von Maria Wölflingseder
Seit Mitte der achtziger Jahre haben sich esoterische Ideologien in Windeseile verbreitet. Da die „Sinnlosigkeit“ unserer Verhältnisse nicht geringer geworden ist – ganz im Gegenteil -, steigt auch der „Sinnbedarf“ weiterhin. Eins der Paradebeispiele esoterischer Handlungs-, Denk- und Fühlanweisung – das Positive Denken – ist mittlerweile zu einem allumfassenden Zwang geworden. Daran zeigt sich besonders deutlich, Esoterik ist nicht – wie von bürgerlichen, kirchlichen und linken KritikerInnen dargestellt – das böse Gegenteil der guten Demokratie, der anerkannten Religionen, der redlichen Psychotherapien oder des politischen kritischen Engagements. Obskurantismus und Irrationalismus brechen nicht in die gesellschaftliche Mitte ein, sie sind auch nicht Angriffe auf Vernunft, Freiheit und Aufklärung – wie stets behauptet wird -, sondern vielmehr eine direkte Folgeder Verhältnisse in eben dieser gesellschaftlichen Mitte.
Ein Blick in ein beliebiges Volkshochschulprogramm oder auf die nach wie vor höchst umfangreiche Anzeigen-Rubrik „Körper/Seele“ in der Wiener Zeitschrift „Falter“ zeigt die Vermischung von Esoterik und Normalität. Der Business/Management-Sektor hat sich bereits Mitte der achtziger Jahre ganz und gar der trostreichen und motivierenden Esoterik verschrieben. Heute sind bereits alle involviert – ob sie wollen oder nicht.
Niemand kann (oder darf) anscheinend mehr selbständig lachen, flirten, berühren, lieben, streiten, trauern, geschweige denn wohnen, reden oder arbeiten: Lachseminar, Emotionsmangement, Feng Shui, Key Mind, Human Design System, Kreatives Visualisieren, Mentaltraining – Der Weg zu Spitzenleistung und Lebensqualität, Kampfrhetorik, „Krieg“ am Arbeitsplatz: Den Kampf gewinnen, Erfolgsgeheimnis personal power, Selbstmanagement heißen die Titel der Seminare und Kurse, die gegen Bares Abhilfe versprechen.
„Wenn Du nur wirklich willst, schaffst Du es! „
In der gesamten „Arbeitswelt“ und noch stärker in der „Arbeitslosenwelt“ ist jedes Individuum dominiert vom Zwang zum Positiven Denken. Letzteres gebärdet sich wie eine conditio sine qua non, eine Bedingung, ohne die wir in einer Welt, die immer mehr an ihren Selbstwidersprüchen zugrunde geht, nicht leben können. Längst zählt der Schein viel mehr als alles andere. Wer seinen Arbeitsplatz erhalten und noch mehr, wer wieder einen ergattern will, hat nur so vor Optimismus und Charme zu strahlen. Esoterik- wie Business-Adepten ist ein entrücktes Lächeln (oder besser Grinsen? ) in ihre Maske gemeißelt. Arbeitslosen wird von vom Arbeitsmarktservices (AMS) finanzierten Job-coaches eingebleut, „lächle mehr als andere – selbstverständlich auch beim telefonieren“; „der Arbeitsmarkt ist zwar schwierig, aber man brauche nur von der Schattenseite in die Lichtseite treten“. Die zahlreichen vom AMS zwangsverordneten Kurse sind in ihrer Diktion kaum von Esoterik-Seminaren zu unterscheiden. „Sie haben doch soviel Charme, den müssen sie besser einsetzen und die richtige positive Haltung an den Tag legen! “ Im Kurs dürfen auch keine (schlechten) Erfahrungen bei der oft jahrelangen Arbeitssuche erwähnt werden. „Vergessen Sie all ihre Erfahrungen! Sie sind kein Opfer, es liegt an Ihnen. Wenn Sie zu einem Bewerbungsgespräch gehen, denken Sie an etwas Schönes, sehen Sie das Bild Ihrer Familie an oder trinken Sie (Ratschlag nur an bestimmte Personen) ein Glas Wein, damit Sie ganz beschwingt sind und voll überzeugt, den Job zu bekommen.“ Der Sinn jeder Übung: „Wenn du nur willst, schaffst du es! “ Andere Ursachen von Arbeitslosigkeit als du selbst dürfen gar nicht in Erwägung gezogen werden.
