Notizen zur Demontage der österreichischen Neutralität

von Lorenz Glatz
(abgeschlossen 23.4.01)

Gleich zu Beginn ein Eingeständnis: Dieser kurze Beitrag verfolgt ein beschränktes Ziel. Er versucht nachzuzeichnen, wie die österreichische Neutralität politisch und rechtlich in den letzten anderthalb Jahrzehnten auf den heutigen Zustand demontiert wurde.
Er zeigt daher nur ein unvollständiges Bild, das mindestens um die wichtigen Fragen der wirtschaftlichen Hintergründe dieser Entwicklung und ihrer Wechselwirkung mit den hier behandelten Vorgängen zu erweitern wäre. Das sind vor allem die Auswirkungen der „Internationalisierung“ der österreichischen Wirtschaft (mit dem Hauptpunkt des Verkaufs der verstaatlichten Industrie an internationale Konzerne), und noch wichtiger: die Folgen der zunehmenden Verselbständigung der global players gegenüber den Nationalstaaten.

Neutralität im kalten Krieg

Die 1955 nach dem Abschluss des Staatsvertrags und dem Abzug der Besatzungsmächte beschlossene Neutralität wurde von Anfang an sehr zwiespältig interpretiert: einerseits als aufgezwungener „Preis der Freiheit“, den man als westlich orientiertes Land an die UdSSR für den Truppenabzug habe zahlen müssen, andererseits als ein Status, der Land und Leute davor bewahren sollte, ein drittes Mal für die Entfesselung und Führung eines Weltkriegs benützt zu werden. Tatsächlich heißt es ja auch im Neutralitätsgesetz vom 26.10.1955, dass die immerwährende Neutralität von Österreich „zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes“ (Artikel 1) erklärt werde. Damit sollte die Neutralität auch „eine Sicherung des Artikels 4 Staatsvertrag“ (Anschlussverbot) sein und lag mit dieser Sinngebung keineswegs nur in sowjetischem, sondern „auch im österreichischen Interesse“, wie Rudolf Kirchschläger, am längsten überlebender Zeuge der Verhandlungen, betont hat.
Fast völlig verstummt ist die Kritik an der Neutralität in der Ära Kreisky, als sie die Grundlage für eine Außenpolitik wurde, die durch Engagement in vielfältigen Verhandlungen eine zeitweilige Stabilisierung der Aufteilung der Welt in Einflussbereiche der USA und UdSSR förderte und dem Land so das Wohlwollen der Supermächte sicherte.
Die zu keiner Zeit ernsthaft in Frage stehende „Verankerung im Westen“ führte erst wieder zu einem von vielen wahrgenommenen Gegensatz zur Neutralität, als in den Achtzigerjahren die Machtbalance zwischen Ost und West kippte, die „sozialistischen Länder“ sich „liberalisierten“, schließlich zu „Demokratie und Marktwirtschaft“ übergingen und Warschauer Pakt und Sowjetunion sich auflösten.
Obwohl mit dem Machtzuwachs der im Zuge dieser Entwicklung „wiedervereinigten“ Bundesrepublik Deutschland der formulierte Zweck der Neutralität an Aktualität gewann, gab es international kaum und innerstaatlich nur schwachen Widerstand gegen die folgenden „Anpassungen“ der Neutralität, die einer Demontage gleichkommen, obwohl dabei eigentümlicherweise bis heute das Neutralitätsgesetz unversehrt blieb.

