Streifzüge 3/2001
von Karl Reitter
DIESER BEITRAG STELLT EINE ÜBERARBEITETE UND ERWEITERTE FASSUNG EINES ARTIKELS DAR, DEN ICH UNMITTELBAR NACH DEN ANSCHLÄGEN VOM 11. SEPTEMBER GESCHRIEBEN HABE
Ich bezweifle, dass es der Linken bis dato gelungen ist, die Reaktion auf den Anschlag vom 11. September wirklich zu verarbeiten. Obwohl der Großteil der Stellungnahmen aus der Linken durchaus interessant und diskussionswürdig ist, läßt sich das ganze Ausmaß der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse erst nach und nach absehen. Vielleicht stehen wir alle noch viel zu sehr mitten im Geschehen, um das Ausmaß der Folgen abschätzen zu können. Es lassen sich allerdings einige Elemente erkennen, die den Schluss nahe legen, dass wir in eine neue Weltordnung eingetreten sind. Möglicherweise ist der Ausdruck „neue Weltordnung“ etwas zu hochtrabend, aber werfen wir einen Blick auf die Geschehnisse selbst.
Die Medien
George Orwell hätte es nicht besser beschreiben können. Die mediale Inszenierung unmittelbar nach dem Anschlag kann nur mit den Worten Gehirnwäsche und Manipulation bezeichnet werden. Länger als 48 Stunden gab es auf allen Fernsehkanälen nur ein Thema, DAS Thema. Unablässig wurde auf dem Klavier der Emotionen gespielt, und das Stück lautete Entsetzen, Trauer und Wut. Auf Entsetzen hatte Trauer, auf Trauer hatte Wut zu folgen. Wut, und nichts anderes. Fragen, gar kritische Fragen an die Adresse der US-Administration waren unmöglich und pietätlos. Unablässig drehte sich die Inszenierung der begriff- und bewusstlosen Emotionalisierung im Kreis, und alle, alle haben mitgemacht. Vom „Falter“ bis zur „Krone“, von unpolitischen Zeitschriften wie der „Auto- Revue“ bis zum ORF, der über das stärkste Mittel verfügt, über die Bilder des Grauens. Kein Superlativ wurde ausgelassen, um das Schreckliche zu benennen. Die totalitäre Gleichschaltung in der Berichterstattung produzierte geradezu groteske Blüten, der „U-Express“ veröffentlichte Kinderzeichnungen der attackierten Türme des WTC, auf „Radio Wien“ wurde ein halboffizieller Trauersong gespielt (ein Mädchenchor trällert ein besinnliches Lied) – auch solches existiert bereits. Die verordnete Trauer hatte unmittelbaren Befehlscharakter – wer hätte es gewagt, sich bei den diversen verordneten Gedenkminuten nicht zu beteiligen.
Grund zur Trauer über unschuldig ums Leben gekommene Menschen gibt es leider mehr als genug. Es ist müßig, hier all die Ereignisse aufzuzählen, bei denen die Opferzahlen jene des Anschlages um das x-fache übersteigen. Wir könnten Katastrophen wie das schwere Erdbeben in der Türkei, oder die tausenden Toten der Militärschläge gegen Jugoslawien oder den Irak nennen. Die Liste ist nicht abzuschließen. Was sich in der medialen Inszenierung zeigte, war eine geradezu peinliche Wertigkeit. Wir müssen uns damit abfinden: der Tod amerikanischer Staatsbürger ist einfach schrecklicher als der Tod irgendwelcher Habenichtse in der Peripherie. Wie zur Bestätigung explodierte vor wenigen Tagen ein russisches Verkehrsflugzeug über dem Schwarzen Meer. War es ein Sabotageakt oder – was in gewisser Weise noch unheimlicher wäre, wurde das Flugzeug irrtümlich abgeschossen, mussten also Dutzende Menschen wegen blanker Fahrlässigkeit ihr Leben lassen? Die internationale Reaktion – ein Achselzucken.