Ein Großteil der VHS-Kurse sind ebenfalls Umschlagplätze Positiven Denkens. All dies Amalgam aus Business und Esoterik hat sich in den letzten Jahren, seit es am Arbeitsmarkt drastisch eng geworden ist, bis in die Volkshochschulen hinein fortgepflanzt. Kursankündigungen zweier Wiener VHS im O-Ton:
- Kraft und Wirkung von Gedanken: Unsere Gewohnheiten kreieren unsere eigene Welt. Es gibt kaum eine größere Kraft als die Kraft unserer Gedanken, und körperliche sowie seelische Gesundheit hängen davon ab. Erst wenn wir anfangen, die Verknüpfung von Gedanken, Gefühlen und Handlungen zu verstehen, können wir Eigenverantwortung übernehmen und die Qualität unseres Lebens bestimmen. Unser Schicksal liegt in unserer Hand.
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- Streßbewältigung: Der Streßpegel ist rapide angewachsen. Das Leben befindet sich auf der Überholspur, um den beiden Verfolgern, nämlich dem chronischen Erschöpfungssyndrom und dem Erleben eigener Unfähigkeit, zu entkommen. Bauen Sie sich wieder auf und werden Sie belastbarer!
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- , Krieg‘ am Arbeitsplatz – Den Kampf gewinnen: Die Luft am Arbeitsmarkt ist dünn, das Raumklima dementsprechend: Ungerechtes Gehalt, aufreibende Arbeitszeiten, schlechte Stimmung unter den Kollegen, Arbeitsdruck, Konkurrenz, Neid, Mobbing, despotische Chefs und schlechte Aufstiegschancen machen vielen Menschen den Berufsalltag zur Hölle. Harmonie ist nicht immer erreichbar, einen Kampf zu gewinnen aber allemal besser als ihn verlieren.
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- Ohne Wollen geht nichts! Key Mind – der neue Weg zur Selbstmotivation: Können Sie nur das tun, was Sie wollen? Schön wär’s! Wir haben tagtäglich auch jede Menge Aufgaben zu erledigen, die wir uns nicht ausgesucht haben und die uns keinen Spaß machen. Damit verdeckte Widerstände nicht zu heimlichen , Energiefressern‘ werden und wie Sie mit inneren Widerständen konstruktiv umgehen.
„Je mehr Magenschmerzen, desto süßer lächeln sie“
Wie beschreibt es Radek Knapp so treffend in seinem Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“? Sein junger polnischer Held, zum ersten Mal nach Wien gereist, ist baß erstaunt über die Sitten im goldenen Westen. Die Menschen „sitzen vierzehn Stunden am Tag über ihren Computern. Ihre ganze Abwechslung liegt darin, dreimal am Tag auf die Toilette zu gehen, und das Essen holen sie aus einem Automaten, der auf dem Flur steht. Sie verzehren es über ihren Computertastaturen. Die Hälfte davon landet zwischen den Tasten, und sie merken nicht mal was davon. In ihren Armani-Sakkos tragen sie eine ganze Apotheke gegen Kopfschmerzen und Gastritis. Nach Büroschluß sehen sie wie Zombies aus. Aber glauben Sie, daß sich jemals einer deswegen beschwert hätte? Im Gegenteil. Je mehr Magenschmerzen, desto süßer lächeln sie. “
Positives Denken, einst Esoterik-Ideologem, nunmehr zwangsverordnetes Gleitmittel zur bedingungslosen Anpassung an die herrschenden sinnlosen, wahnsinnigen Verhältnisse, denen sich heute weltweit niemand mehr entziehen kann. Trotzdem sind grundsätzliche Kritik und emanzipatorische Perspektiven in der öffentlichen Auseinandersetzung nicht vorhanden. Unser Systems – basierend auf Warenförmigkeit – funktioniert nur, in dem ein Großteil der Menschheit „abgeschrieben“, dem Götze Geld geopfert wird. Täglich sterben hunderttausend Menschen an Hunger, – heute, wo zum ersten Mal in der Geschichte problemlos alle Menschen ernährt werden könnten! Alle klammern sich an das sinkende Schiff marktwirtschaftliche Demokratie und Lohnarbeit: Linke, Grüne, Liberale, Alternative, Intellektuelle, engagierte Christen etc. genauso wie Esoteriker. Allerorten werden nur die Auswüchse des Turbokapitalismus verteufelt. Da ist die Rede vom Recht eines jeden auf einen Arbeitsplatz anstatt all den Menschen und Natur zerstörenden Wahn auch nur einmal zu hinterfragen. Daß unserer Gesellschaftssystem bankrott, durch und durch menschenverachtend und nicht mehr emanzipatorisch entwickelbar ist, will von niemandem erkannt werden.