Krieg gegen Irak: „Polizeiaktion“ statt Krieg

Der erste vor aller Welt sichtbare praktische Schritt der Demontage der „immerwährenden Neutralität“ Österreichs datiert aus der Zeit des Golfkriegs 1990/91.
Irak besetzte im Sommer 1990 das von ihm seit jeher beanspruchte Emirat Kuwait und erklärte dessen Anschluss. Rückblickend wird heute – abgesehen von der weiterbestehenden Propaganda natürlich – kaum noch ernsthaft bestritten, dass die USA und auch Frankreich und Großbritannien diese Gelegenheit für einen Krieg benutzten, um sich mitten im arabischen Ölgebiet militärisch festzusetzen. In einer Lage, in der der Niedergang der zweiten Supermacht, schon in vollem Gange war, delang es den Westmächten, im UNO-Sicherheitsrat Resolutionen durchzusetzen, die ihre Politik zumindest notdürftig deckten.
Die kürzesten Verbindungen für einen Großteil des alliierten Aufmarsches am Persisch-Arabischen Golf führten über und durch Österreich. Trotz der österreichischen Neutralität verlangten die USA Überflugsgenehmigungen, und US-Politiker machten klar, dass sie eine Absage als unfreundlichen Akt’ ansehen würden, der eine Verschlechterung der Beziehungen mit sich brächte. Schon eine Woche bevor USA und Verbündete eine UNO-Sicherheitsrats-Resolution durchbrachten, die „minimale militärische Gewalt“ beim Scheitern der Diplomatie gestattete, hat die österreichische Regierung in aller Stille den Luftraum freigegeben. Die Öffentlichkeit erfuhr es erst durch eine Beschwerde des irakischen Botschafters. Außenminister Mock beruhigte nach dem Bekanntwerden die Bevölkerung damit, dass die USA zugesichert hätten, die Flugzeuge seinen unbewaffnet, und man könne „im Falle der Verschärfung des militärischen Konflikts“ die Genehmigung jederzeit widerrufen.
Daraufhin erklärte der NATO-Generalsekretär und ehemalige deutsche Verteidigungsminister Wörner gegenüber der Presse: „Ich mische mich nicht in innerösterreichische Angelegenheiten“, aber: „Es gibt eindeutige Beschlüsse der UNO, deren Umsetzung durch das Mitgliedsland Österreich schon begrifflich keine Neutralitätsverletzung sein kann“.
Wörners Äußerung widersprach den damals in Österreich von Rechtswissenschaft und Politik vertretenen Auffassungen gleich zweifach: Einerseits müsste laut UNO-Charta der Sicherheitsrat das Oberkommando in einem Krieg haben und konnte nur dieser von einem Land Unterstützung, z.B. Durchmarschrechte, verlangen. Ein Mitgliedstaat hat dazu keineswegs irgendein Recht.
Zweitens durfte auch der Sicherheitsrat keinem Mitglied, das die UNO als immerwährend neutral aufgenommen hat, einen Bruch seiner Neutralität zumuten. So sagte es die österreichische Völkerrechtslehre, so hatte es Bruno Kreisky schon als Außenminister formuliert, ohne dass im Land oder international Widerspruch laut geworden wäre: „Die Neutralität Österreichs habe zum Zeitpunkt seines Eintrittes in die Vereinten Nationen bereits die Anerkennung aller anderen Mitgliedsstaaten – insbesondere der Mitglieder des Sicherheitsrates – gefunden. Dies würde sie für den Fall der Durchführung von Zwangsmaßnahmen verpflichten, die immerwährende Neutralität Österreichs zu respektieren.“
Trotzdem fand sich damals kein österreichischer Politiker, Wissenschaftler oder Journalist, der dem NATO-Generalsekretär widersprochen hätte. Ganz im Gegenteil wurde die Linie Wörners übernommen. Als hätte es nur seinen Wink gebraucht, „distanzierte sich“ bald darauf der außenpolitische Sprecher der SPÖ, Jankowitsch, „von Erklärungen Außenminister Mocks, der die Überfluggenehmigungen für amerikanische Transportmaschinen im Falle eines Kriegsausbruchs am Golf einstellen würde, egal welche Beschlüsse die UN fassen würden“. Bei einer militärischen UNO-Aktion müsse Österreich überdies seinen Status als „Beitrittskandidat der EG berücksichtigen“. „Das bedeutet“, so Jankowitsch, „dass wir uns auf die Pflichten eines EG-Mitgliedes vorbereiten müssen“.
Der Außenminister hat dieseLektion auch prompt gelernt: Zuerst stellte er sich die Frage, „ob es sich hier im Falle von militärischen Kampfhandlungen um einen Krieg im traditionellen völkerrechtlichen Sinne handelt… oder ob es sich um eine Zwangsmaßnahme im Rahmen der kollektiven Sicherheit handelt, die die Neutralität nicht aktualisiert“. Volkstümlicher drückte es Verteidigungsminister Lichal aus, der erklärte, falls am Golf geschossen werde, sei das kein Krieg, sondern eine „Polizeiaktion“.
Danach gab es zumindest verbal kein Halten mehr: Dr. Mock wollte im UNO-Sicherheitsrat, dem Österreich ab 1.1.1991 angehören würde, für Krieg gegen Irak stimmen lassen und Sanitätssoldaten an den Golf schicken. Für den ranghöchsten Soldaten des Landes, Generaltruppeninspektor Majcen, war auch die Entsendung von Kampftruppen keine Frage der Neutralität mehr, sondern eine der „Leistungsfähigkeit des Bundesheeres und der angespannten Personalsituation“.
Zu Beginn des alliierten Angriffs auf Irak hat das österreichische Parlament über Nacht das „Bundesgesetz über die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial“ den westichen Kriegsbedürfnissen angepasst, sodass Parteinahme in einem Krieg, der durch eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats gedeckt sei, keinen Neutralitätsbruch darstellen sollte. Die Schweiz hingegen verlautbarte, dass sie keine Militärtransporte über ihr neutrales Territorium gestatten werde.
Der von Außenminister Mock in Aussicht gestellte Einsatz österreichischer Soldaten im Golfkrieg und später dann in Somalia scheiterte noch am Widerstand der SPÖ, erst an der Besetzung Bosniens beteiligte sich Österreich mit der Entsendung von Truppen.