Sicher hat es Menschen gegeben, die wirklich tief betroffen waren. Doch diese Menschen reagierten gerade nicht mir Wutgeschrei und dem Ruf nach dem Kreuzzug. In einem Brief wandte sich ein Ehepaar, dessen Sohn von den Trümmern des WTC erschlagen wurde, an die Öffentlichkeit. Darin protestieren sie gegen die politische Vereinnahmung der Toten. Auch noch so viele Bomben auf Afghanistan würden ihren Sohn nicht mehr lebendig machen. Wer wirklich betroffen ist, brüllt nicht stur nach Rache. Doch diese tatsächliche Betroffenheit interessierte die Medien nichts. In gleichgeschalteter Kumpanei mit den politischen Eliten zelebrierten sie statt dessen deren gespielte und geheuchelte Trauer. Wie könnte man auch jenen die Betroffenheit abnehmen, die im selben Atemzug die Toten des WTC beklagen und gleichzeitig militärische und politischen Aktionen vorbereiten, die noch mehr Tote, Elend, Flüchtlinge und Zerstörung zur Folge haben? Wer könnte dies außer einer willfährigen Journaille, die das ganze Gerede von unabhängigen, kritischen und engagierten Medien ad absurdum führte? Und wo blieb die viel beschworene Zivilgesellschaft, die sich, will man ihren ProtagonistInnen glauben, gerade durch das öffentliche Engagement mündiger BürgerInnen auszeichnet? Wo all jene ach so kritischen Intellektuellen, die so gerne über die Marxistische Linke die Nase rümpften? Die Klügeren haben geschwiegen, der Rest mit der Meute mitgejohlt.
Die Betroffenheit
Und doch, die Betroffenheit in den Gesichtern der politischen Eliten war nicht nur gespielt. Nur hatte sie ihre Wurzel nicht in Mitleid und Mitgefühl. Sie resultierte zu aller erst aus der ungeheuren narzisstischen Kränkung, aus der traumatischen Zerstörung der Allmachtsphantasien. Man hatte dem Herren der Welt eine ungeheure Tat angetan. Wir bewegen uns nun auf dem dunklen Feld psychischer Phantasmen. Und es ist natürlich auch kein Zufall, dass die äußerte Rechte gerade auf dieser Ebene ihre Genugtuung über den Anschlag zum Ausdruck brachte. Lang gehegte Ressentiments, die freilich Jahrzehnte lang durch das anmaßende und präpotente Gehabe der USA genährt wurden, kamen reflexartig zum Ausbruch. Wer in den USA kein Objekt der Analyse, sondern ein Objekt des Hasses erblickte, konnte seine Befriedigung über den Anschlag nicht verbergen.
Es existiert freilich eine weitere Dimension der Betroffenheit, ja Wut, die sehr leicht zu übersehen und doch von zentraler Bedeutung ist. Die Schuldigen des Anschlags standen sofort fest: Urheber war der islamische Terror und sein Drahtzieher, Osama bin Laden. Dieses Urteil existierte bereits lange vor dem Anschlag, es wurde durch ihn nur noch bestätigt. In der Imagination des westlichen Establishments fungiert der islamische Fundamentalismus nicht nur als das bedrohliche Andere, Fremde, er steht auch für das Niedrige, Unkultivierte, Rückständige und Unzivilisierte. Und nun hat jemand, der auf der niedrigsten Stufe der Hierarchie steht, gewagt, den Herren der Welt brutal anzugreifen. Die Mechanismen, die nun zum Tragen kamen, sind älter als der Kapitalismus. Sie existieren, seitdem es soziale Ungleichheit, kurzum, seitdem es Herr und Knecht gibt. Wenn nun der Herr den Knecht schlägt, wenn Machthaber ihre Untertanen hinrichten lassen, so mag dies oftmals als moralisch ungerechtfertigt, falsch und inhuman kritisiert werden. Doch niemals ist die Wut so groß wie dann, wenn sich der Untertan an seinem Herrn vergreift. Studiert man die Geschichte der sozialen Revolten und Rebellionen, wird man immer wieder auf dieses Muster stoßen. Die namenlosen und gesichtslosen Massen, die von ihren Herrn gedemütigt, geknechtet und hingerichtet wurden – wen interessieren und berühren sie wirklich? Aber wehe, die Gewalt richtet sich gegen die Mächtigen und Herrschenden. Geradezu verräterisch sind die Assoziationen zum historischen Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo, die in diversen Medien geäußert wurden. Hätte der junge serbische Aktivist auf einen xbeliebigen K. u K. Offizier geschossen, wir würden von diesem Vorfall nicht mehr wissen. Es ist schon sehr bezeichnend, dass trotz aller noch so gewaltigen Unterschiede zwischen der verfaulenden Monarchie mit ihren dekadenten Repräsentanten und den Symbolen der Macht und Herrschaft der USA, so manche Kommentatoren treffsicher die Parallele erahnen. In beiden Fällen konnte und kann es nur eine Antwort der Machthaber geben: der Frevel muss gesühnt werden.