Bereits Mitte der achtziger Jahre bzw. nach dem Zusammenbruch des sogenannten realen Sozialismus haben sich viele der Esoterik-Bewegung zugewandt und junge Menschen sind damit groß geworden. Die rapide Verschlechterung am Arbeitsmarkt der letzten Jahre hat einem Großteil der bis dahin Verbliebenen mit kritischem Geist ebendiesen gekostet. Jetzt sind sie froh, wenn sie im potemkinschen Dorf „Arbeitslosenzahlenvertuschungsmaschinerie“ – sprich Arbeitslosenkurse – auf der Seite fungieren, auf der sie Geld verdienen. Ansonst arbeitslose TrainerInnen beglücken Arbeitslose. Manche wissen oft bis kurz vorm Kurs nicht, ob sie TrainerIn oder TeilnehmerIn sein werden. Diese Kurse dienen in erster Linie dazu, die Arbeitslosenstatisik zu schönen: Arbeitslose in Kursen werden nicht als solche verbucht und nachher nicht mehr als Langzeitarbeitslose.
Die Angst vorm Verlust des Arbeitsplatzes, also Existenzangst und Angst vor Prestigeverlust, frißt jegliche Kritik- und Reflexionsfähigkeit. Legionen von ArbeitslosentrainerInnen, Legionen von Arbeitslosen, Legionen von AMS-Angestellten, Legionen von Angestellten in Sozialinstitutionen – darunter viele, viele frühere lautstarke GesellschaftskritikerInnen – beten heute inbrünstig die makabren Litaneien des Marktes. Nirgends ist die Rede von all den Arbeitslosen, die sich das Leben nehmen, weil ihre „Wertlosigkeit“ unerträglich ist – sie werden höchstens als Kranke betrachtet und abgehakt. Oder die sozialen und gesundheitlichen Folgen von Lohnarbeit (Ausdünnung der zwischenmenschlichen Beziehungen bis hin zu Herzinfarkt und Gehirnschlag bei 30- und 40jährigen) – all das gehört zu den Tabus.
Im Kroatischen gibt es auf die Frage „Wie geht es Dir? “ traditionell sehr differenzierte Antwortmöglichkeiten: von odlicno (ausgezeichnet), dobro (gut) über srednje (mittel), tako-tako (soso) bis zu lose (schlecht), uzasno (schrecklich) oder nikako (gar nicht). Der Zwang jegliche Schwächen zu unterdrücken, weil das Leben ja ein Hit und Spaß zu sein hat, beginnt im Kroatischen erst fußzufassen.
Zu all diesen gesellschaftlichen Veränderungen hat letztlich auch die Esoterik ihr Scherflein beigetragen, indem es eineinhalb Jahrzehnte lang Flucht in Scheinwelten übte, aber keinerlei Kritik.
Unproduktive Empörung der Esoterik-KritikerInnen
Wie eingangs schon angeschnitten, teile ich die Sichtweise der Esoterik-KritikerInnen überhaupt nicht. Lamentieren über die entpolitisierende Wirkung der Esoterik und die Erregung ob all die Artikel und Bücher füllenden Aufzählungen von esoterischen Vorkommnissen erhellen und erklären nichts. (Ganz im Sinne des herrschenden Moralismus prangte bei meinem letzten Vortrag auf Einladung der „Themeninitiative Materialismus und kritische Wissenschaft“ der SPÖ auf der Ankündigung sogar ein überdimensionaler Henkersknoten(! ) rund um ein kleines Männchen im Joga-Sitz. )
Meine Aufgabe als Esoterik-Analytikerin und -Kritikerin ist das Aufzeigen dieser Form von Entfremdung und ihrer gesellschaftlichen Ursachen. Um mit Adorno zu sprechen: „Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen.“ (Minima Moralia) Und um mit Karl Kraus zu sprechen, die obligate Empörung der Esoterik-KritikerInnen ist wohl auch unter die unproduktiven einzureihen.