Jugoslawienkriege: Musterschüler der „neuen Weltordnung“

Der Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen Irak machten erstmals eine „neue Weltordnung“ sichtbar. In Paris wurde schon im November 1990 beim Gipfeltreffen der KSZE in einer Charta „ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ ausgerufen und ein „unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder“ abgelegt. Der Krieg gegen Irak und die Zeit darauf zeigten, dass diese Ordnung militärisch-politisch von der Überlegenheit der USA und der (abgestuften) Unterordnung aller Staaten unter diese Dominanz geprägt ist. USA und NATO fühlen sich zur Durchsetzung der proklamierten Werte berufen und dabei immer weniger an Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrats gebunden.
Die Berufung auf die „Werte“ der „Neuen Weltordnung“ begründete zunehmend offene Eingriffe in das auch in der UNO-Charta verankerte Recht anderer Staaten auf Unabhängigkeit und Nichteinmischung. Außerhalb der neuen Ordnung gibt es nur noch „Schurkenstaaten“, die ökonomisch und politisch sanktioniert und militärisch eingeschüchtert oder zerstört werden.
Eine gar nicht geringe Rolle in dieser Entwicklung spielten österreichische Politiker und Meinungsmacher, die sich sofort als Musterschüler der neuen Weltordnung erwiesen. Die seit 1990 offen zu Tage tretenden Sezessionsbestrebungen in den jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien ließen alte Denkschemata und Feindbilder aus den Zeiten der Habsburgermonarchie und aus zwei Weltkriegen virulent werden. Durchaus autoritäre und chauvinistische Persönlichkeiten und Bewegungen wurden vom weitaus überwiegenden Teil der Medien als „Demokratiebewegung“ willkommen geheißen und die Bemühungen der Zentralregierung, die Föderation zusammenzuhalten, als „kommunistisch“ gebrandmarkt, was umso bemerkenswerter ist, als die drückenden wirtschaftlichen Maßnahmen Belgrads seit den Achtzigerjahren von IWF und Weltbank diktiert wurden.
Während Bundeskanzler Vranitzky entgegen dem Druck der veröffentlichten Meinung noch am völkerrechtlichen Prinzip der Nichteinmischung festhielt, stand Wissenschaftsminister Busek „schon seit einiger Zeit an der Spitze jener informeller Aktivitäten in Österreich, die Kroatien und Slowenien fördern“. Er gehörte mit Außenminister Mock zu jenen Politikern, die bereits Monate vor der Sezession eine Anerkennung Kroatiens und Sloweniens diskutierten und die Internationalisierung des Jugoslawienproblems betrieben, eine Wortwahl, mit der eine direkte Einflussnahme auf die Ereignisse in Jugoslawien umschrieben wurde. Die Oppositionsparteien (FPÖ und Grüne) erhoben gegen diese Umtriebe nicht nur keinen Einspruch, sondern kritisierten die Regierung wegen zögerlichen Vorgehens. Die Landeshauptleute Ratzenböck, Krainer, Zernatto und Zilk nahmen schließlich im Juni 1991 persönlich an der Unabhängigkeitsfeier in Ljubljana teil, mehrere Landtage und die parlamentarische Opposition verlangten die Anerkennung der Abspaltung durch Österreich. Als die jugoslawische Regierung (unter Ministerpräsident Markovic, einem Kroaten) die Bundesarmee als Reaktion auf den Sezessionsbeschluss aus den slowenischen Kasernen zur Übernahme des Grenzschutzes ausrücken ließ, interpretierte die österreichische Bundesregierung diesen Schritt als Bedrohung des Friedens in Europa und löste zum ersten Mal den 1990 für zwischenstaatliche Krisen geschaffenen KSZE-Prozess der Internationalisierung. Die USA reagierten auf dieses im Grunde missbräuchliche Vorgehen noch mit Kritik, im österreichischen Außenamt aber konstatierte man, „das Ziel, den Angriff der jugoslawischen Bundesarmee auf Slowenien zu einer europäischen Angelegenheit zu machen, sei erreicht.“
Rückblickend betrachtet, hatte damit ausgerechnet Österreich, das „zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes“ die immerwährende Neutralität erklärte, bei der Aufspaltung eines Nachbarlands mitgeholfen und dieses zu einem Objekt der internationalen Politik gemacht. Als sich in diesem Prozess Ende 1991 die EU zum Schiedsrichter der Auflösung Jugoslawiens machte und auf Druck Deutschlands die Anerkennung der Aufspaltung in Aussicht stellte, brachte der politisierende Nationalbankdirektor H. Kienzl die völkerrechtliche Seite der Geschehnisse in bemerkenwerter Weise auf den Punkt: „Endlich wird einmal das verheerende Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eines Staates bachab geschickt. Die EU hat nun Prinzipien für die Anerkennung neuer Staaten in Europa statuiert, die sehr wohl eine Einmischung in innere Angelegenheiten bedeuten und wärmstens unterstützt werden sollten.“
Dank der im Golfkrieg geschaffenen Gesetzeslage waren Luftraum, Straßen und Bahnen Österreichs für alle Interventionen im bald ehemaligen Jugoslawien offen, nicht nur für die „Blauhelmeinsätze“, sondern auch für die schwerbewaffneten „Schutztruppen“ ab 1994 und für die Besetzung Bosniens seit 1995 und die Kosovos seit 1999. An den beiden letzteren Aktionen sind auch Einheiten des österreichischen Bundesheers unter NATO-Kommando beteiligt. Nur für den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999, zu dem sich der Militärpakt selbst mandatiert hatte, war und ist die Neutralität noch ungenügend „angepasst“. Verständnis, ja Unterstützung für diesen glatten Völkerrechtsbruch äußerte die österreichische Regierung trotzdem. Überflugsgenehmigungen für die NATO konnten aber nur ausgestellt werden, wenn sich diese dabei auf ein OSZE-Mandat berief und angab, es handle sich um humanitäre Transporte. Es gibt jedoch durchaus dichte Indizien dafür, dass unter diesem Titel NATO-Kampfflugzeuge über Österreich zum Bombardement Jugoslawiens flogen.