Wir sind die Herren der Welt
Die Erklärungen der US-Administration nach dem Anschlag, allen voran des Herrn Bush ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ohne Umschweife wurde ein gnadenloser und erbarmungsloser Kreuzzug verkündet. Die militärische Produktion von Tod und Vernichtung wurde unverhohlen als Ziel proklamiert. Die Parole lautete Kampf des Guten gegen das Böse. Nicht wenige Kommentatoren vermuteten in diesen starken Worten bloßen Theaterdonner, markige Sprüche für die amerikanische Öffentlichkeit. Hatten schließlich nicht einige europäische Staaten zur Mäßigung und Besonnenheit aufgerufen? Und welchen Zweck sollte es haben, das bereits völlig zerschossene Kabul, in dem nach über zwanzig Jahren Bürgerkrieg kaum mehr ein Haus intakt ist, nochmals zu bombardieren? Um die Sinnhaftigkeit dieser inzwischen erfolgten Militärschläge zu erkennen, muss man das machtpolitische Kalkül der US-Politik betrachten. Die USA waren und sind fest entschlossen, den Kreuzzug nicht alleine zu führen. Im Gegenteil, ultimativ wurde von allen, und zwar wirklich von allen, egal ob es sich um Staaten, Institutionen oder Einzelpersonen handelt, gefordert, bedingungslos am Kreuzzug teilzunehmen. Wer es wagen sollte, Kritik oder Bedenken zu äußern, musste damit rechnen, als „Schurkenstaat“ oder Helfershelfer selbst ins Kreuzfeuer zu geraten. Die Raketen auf Afghanistan haben auch eine symbolische Bedeutung, sie zeigen: „Wir meinen es bitter ernst“. Der Spruch „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, war keine rhetorische Floskel, sondern stellt ohne Zweifel die neue Doktrin der US-amerikanischen Außenpolitik dar. Selbst der Irak, Cuba oder Libyen übten sich in ausgesprochener Zurückhaltung, Saudi-Arabien, der Iran und Pakistan reihten sich – und sei es nur aus taktischen Gründen – in die Front der Terrorbekämpfer ein. Offenbar hatten die US-Diplomaten diesen Regierungen klar gemacht – ein falsches Wort, und schon steht auch ihr auf der Liste. Bezeichnend ist auch das Verhalten der europäischen Staaten. Nicht die Worte des amerikanischen Präsidenten entpuppten sich als bloße Floskeln, sondern die Sprüche über das notwendige Augenmaß bei der Terrorbekämpfung der europäischen Staatskanzleien. Und nun nehmen auch sie artig am großen Kreuzzug mit Truppen und militärischem Gerät teil. Interessant ist dabei das Verhalten Großbritanniens und Australiens, die sich mit besonderem Eifer am Kreuzzug beteiligen. Das scheint gute Gründe zu haben. Die Rangordnung in der Koalition gegen das Böse stellt offenbar zugleich die Rangordnung bei der weltweiten Neuverteilung der Macht dar. Die systematische Opposition gegen die Politik der US-Regierung scheidet als politische Option selbstverständlich aus. Ebenso ist die Frage, wer weltweit die Nummer eins ist, entscheiden. Jetzt geht es nur noch um die weiteren Plätze. Großbritannien spielt in der EU zweifellos eine untergeordnete Rolle, ja agiert ein wenig als Außenseiter. Offenbar erkannte der Sozialdemokrat Blair die Gunst der Stunde. Als verläßlicher und engagierter Juniorpartner der USA soll offensichtlich machtpolitisches Terrain gut gemacht werden. Australien wiederum gelüstet es offensichtlich nach einer führenden Rolle im regionalen Raum. Aus einem Einwanderungsland soll offenbar ein weißes, christliches Bollwerk entstehen, das, zumindest in Südostasien, militärisch und politisch als Ordnungsmacht agieren und intervenieren kann.