Typisch in der gängigen Kritik ist die Abspaltung der Esoterik von den guten richtigen Normen in Religion, Psychotherapie, Politik und Wissenschaft und die Projektion nach außen. Esoterik wird als Widerpart zu demokratischem, politischem und wissenschaftlichem Verhalten gesehen. Als ob das eine Alternative wäre!
All die esoterischen Ideologien strömen nicht von außen auf uns herein, sondern sprießen mitten aus dem Wahnsinn der ganz normalen Verhältnisse. Auch Psychologie, Psychotherapie, Schulmedizin und die hehre Wissenschaftlichkeit sind Teil dieser mörderischen Verhältnisse. Der Psychologe Klaus Ottomeyer bezeichnet Esoterik als „verdiente Strafe für die Sünden der akademischen Psychologie“. Abgesehen von der Diktion des Gut-Böse-Schemas ist dem zuzustimmen.
Esoterik ist schlicht eine Reaktion auf diese Verhältnisse. Auch Populismus und Nationalismus sind eine Folge unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, eine Folge unserer marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Demokratie; die Fortsetzung der hier herrschenden Normen mit anderen Mitteln. Rassismus, Nationalismus oder Esoterik sind eine typische Form konformistischer Revolte.
Ob das Starren der KritikerInnen auf die nach außen projizierte böse Esoterik nicht damit zu tun hat, daß vom himmelschreienden Wahnsinn der sogenannten guten demokratischen Verhältnisse abgelenkt werden soll? Jedenfalls, das eine ohne das andere zu kritisieren ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist fatal und falsch, Esoteriker oder sonstige „Verblendete“ zu kanzeln anstatt die Bedingungen, die sie hervorbringen.
Das ist wohl das Spiegelbild einer Gesellschaft, in der es zur Zeit keine emanzipatorischen Kräfte gibt: Es gibt EsoterikerInnen zu hauf, es gibt moralisierende Esoterik-KritikerInnen verschiedenster Provenienz (die so tun, als ob Esoterik die gute Religion, die gute Psychotherapie, das gute politische Engagement, die gute Vernunft etc. bedrohe), aber es gibt kaum welche, die die herrschenden Verhältnisse, die immer mehr unsere gesamte Lebensgrundlage zerstören, kritisieren. Und die, die es tun, werden für verrückt erklärt.
Es wird frisch fröhlich immer mehr ins monetäre System, in die Warenförmigkeit gepreßt: Luft, Wasser und immer mehr Zwischenmenschliches. Diesem System, in dem nur Geldmachen und Konsumieren zählt, wird unumwunden gehuldigt. Stichwort „transfaire, shopping for a better world“. Oder sozial engagierte Konsumenten kaufen Produkte politisch korrekter Konzerne. Oder im Feminismus geht es neben Esoterik hauptsächlich darum, wie Frauen endlich vollwertige Mitglieder des durch und durch menschenverachtenden Systems werden können. Ganz im Trend feministische Börsenseminare und im Frauenbuchhandlungsschaufenster massenhaft Bücher: Anleitungen zum Geldmachen. Business, business und nichts als business. Egal ob Kultur, Soziales, (Geistes)Wissenschaft, NGOs, NPOs, ja immer mehr auch jedes einzelne Individuum, alles was nicht wie eine Firma funktioniert, hat keine Existenzberechtigung!
Schließlich entbehrt auch die weitverbreitete Beschwörung einer rechtsradikalen Gefahr, die angeblich von Esoterik-Gruppen ausgehe, jeder Grundlage. Es stimmt, daß biologistische Ideologien, wonach aus (vermeintlichen) Naturgesetzen gesellschaftliche Regeln abgeleitet werden sollen, wieder en vogue sind. Aber Faschismusgefahr ist heute generell nicht das Hauptproblem. Die akuten Gefahren liegen einerseits im demokratischen System selbst, andererseits in den fehlenden emanzipatorischen Perspektiven.