EU-Anschluss: „GASP“ vor Neutralität

Die politische Demontage der Neutralität und damit verbunden die Umorientierung Österreichs auf eine Gefolgschaft der Westmächte hatte aber bereits vor den Kriegen gegen Irak und in Jugoslawien mit dem Beschluss, der EG und späteren EU beizutreten, begonnen.
Nach dem Verständnis der maßgeblichen Völkerrechtler und offiziell auch nach dem Verständnis der Politiker war schon ein Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorläuferin der politische und schließlich auch militärische Bereiche einschließenden EG und EU, aus neutralitätsrechtlichen Gründen auszuschließen.
Zumindest die für einen Neutralen gebotene wirtschaftliche Gleichbehandlung von Kriegsparteien kollidierte mit den Pfllichten, die schon ein EWG-Mitglied der Sechzigerjahre eingegangen war .
Noch Anfang 1987 erklärte daher Bundeskanzler Vranitzky: „Da aber die Vollmitgliedschaft bei der EG mit politischen Einigungszielen parallel läuft, kommt sie für Österreich nicht in Frage. Es ist eine wichtige Säule Österreichs, sich ohne Einschränkungen zu den Verpflichtungen aus dem Staatsvertrag zu bekennen. Dies bedeutet Neutralität, politische Autonomie und kein Engagieren in politischen Bündnissen.“.
Am Jahrestag der Staatsvertragsunterzeichnung, dem 15.5.1987 startete aber die Vereinigung Österreichischer Industrieller eine öffentliche Kampagne für den Vollbeitritt zur EG. Als Erfolg ihrer Bemühungen gingen im Lauf der nächsten Monate alle maßgeblichen politischen Kräfte und Interessenvertretungen des Landes von ihren Bedenken ab und vereinigten sich auf der von der VÖI vorgegebenen Linie. Im Juli 1989 wurde daher von der Regierung der Beitrittsantrag gestellt.
Darin geht Österreich „davon aus, dass es auch als Mitglied der EG aufgrund des Beitrittsvertrages in der Lage sein wird, die ihm aus seinem Status als immerwährend neutraler Staat erfließenden rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen und seine Neutralitätspolitik als spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa fortzusetzen.“ Außenminister Mock hatte davor noch selbst klargestellt, dass die Neutralität Österreichs „auf der Stufe von EG-Primärrecht vereinbart werden“ müsste. Das heißt, er vertrat die Ansicht, dass die Neutralität im Beitrittsvertrag in einer Form verankert sein müsse, die von allen Mitgliedern und allen Instanzen der EU zu achten ist, sodass also weder der EU-Ministerrat als gesetzgebendes Organ noch der EU-Gerichtshof Österreich zu neutralitätswidrigen Handlungen veranlassen könnten.
Diesem Versuch, Neutralität und Zugehörigkeit zu einem wirtschaftlich-politischen Block doch noch völkerrechtlich unter einen Hut zu bringen, erteilte die Brüsseler Kommission jedoch von vornherein eine Abfuhr. In ihrer Stellungnahme (dem sogenannten Avis vom 31.7.91) ging sie auf das „Problem Neutralität“ folgender Maßen ein: „Durch die immerwährende Neutralität ist Österreich verpflichtet, sich bereits in Friedenszeiten so zu verhalten, dass es in der Lage ist, seiner Neutralitätspflicht in Kriegszeiten lückenlos nachzukommen. Diese Vorwirkungen können für die Gemeinschaft jedoch zum Problem werden, wenn sich Österreich veranlasst sähe, sich systematisch bestimmten Maßnahmen zu widersetzen, die aus seiner Sicht seiner Neutralitätspolitik zuwiderlaufen. ….Zu