Vom Krieg zur Polizeiaktion
Vietnam war das letzte Militärabenteuer der USA, bei dem der Ausdruck Krieg gerechtfertigt war. Was folgten waren gigantische Polizeiaktionen, sei es gegen Jugoslawien, sei es gegen den Irak. Diese Veränderung ist, wie mir scheint, bis jetzt viel zu wenig bedacht worden. Ich möchte mich nun auf einen Aspekt beschränken: auf die Darstellung des Gegners. Obwohl jede Rhetorik des Kampfes dem Feind alle moralischen Qualitäten abspricht, verbleibt doch ein Element der Gleichartigkeit. Vor allem: Die Option des Krieges schließt die Option des Friedens mit ein, und umgekehrt. Auf das Schlachtfeld folgt der Verhandlungstisch, auf die Verhandlungen die Kriegserklärung. Solange Kriege zwischen regulären Armeen geführt wurden, war fast immer ein Element der Achtung für den anderen erkennbar, schließlich ist der feindliche Soldat ja auch nur eine Person, die, wie man selbst, seine Pflicht erfüllt. Und nicht zuletzt beinhaltet der Krieg nicht nur den Sieg, sondern auch die Niederlage. Zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg kann man ein Element in den Kriegskonzeptionen erkennen, das man als „ritterliche Schlachten“ bezeichnen könnte. Die Polizeiaktion unterscheidet sich hinsichtlich der Darstellung des Gegners beträchtlich. Zwischen Polizei und Verbrecherbanden kann es keinen Frieden geben, schon das Wort ist völlig fehl am Platz. Kann man für das Militär Friedens- von Kriegszeiten unterscheiden, so ist der Kampf der Polizei gegen das Verbrechertum eine permanente Aufgabe, die prinzipiell nie enden kann. Auch die Begriffe Sieg und Niederlage sind für Polizeiaktionen nicht anwendbar. Es gibt bloß erfolgreiche Aktionen und Fehlschläge. Die Einsätze gegen Jugoslawien und den Irak waren bereits als Polizeiaktionen konzipiert. „Verbrecherische Cliquen“ hatten – so die offizielle Sprachregelung – verbrecherische Untaten gesetzt. Eine illegale und wider alles Völkerrecht vollzogene Annexion eines souveränen Staates einerseits, massive Verletzung der Menschenrechte andererseits. In einer internationalen Polizeiaktionen, bei der eigene Verluste kaum zu verzeichnen waren, mussten die Täter bestraft und das Recht wieder hergestellt werden. Der Einsatz erfolgte im Namen einer höheren sittlichen Ordnung. Im nun verkündeten Kampf gegen das Böse wird selbst diese fadenscheinige Legitimation offen aufgegeben. Strafrechtliche und völkerrechtliche Überlegungen werden nicht einmal am Rande erwähnt, und niemand wagt es, diese öffentlich einzufordern. Es ist sonnenklar, dass unmittelbar nach dem 11. September die USA ihren Militäreinsatz gegen Afghanistan geplant haben. Bezeichnenderweise wurde nicht einmal behauptet, man hätte mit der Planung gewartet, bis Beweise gegen bin Laden vorlägen. Natürlich gibt es sie bis heute nicht, schließlich stand das Urteil von Anfang an fest, und das muss genügen. Die gesamte politische Elite, die zahllosen JournalistInnen, die kein Sterbenswörtchen an Kritik über ihre Lippen bringen, wissen so viel über die tatsächliche Beteiligung von Bin Laden am Anschlag wie ich, nämlich nichts. Man vermutet… , aber was vermutet man? Dass er „irgend etwas“ mit dem Anschlag „zu tun hat“? Das klingt zwar plausibel, aber zwischen „irgend etwas damit zu tun haben“, und der direkten Beteiligung, ja der Planung des Anschlags ist doch ein gewaltiger Unterschied. Möglicherweise sind über mehrere Stationen Gelder des saudischen Millionärs bis zu den Attentätern geflossen, und sehr wahrscheinlich wurde Bin Laden in diesen Kreisen als großer Held und als Vorbild verehrt. Aber muss er deswegen tatsächlich unmittelbar diese Tat befohlen haben? Es ist wirklich erschreckend, dass die Antwort auf diese Fragen für Planung und Durchführung des Militäreinsatzes völlig egal ist.