Es wird zwar von vielen gefordert, den Kapitalismus menschlicher, gerechter, ökologischer zu machen. Daß es aber weder Menschlichkeit noch Gerechtigkeit geben kann in einem System, in dem Mensch und Natur letztlich nur als Produktionsfaktor bzw. als Konsument etwas zählen, in einem System, das auf dem Konkurrenzprinzip beruht, das wollen die wenigsten wahrhaben. Das von GesellschaftskritikerInnen beschworene Zurück zur Politik ist ebenso eine unbrauchbare Alternative wie die von Esoterikern gebotene. So lange nicht die mörderische Warenlogik überwunden wird, wird immer im Namen von Demokratie und Menschenrechte gemordet werden: aktiv und passiv, durch Krieg, durch Hunger oder allein durch die alltäglichen Lebensbedingungen.
Esoterik ist rationale Irrationalität
Die von Esoterikern proklamierten gesellschaftlichen Alternativen sind noch weiter rückwärtsgewandt als zur Politik – zurück zu Glauben und Religiosität, auf den ersten Blick zurück in voraufklärerische Zeiten. Tatsächlich ist Esoterik die Fortsetzung der Verhältnisse im Kapitalismus. Am deutlichsten ist das an zwei Merkmalen erkennbar. Erstens am Paradigma „jede und jeder sei für all ihr Glück und sein Leid selbst verantwortlich; ja, alles, was dir geschieht, du alleine bist deines Glückes oder Unglückes Schmied“. Dieses wird auch oft mit jemandes Karma (das durch früheres Handeln bedingte gegenwärtige Schicksal) begründet. Hier wird wiederum der enge Zusammenhang mit allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen deutlich. Hier wie dort wird die Individualisierung auf die Spitze getrieben. Ein zweiter Punkt, der das Verhaftetsein in den gegebenen Verhältnissen aufzeigt, ist der Konsumaspekt in der Esoterik. Esoterik ist eine warenförmige Religion.
Esoterik ist, wie Klaus Ottomeyer treffend formulierte, die rationale Irrationalität, die aus der irrationalen Rationalität unserer Verhältnisse erwächst. „In der Tat triumphiert der Irrationalismus, und zwar eben durch die Form unserer Arbeit erst heute. Wir wissen noch nicht einmal, daß wir nicht wissen, was wir als Arbeitende tun. Wenn das nicht Irrationalismus ist (und zwar nicht nur als philosophische Theorie, sondern als Zustand der Menschheit), dann weiß ich nicht, was das Wort bedeutet.“ Dieser Irrationalismus „verdankt – was geschichtlich einmalig ist – sein Bestehen dem Rationalismus selbst: nämlich den Naturwissenschaften, der Technik und der Arbeitsorganisation.“ (Günther Anders)
Die Antworten der Esoterik auf unsere irrationalen Verhältnisse sind zwar rational nachvollziehbar, quasi eine logische Konsequenz, aber dennoch ist es wiederum Irrationales, das geboten wird. Emanzipatorische Gesellschaftskritik, die die kapitalistische Systemüberwindungzum Ziel hat, ist nicht Gegenstand der Esoterik. Es handelt sich um hilflose kurzschlüssige Überreaktionen angesichts großer Unsicherheiten und Angst, denen jedes Individuum heute ausgesetzt ist. Letztlich geht es um eine einzige große Sinn- und Trostveranstaltung, bei der einfache Welterklärung verkündet wird.
Esoterik – die Postmoderne in der Religion
Esoterik grenzt sich meist vehement gegen die etablierten Religionen ab, aber sie ist nichts anderes als eine Religion, eine Religion in einer postmodernen Erscheinungsform. Die Hauptaufgaben von Religion sind gleich geblieben: Erstens die Unvorstellbarkeit des eigenen Todes macht Angst; diese soll durch die Verheißung auf ein Leben nach dem Tod gemildert werden. Zweitens bieten Religionen konkrete Handlungsanweisungen für das Leben. Drittens wird Sinn gestiftet. Esoterik ist eine Variante von Religion. Deshalb ist das Gegenüberstellen von guten anerkannten Religionen einerseits und bösen Sekten und Esoterik andererseits fehl am Platz. Warum soll eine Religion schlechter als eine andere sein, und wer hätte diese Unterscheidung zu treffen? Der Knackpunkt ist: jede Religion, jede Kirche, jede Spiritualität können mit beliebigen Inhalten gefüllt werden; mit Gewalt und Unterdrückung genauso wie mit Emanzipatorischem.
