erstickte? Sind Sie als (Hegelsches) Individuum und als Erzähler des Horrormärchens der Wirtschaftsgeschichte jemals auf die Idee gekommen, dass dies alles im Dienste des Wachstums IHRER majestätischen Volkswirtschaften geschah und dass man als Westler, sofern man sich nicht für eine humane Welt jenseits der „Naturgeschichte“ einsetzt, verschuldet aus dem Paradies vertrieben worden ist? Haben Sie in Ihren Seminaren das Wesen der Wirtschaftsgeschichte als Geschichte des Tötens und des Nehmens für die Söhne und Töchter der Global Players entlarvt? Mitnichten. Das ist Ihrem Artikel nicht zu entnehmen.
Statt eine über Ware und Wert vergesellschaftete Welt zu kritisieren, in der es nirgendwo an Mord und Vergewaltigung fehlt, greift frau/man einen Robert Kurz an, der schon 1991 im „Kollaps der Modernisierung“ die sehr verehrte Westöffentlichkeit vor einem „Weltbürgerkrieg“ gewarnt hat. Das ist für mich wahre Anteilnahme und nicht die erst durch die existentielle und unvermittelte Naherfahrung eines von Wahnsinnigen verübten Massenmordes ausgelösten Tränen.
Natürlich glaube ich, genau wie der von Ihnen gut missverstandenen Robert Kurz, dass die Menschen keinesfalls in ihrem Handeln absolut determiniert sind. Auch die Terroristen hätten anders handeln können als sie es taten. Gerade das aber verweist darauf, dass wir als Noch-Menschen mit der subjektlosen Maschinerie der Wert- und Wahnsinnsproduktion brechen können und müssen. Anderenfalls wird diese Existenz- und Produktionsweise uns, wie viele nicht von den Kameras wahrgenommene Opfer der Wirtschaftsgeschichte, in Schutt und Asche begraben. Da darf man von Ihnen dann ja wohl mehr als einige Tränen erwarten. Aber Sie sagen selbst, dass Sie nicht mit dem „globalen Totalitarismus der Ökonomie“, sondern eher mit den ausgebliebenen Tränen der Linken Probleme haben. Dennoch glaube ich, dass Ihrer Behauptung zumindest ein kleiner Rest von Wahrheit zukommt, denn die Welt würde bestimmt anders aussehen, wenn die Nutznießer des Weltmarkts nach jedem beabsichtigt exekutierten Leben heulen und daraus Lehren ziehen würden.