Kriminalistische und völkerrechtliche Überlegungen kümmert die internationale Anti-Terror- Koalition nichts. Ebenso die Frage, ob die bloße Weigerung der afghanischen Regierung, Bin Laden auszuliefern, tagelange Angriffe mit gewaltigen Vernichtungswaffen legitimiert. Man stelle sich nur vor, Israel hätte südamerikanische Staaten, die nicht prompt Nazi-Verbrecher ausgeliefert hätten, mit Raketen angegriffen. Der Grund für den brutalen Angriff auf ein völlig zerstörtes Land wird von den USA nicht einmal verschwiegen oder beschönigt, sondern groß herausposaunt. Afghanistan hat es gewagt, nicht dem Willen der USA promptest nachzukommen. Halten wir uns nochmals diese Logik vor Augen. Die Anschläge wurden von Personen arabischer Herkunft durchgeführt, die Jahre lang im Westen gelebt haben. Mit Afghanistan und den Taliban hatten diese Personen – außer wahrscheinlich auf der Ebene der Sympathien – nichts zutun. Sie sprachen weder eine der in Afghanistan verwendeten Sprachen, noch besuchten sie die Koranschulen der Paschtunen im pakistanischen Exil. Uninteressant, es genügt die Sympathie mit dem Terror um Angriff nach Angriff gegen Afghanistan zu legitimieren. Letztlich ist es bloß die Gesinnung, die den Einsatz von Waffen mit ungeheurer Zerstörungskraft rechtfertigen soll. Und auch hier ist eine weitere Verrohung zu beobachten. Der Krieg gegen den Irak wurde als „sauberer“ Krieg verkauft. Angeblich wurden nur militärische Ziele anvisiert – ein Märchen, wie wir heute alle wissen. Selbst diese Behauptung wird gegenwärtig nicht einmal erhoben. Es wird nicht ein mal mehr dementiert, dass es selbstverständlich auch Frauen und Kinder, teilweise auf der Flucht, trifft. Bei den Angriffen auf Jugoslawien wurde ein Wort erfunden, das an Zynismus nicht zu übertreffen ist: Kollateralschäden. „Kollateral“ ist ein botanischer Ausdruck und bedeutet „seitlich angeordnet“. Wir nehmen zur Kenntnis: reißt es einem Kind durch westliche Bomben die Beine weg, so handelt es sich um einen „seitlich angeordneten Schaden“. Nun ist selbst dieses Wort offenbar nicht mehr notwendig.
Sprachregelung
Die USA sind nicht einmal mehr in der Lage, sittliche Ziele des Militärschlags vorzutäuschen. Und das, obwohl die Taliban eine Herrschaft errichtet haben, die selbst innerhalb des arabischen Raumes kaum auf ungeteilte Zustimmung stößt. Die furchtbare, verzweifelte Lage der afghanischen Frauen wird nicht einmal in Nebensätzen angesprochen. Inzwischen ist hundertmal dokumentiert und ausgesprochen worden, dass die Taliban ein legitimes Kind der geostrategischen Interessen der USA sind. Sie waren es, die die „Studenten des Koran“ (Taliban bedeutet wörtlich Student) hochgerüstet haben, um die Sowjetunion zu destabilisieren. Die wahre Gefahr der Taliban liegt im Modell der gesellschaftlichen Ordnung, die sie in Afghanistan errichtet haben, und die möglicherweise auf Pakistan übergreifen könne. Bedroht und gefährdet von diesem Regime sind die Frauen und all jene, die eine andere soziale Ordnung in diesem Raum erhoffen, keinesfalls die USA. Wenn man schon unbedingt das Wort Terror verwenden möchte, so richtet sich dieser gegen die eigene Bevölkerung. Aber genau dieses Faktum wagen die USA nicht einmal anzusprechen. Die Gesellschaftspolitik der Taliban interessiert sie nicht, hat sie nicht interessiert und wird sie auch nicht interessieren. Worum es schlicht und einfach geht, ist die Etablierung eines Regimes, das den USA willfährig ist. Die Optionen, die als Ersatz für das Taliban-Regime diskutiert werden, zeigen dies ganz deutlich. Die sogenannte Nordallianz unterscheidet sich von den derzeitigen Machthabern in Kabul im Wesentlichen nur dadurch, dass sie von Angehörigen der usbekischen und tadschikischen Minderheit gebildet wird. Der Plan, den gestürzten König Zahir Shah aus dem italienischen Exil wieder nach Kabul zu holen, um ihn als einigendes Band zu inaugurieren, muss wohl zwangsläufig scheitern. Niemals in der Geschichte Afghanistans konnte das Königshaus diese Rolle spielen, die Macht des Königs beschränkte sich praktisch auf das Gebiet rund um Kabul. Durch seine Absenz im Kampf gegen die sowjetischen Truppen verfügt er über keinerlei Prestige. Genug der Planspiele, alle diese Kräfte repräsentieren keineswegs irgendwie fortschrittliche soziale Strömungen sondern sind bloß Schachfiguren der strategischen Interessen der USA.