klären bleibt, ob Österreich in der Lage wäre, an einer von der Gemeinschaft beschlossenen Aktion zur Aufrechterhaltung des Friedens ohne rechtliches Mandat der UNO teilzunehmen…. (Daher) muss sich die Gemeinschaft darum bemühen, von österreichischer Seite eine klare Zusicherung zu erhalten, dass die Regierung in der Lage ist, die mit der künftigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einhergehenden Verpflichtungen zu übernehmen…. Die von der österreichischen Regierung entwickelten Thesen, dass die österreichische Neutralität zur Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit beiträgt und damit Österreich von gewissen Vertragsverpflichtungen freizustellen wäre, sind nicht haltbar.“
Nach dem Avis hörte die Regierung tatsächlich auf, von einem österreichischen Neutralitätsvorbehalt im Beitrittsvertrag zu sprechen. Die von Brüssel verlangte „klare Zusicherung“, dass Österreich keine neutrale, sondern eine „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ mit den EU- (und NATO-)Mächten führen werden, wurde der EU sowohl bei den Verhandlungen als auch in öffentlichen Erklärungen gegeben, ohne dabei freilich das Problem „Neutralität“ „zu klären“ oder auch nur in den Mund zu nehmen: Österreich werde „ohne Wenn und Aber beitreten sowie aktiv und solidarisch an der dynamischen Weiterentwicklung des Projekts Europa mitarbeiten“, war eine der gängigen Formulierungen.
Im Beitrittsvertrag wurde Österreich dann auch ohne jeden Vorbehalt „Mitglied der EU und Vertragspartei der die Union begründenden Verträge in ihrer jeweiligen geänderten oder ergänzten Fassung“. Der Vertrag hätte nicht anders ausgesehen, wenn sich ein NATO-Mitglied an die EU angeschlossen hätte. Von Neutralität ist keine Rede mehr. Der gesamte Rechtsbestand der EU wurde widerspruchslos übernommen, darunter auch so offen neutralitätswidrige Bestimmungen wie die über die „Gemeinsame Verteidigungspolitik; WEU“ im Art.J.4 des Maastricht-Vertrags:
„(1) Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik [GASP] umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der EU betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.“
(2) Die Union ersucht die Westeuropäische Union (WEU), die integraler Bestand der Entwicklung der EU ist, die Entscheidungen und Aktionen der Union, die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen…“
Was diese Perspektive bedeuten soll, hat die EU-Kommission schon im Avis klar gemacht: die Beteiligung Österreichs an EU-Militäraktionen auch ohne den Segen der UNO. Das war zu diesem Zeitpunkt noch nicht aktuell, gehörte aber bereits zu der auch vom Bundeskanzler beschworenen „dynamischen Weiterentwicklung des Projekts Europa“, an der die Regierung „solidarisch mitarbeiten“ wollte.
Juristisch hat das EU-Recht Vorrang vor jeder nationalen Gesetzgebung, sodass auch das Neutralitätsgesetz nur noch EU-konform ausgelegt werden darf. Indem es weiter bestand und besteht, konnte und kann der Öffentlichkeit aber bei Bedarf der Eindruck vermittelt werden, die „immerwährende Neutralität“ gelte unverändert. Das war und ist deswegen noch von Bedeutung, weil eine Mehrheit der Bevölkerung auch weiterhin die Neutralität nicht aufgeben will. Auch für den positiven Ausgang der Volksabstimmung über den Beitritt war wohl entscheidend, dass die Regierungspolitiker