Die Gleichung Taliban = Terroristen beruht also keineswegs auf den Taten und Untaten der Taliban. Sie beruht weiters nicht einmal auf einer direkten Beteiligung an den Anschlägen vom 11. September. Und auch hier wieder: Nicht einmal dies wird von den USA behauptet. Doch die Kombination von antiamerikanischer Gesinnung und der Tatsache, dass Bin Laden dort seit Jahren wirkt, genügt für die Gleichung. Die tatsächlichen politischen, sozialen und kulturellen Ziele sind für die Definition uninteressant. Entscheidend ist, sie beugen sich nicht sofort dem Diktat der alten und neuen Weltmacht. Die Gleichsetzung, wer sich nicht unseren Interessen beugt, ist Terrorist, wurde natürlich mit Freuden übernommen. Allen voran von Rußland. Der Widerstand in Tschetschenien = Terroristen, die Palästinenser = Terroristen, Volksgruppen, die im äußerten Westen Chinas nicht unter Kontrolle zu bekommen sind = Terroristen. Freilich sollten sich Rußland, China und Israel nicht täuschen, die USA wird sich die Definitionsmacht, wer als Terrorist zu bezeichnen ist, nicht nehmen lassen und die Sprachregelung in Mund der anderen nur solange akzeptieren, solange diese nicht gegen ihre Interessen stößt.
Afghanistan = Hiroshima?
Wie Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem Buch „Empire“ treffend feststellen, kennt die neue Weltordnung kein Außen mehr. Mit dem Zerfall des Ostblocks ist der Feind, den man direkt auf der Landkarte markieren kann, verschwunden. Auch in diesem Punkt ist die Unterscheidung zwischen Krieg und Polizeiaktion nützlich. Eine Polizeiaktion findet immer innerhalb jenes Territoriums statt, für das man uneingeschränkte Souveränität beansprucht. Ich meine nun, dass mit Afghanistan ein künstliches Außen geschaffen wurde. Eine Summe von Umständen, ja Zufällen hatte dazu geführt, gerade dieses völlig zerstörte und am Boden liegende Land, dessen Regierung gegenwärtig von keinem anderen Staat mehr anerkannt wird, also vollkommen isoliert ist, als den äußeren Feind zu inszenieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die USA an einer sofortigen Auslieferung Bin Ladens gar nicht interessiert sind. Es bedarf keiner tiefen Analyse, um zu erkennen, dass es für die Taliban einfach nicht möglich war, die Inkarnation des Bösen an die USA auszuliefern. Zwischen Bin Laden und den Taliban existieren zu viele persönliche, ja verwandtschaftliche Beziehungen. (Angeblich soll Bin Laden eine seiner Töchter mit dem Führer der Taliban verheiratet haben. ) Trotzdem signalisierte die Führung in Kabul eine gewisse Kompromissbereitschaft. Aber es muss für die USamerikanischen Diplomaten ein Leichtes gewesen sein, die Taliban so zu brüskieren, dass das gewünschte Ergebnis heraus kam. Die USA kann ihren Gegner auf der Landkarte verzeichnen. Aber auch in dieser Frage zeigen die USA eine Offenheit, die die ganze Arroganz ihres Vergehens dokumentiert. Ungeschminkt wurde verlautbart, dass es primär um eine Bestrafungsaktion gehe, das Ziel, Bin Laden dingfest zumachen, wird plötzlich zur Nebensächlichkeit. Wem gelten also die Raketen, die auf Trümmer und Schutt abgeschossen werden? Die historische Parallele finden wir in den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Im August 1945 war der II. Weltkrieg eindeutig zu Ende. Deutschland hatte kapituliert, die endgültige Niederlage Japans nur eine Frage der Zeit. Im Rückblick ist leicht zu erkennen, welches perfide Kalkül hinter der grausamen Ermordung tausender JapanerInnen stand. Mit dem Einsatz der Atomwaffen wurde der Kalte Krieg eingeleitet. Das Signal galt der expandierenden und erstarkten Sowjetunion: „Wir besitzen die Atombombe und sind auch bereit, diese einzusetzen“. Gegenwärtig richtet sich die Botschaft an alle Staaten, die sich der Illoyalität und der Widerspenstigkeit gegen die Macht der USA schuldig gemacht haben, Iran, Irak, Libyen, der Sudan aber auch Cuba und Saudi-Arabien. Und diese Botschaft wurde bereits verstanden.