mit der vollen Autorität ihrer Ämter und ihrer gehobenen gesellschaftlichen Stellung in Rundfunk und Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften, auf Flugblättern und Plakaten jederzeit und immer wieder hoch und heilig versicherten, dass „bei einem EU-Beitritt Österreichs Neutralität voll gewahrt“ bleibt (Außenminister Mock). „Neutral auch in der EU“ versprach Bundeskanzler Vranitzky und erinnerte daran, „dass die ersten 55 Jahre dieses Jahrhunderts für die Österreicher immer Problemjahre gewesen seien. Mit dem Abzug der Besatzungssoldaten 1955 hätten die Österreicher dann ‘zum ersten Mal frei durchatmen können’“.
Ganz anderes entnahm die Auslandspresse jedoch den Worten des Kanzlers am Abend nach der Volksabstimmung: „Bundeskanzler Vranitzky sagte, dass die Österreicher zum ersten Mal in der Geschichte über ihre Zukunft selbst entscheiden können und dass damit eine Geschichte der ‘Enttäuschung, Leiden und Diskrimination’ überwunden worden sei. Vranitzky erinnnerte an die Tatsache, dass Österreich 1955 seine Neutralität von der Sowjetunion aufgezwungen worden sei. Der Beitritt zur EU hingegen war eine eigene Willensentscheidung… ‘Wir haben nun etwas entschieden, wozu wir 1955 nicht imstande waren’, so Vranitzky. Seine Bemerkung wird als ein erster Versuch betrachtet, die Österreicher mit der möglichen Aufgabe ihrer Neutralität vertraut zu machen, wenn Österreich in der Zukunft eine Rolle in der Außenpolitik der EU bekommen wird“.
An der nächsten Änderung des EU-Vertrags, dem Vertrag von Amsterdam, wirkte Österreich bereits als EU-Mitglied mit. Hier wird die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik bereits als konkretes Ziel genannt, die institutionellen Verbindungen zwischen EU und WEU werden verstärkt und „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen“ in den Bereich der GASP übernommen (Artikel 17, Absatz 2).
Anlässlich der Ratifizierung hat der österreichische Nationalrat im Jahre 1998 auch die dabei nötige Änderung des Bundes-Verfassungsgesetzes (Artikel 23f.) beschlossen, der zufolge sich Österreich an solchen Einsätzen beiteiligen kann. Da diese Bestimmung wie das Neutralitätsgesetz Verfassungsrang hat, kann nach juristischen Begriffen kein Gegensatz zwischen ihnen bestehen und eine solche Kriegsbeteiligung Österreichs daher juristisch auch nicht neutralitätswidrig sein.
In der Folge wurden auch das Bundesgesetz über die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial und der Straftatbestand „Neutralitätsgefährdung“ (§320 Straf-Gesetzbuch) dem neuen Stand der Demontage der Neutralität angepasst.31
Seit Anfang 1991 darf sich das neutrale Österreich also an einem Krieg beteiligen, wenn eine Militäraktion mit einem Beschluss des UNO-Sicherheitsrats begründet werden kann. Seit Sommer 1998 genügt dafür ein Beschluss des EU-Ministerrats, gegen den Österreich nicht gestimmt hat.
Ende 1999 wurde schließlich die Aufstellung einer Euroarmee von 60.000 Mann bis 2003 in Aussicht genommen und Anfang 2001 beim Gipfel von Nizza abgesegnet. Diese Armee soll binnen 60 Tagen in einem Radius bis 4000 km ein Jahr lang eingesetzt werden können, was wegen der notwendigen Ablösungen eine Truppenstärke von etwa 200.000 erfordert. Österreich will für diese Armee Panzer und 2000 Soldaten zur Verfügung stellen.