Der innere und der äußere Feind
Als Kandidat für das künstlich geschaffene Außen der Machtsphäre der USA kam momentan offenbar nur Afghanistan in Frage. Nichts garantiert, dass es dabei bleibt. Inzwischen wird im Pentagon bereits laut darüber nachgedacht, wer als nächstes dafür in Frage kommt. Ganz bewusst proklamieren die USA in diesem Zusammenhang eine Verknüpfung zwischen dem inneren und dem äußeren Feind. Der innere Feind ist bekanntlich überall. Mit Windeseile werden überall Nester und Spuren des Terrors aufgedeckt. Der Militärschlag gegen Afghanistan soll auch signalisieren: Mit der selben Entschlossenheit, mit der wir den äußeren Feind bekämpfen, bekämpfen wir auch den inneren. Doch DIESE Entschlossenheit ist nicht ohne Weiteres sichtbar zu machen, sie kann nicht direkt in Bilder umgesetzt werden, mit denen willfährige Medien gefüttert werden. Der Krieg gegen Afghanistan soll also auch signalisieren: Wer nicht entschlossen bei der Bekämpfung des inneren Feindes mitmacht, wird selbst zum Feind, zum Außen. Die Dialektik zwischen Innen und Außen macht nicht nur die Staaten zu rechenschaftspflichtigen Befehlsempfängern der USA, sie soll auch den zügigen Ausbau des Polizeiapparates, der Überwachung und Bespitzelung legitimieren.
Der Einsatz von Macht und Repression als alleiniges und ausschließliches Mittel im Kampf gegen den unsichtbaren und den künstlich sichtbar gemachten Feind ist jedoch kein bloßes taktisches Mittel, keine Variante der sogenannten Hardliner. Ich bezweifle, ob in den Gehirnen der politischen Eliten ein anders Vorgehen überhaupt angedacht werden kann. Um diese Reduktion auf die bloße Gewalt verstehen zu können, dürfen wir nicht aus einer linken, gesellschaftskritischen Perspektive heraus denken, sondern wir müssen uns für einen Moment in die Gedankenwelt jener versetzen, die den Kapitalismus als das einzig mögliche und vernünftige Gesellschaftssystem voraussetzen. Und wieder ist es Her Bush, der in dankenswerter Klarheit die grundlegenden Axiome unaufhörlich wiederholt: Das Böse kann keine reale Ursache in der Welt haben, es setzt sich selbst, erklärt sich selbst. Das ist in einer Gesellschaft, die gerecht, wohlgeordnet und vernünftig ist, auch gar nicht anders möglich. Dass die Anschläge gesellschaftliche, kulturelle, politische und soziale Wurzeln und Ursachen haben, dass also eine sinnvolle Bekämpfung des Terrors – um auch dieses Wort zu verwenden – etwas mit Bekämpfung von Armut und Not, von Analphabetismus und fehlenden sozialen Perspektiven, dass die Radikalität der Taliban etwas mit der völligen Zerstörung ihres Landes, etwas mir der durchschnittlichen Lebenserwartung von 46 Jahren zu tun haben könnte, kurzum, dass der islamische Fundamentalismus etwas mit dem kapitalistischen Wertsystem und seinen zerstörerischen Folgen zu tun hat, all das muss prinzipiell ausgeschlossen werden. Der Typus der Reaktion auf die Anschläge vom 11. September gleicht verblüffend dem Typus der Reaktion auf die steigenden sozialen Probleme in den USA selbst. Bekanntlich sind die Gefängnisse überfüllt, und der Prozentsatz der Bevölkerung, der sich in Haft befindet, stellt einen internationalen Spitzenwert dar. Die Kategorie des Bösen koppelt das Verhalten der Menschen völlig von sozialen Kontexten ab. Ob das Böse nun in den Genen liegt, oder ein Werk des Teufels darstellt, macht dabei keinen großen Unterschied. Vom Teufel sprechen die christlichen Fundamentalisten, von den Genen die aufgeklärte Wissenschaft, in der Person Bushs fließt beides trübe zusammen. In jedem Fall entlastet die Kategorie des Bösen ungemein, das eigene Verhalten kann nicht mehr in den Zusammenhang mit dem Bösen gebracht werden, denn das Böse ist autark.