NATO: „Partnerschaft für den Frieden“

Parallel zur Einbeziehung Österreichs in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU näherte sich das Land institutionell auch der NATO an, der außer den vier kleinen Ländern Österreich, Schweden, Finnland und Irland alle EU-Staaten angehören. Die NATO hatte sich nach dem Wegfall ihres Gegners Warschauer Pakt aus einem Verteidigungspakt zu einem offensiven Militärbündnis gewandelt, das sich als NATO-neu der „Völkergemeinschaft“ zur „Friedenssicherung und -schaffung“ anbot. Zur Integration ehemaliger Ostblock- und neutraler Staaten in ihren Organisationsbereich wurden diese Anfang 1994 zur Zusammenarbeit in einer „Partnership for Peace“ eingeladen. Wenige Wochen nach dem EU-Beitritt 1995 unterzeichnete Österreich das PfP-Rahmendokument, auf dessen Grundlage die konkrete Zusammenarbeit einschließlich gemeinsamer militärischer Manöver aufgenommen und der Aufenthalt von NATO-Militär in Österreich vertraglich geregelt wurde (PfP -Sofa).
1997 wurde die Entsendung österreichischer Einheiten ins Ausland mit dem „Bundesverfassungsgesetz über Kooperation und Solidarität bei der Entsendung von Einheiten und Einzelpersonen in das Ausland (KSE-BVG)“ neu geregelt, indem die Neutralität nicht mehr erwähnt wird und die Bestimmungen so weit gefasst sind, dass damit auch Kampfeinsätze im Rahmen von EU- und NATO-Aktionen abgedeckt sind. Die ÖVP-FPÖ-Regierung ist dabei,, nach dieser „Methode“ auch weitere Gesetze für NATO-Bedürfnisse „flexibler“ zu machen, um z.B. in einem Fall wie dem eigenmächtigen Krieg des Pakts gegen Jugoslawien 1999 Überflugs- und Durchmarschrechte einräumen zu können und so der damals heftigen Kritik von seiten der NATO zu entgehen.
Schon die Anfang 1996 nach Bosnien geschickten Bundesheersoldaten standen unter NATO-Kommando, Gleiches gilt für das im Kosovo stationierte Kontingent von über fünfhundert Soldaten. Für die letzteren „hat Österreich im Juli 2000 seinen die Beteiligung an Zwangsmaßnahmen ausschließenden Vorbehalt gegenüber den KFOR-Einsatzregeln zurückgenommen.“

Schlussbemerkung zur NATO-Neutralität -Debatte

Mit der indirekten und direkten Beteiligung an den Kiegen und Interventionen gegen Irak und in Ex-Jugoslawien, mit dem EU-Beitritt und der damit verbundenen Annäherung an die NATO ist geistig, politisch und rechtlich eine neue Situation geschaffen worden, in der unter dem Namen „Solidarität“ die Mitwirkung Österreichs an kriegerischen Aktionen der Westmächte durchgesetzt wurde. Das geschah ohne Aufhebung des Neutralitätsgesetzes, sozusagen an der Neutralität vorbei. Keine der etablierten politischen Kräfte hat gegen Inhalt oder Form dieses Prozesses grundsätzlichen Widerstand geleistet.
Fast alle hier behandelten Vorgänge geschahen unter der SPÖ-ÖVP-Regierung. Die FPÖ ist die einzige Partei, die seit der Gründung die Neutralität abgelehnt hat, das kurzzeitige Manöver der Opposition gegen den EU-Beitritt hat sie längst beendet. Letzteres gilt auch für die Grünen, die zwar die Unterstützung des Irak-Kriegs ablehnten, an der Einmischung in Jugoslawien aber leidenschaftlich beteiligt waren.
Wenn also heute von SPÖ- und Grün-Politikern die Neutralität verteidigt wird, schließt das die Bejahung oder zumindest die Hinnahme der bisher gezeigten Demontage ein. Die gemeinsame Grundlage der landläufig so genannten „westlichen Werte“ wird von allen bejaht, „moralische Neutralität und Gesinnungsneutralität“ sind ihnen gegenüber nicht zu tolerieren. Der Streit geht um die Methoden, wie diese aufrechterhalten bzw. durchgesetzt werden sollen, ob Österreich dazu der NATO beitreten soll, wie es ÖVP und FPÖ vertreten oder als „Neutraler“ einen spezifischen Beitrag dazu leisten kann, indem es friedlicher Konfliktlösung bessere Chancen schafft und militärisches Eingreifen hinausschiebt oder vermeiden hilft. Diese Unterschiede verschwimmen aber in einer Zeit immer mehr, wo das 1990 beim Gipfeltreffen der KSZE in Paris versprochene „neue Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ mit „auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhender Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und sozialer Gerechtigkeit und gleicher Sicherheit für alle unsere Länder“ für viele Millionen Menschen mehr oder weniger mit einem Jahrzehnt des sozialen Niedergangs, der Armut, ja des Kriegs begonnen hat und keine realistische Aussicht auf Besserung besteht. Die sozialen Gegensätze zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, aber auch innerhalb der europäischen Länder sind im letzten Jahrzehnt in den meisten Fällen nicht geschwunden, sondern oft stark gewachsen.
Der mangelnde Tiefgang und flaue Fortgang der so genannten Neutralitätsdebatte könnte also auch darauf beruhen, dass die unterschiedlichen politischen und rechtlichen Standpunkte so weit auseinander nicht liegen und dass auf der den Debattierenden gemeinsamen Grundlage Demokratie, Friede, Einheit und Wohlstand nicht und nicht wachsen wollen.
Bedeutung könnte die Auseinandersetzung um die Demontage der Neutralität aber durchaus dann bekommen, wenn die Wahrnehmung dieser Entwicklung mit der Erkenntnis des grundlegenden Versagens der noch vor zehn Jahren so siegreich scheinenden „freien Welt“ verbunden würde. Neutralität bekäme dann die Bedeutung einer Weigerung, sich an der Verteidigung und Durchsetzung einer Ordnung zu beteiligen, die mehr Probleme schafft, als sie zu lösen imstande ist. Doch diese Debatte müsste erst beginnen.

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