Österreichs Beitrag zur Terrorbekämpfung
Nicht unerwähnt soll Österreichs Beitrag bleiben. Diese Geschichte ist rasch erzählt. Während der ersten Propagandawelle zeigte der ORF eine Reihe von Beiträgen, in denen auf das furchtbare Los der afghanischen Bevölkerung, insbesondere der Frauen, hingewiesen wurde. Auch dem Dümmsten sollte klargemacht werden, dass die Menschen nicht aus Jux und Tollerei, sondern vor einem grausamen Regime und dem drohenden Krieg flüchten müssen. Die Bilder des Elends waren zugleich Bilder der Anklage. Wer konnte sich angesichts dieser Verhältnisse nicht zur Aussage durchringen, dass nun humanitäre Hilfe notwendig wäre. Selbstverständlich auch unser Bundeskanzler, der davon sprach, alle Flüchtlinge würden aufgenommen werden. Diese Aussage war freilich für die Fans der österreichischen Zivilgesellschaft bestimmt, nicht für die im Elend dahin vegetierenden Flüchtlinge in Pakistan. Doch auch dort wurde die Botschaft vernommen. Der Rest ist bekannt. Dementi von Seiten des Bundeskanzleramtes, Schließung der österreichischen diplomatischen Vertretung. Auch die „Krone“ sprang ein, in einer Kolumne mit dem Titel „Dazu hat es ja kommen müssen“ wurde klargestellt, dass unser Boot endgültig voll ist. Und wenn auch in Zukunft afghanische Flüchtlinge in den Grenzflüssen Österreichs ertrinken, sind jene Gutmenschen schuld, die davon schwätzen, wir könnten einige der Ärmsten der Armen aufnehmen.
Offene Fragen
In habe in diesem Artikel versucht, einige Momente der amerikanischen Politik, ihrer „inneren Logik“ und ihre Rhetorik aufzuzeigen. Seltsamer Weise hat sich mir beim Schreiben immer wieder der 68er-Ausdruck „Establishment“ aufgedrängt. Tatsächlich scheinen die herrschenden Eliten der Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien spontan auf ein Grundparadigma der Rhetorik und des Verhaltens verpflichtet, das niemals in Frage gestellt, höchstens in bestimmten Variationen abgewandelt einheitlich durchgezogen wird. Trotz verschiedener Akzente erklären doch alle herrschenden Mächte, sie stünden ungebrochen und solidarisch auf der Seite des Kampfes gegen den Terror. Ich will nicht behaupten, das sei ein neues Phänomen, aber die Ereignisse nach dem 11. September haben offenbar als einigendes und fokussierendes Moment gewirkt. Die alles entscheidende Frage blieb jedoch unerwähnt. Wie reagieren die Massen auf diese Politik? Wie ist das Ausmaß und die Richtung der Proteste einzuschätzen? In wie weit gelingt es dem Establishment tatsächlich, für den Kreuzzug zu mobilisieren? Diese Fragen erfordern allerdings weitere Überlegungen.