Die herkömmlichen Religionen waren sogenannte Staatsreligionen mit weitreichenden Einflüssen auf die Gesellschaft und auf jeden einzelnen. Sie waren hierarchisch und autoritär strukturiert. Als Beispiel für unsere Breiten: Der Katholizismus mit seinem Prunk und Pomp, mit seiner Marien- und Jesusverehrung hat sehr viel sublimierte Sexualität enthalten. Der Protestanismus mit seinem nüchternen Arbeitsethos hingegen hat mitgeholfen, die kapitalistische Arbeitsweise durchzusetzen, in der Gelderwerb als Hauptquelle des Lustgewinns gilt.
Die traditionellen Kirchen haben heute ihre Autorität und ihren direkten Einfluß auf die Menschen eingebüßt. Aber der Bedarf an Sinn hat nicht abgenommen. Das Individuum ist heute eklatanten Widersprüchen ausgeliefert. Es ist gleichzeitig mächtig und ohnmächtig. Es kann alles kaufen und konsumieren, aber die Lebensbedingungen mitgestalten kann es immer weniger. Es ist konfrontiert mit Umweltzerstörung, mit schadstoffbelasteten Lebensmittel, Luft und Wasser, mit Kriegs- und Atomgefahr, mit dem Massensterben der Weltbevölkerung durch Hunger, Mangel an Trinkwasser und Medikamenten, mit sinnentleerter, Mensch und Natur zerstörender Lohnarbeit, mit Mobbing und dem Damoklesschwert Arbeitslosigkeit. Der Mensch ist einem tiefgreifenden Gefühl des Ausgeliefertseins ausgesetzt. Körper und Geist sind zum Ich-Kapital, zu Ich-Aktie mutiert, zur Marionette des Marktes. Liebe, Sex und Sinnlichkeit, ja sogar das Schlafen wandeln sich mehr und mehr zum Produktivitätsfaktor.
In einer Welt, in der Utilitarität im Sinne von Geldmachen und Konsumieren oberstes Prinzip ist, wird jegliches Mitgefühl, jegliche Solidarität permanent zu Gunsten einer beinharten Konkurrenz untergraben. Innere Leere und Erschöpfung sind größer denn je. Deshalb ist Sinn heute weit mehr gefragt als Sex, stellt Klaus Ottomeyer fest.
Esoterik – eine warenförmige Religion
Charakteristika der Esoterik sind die Beliebigkeit und die Warenförmigkeit. Ersteres entspricht dem anything goes in der Postmoderne, zweiteres der gesellschaftlichen Entwicklung, immer mehr in die Warenform zu pressen.
Die Beliebigkeit, die gleiche Gültigkeit aller Anschauungen und Entwürfe ist das Merkmal der Postmoderne. Postmoderne ist genauso ein oszillierender Begriff wie Esoterik, unter dem alles und jedes verstanden werden kann. Esoterik ist die Postmoderne in der Religion. Als solche ist Esoterik eine Religion, die Züge unserer Warengesellschaft angenommen hat. Sie gleicht einen Supermarkt, in dem sich jeder bedienen kann an der Ware Sinn. Alle Esoterik-Angebote, all die Seminare, all die Bücher und Zeitschriften, all die unzähligen heilenden Artikel, all die Therapien sind käufliche Waren. Die Angebote sind wie jede Ware beliebig, beliebig austauschbar und gleichgültig. Esoterik ist eine der wenigen boomenden Branchen. Heute, wo jeder sein eigener Unternehmer geworden ist, wo sich jeder um seine Altersvorsorge kümmern muß, ist auch der Glaube privatisiert worden. Heute kann jeder seinen Glauben frei wählen, ihn jederzeit wechseln oder mehreren Religionen gleichzeitig anhängen.
Religion als Ware muß bestimmten Kriterien des Marktes genügen, um ihre KäuferInnen zu finden. Ein wichtiges Kriterium um Aufmerksamkeit zu erregen ist Neuigkeit, ist Interessantheit. Was ist interessanter als Exotisches? Weil die alteingesessenen Religionen keinen Neuigkeitswert mehr haben, importiert man Exotisches: Fernöstliches, Indianisches und Afrikanisches.
Ein weiteres Kriterium postmoderner Erscheinungsweise von Religion: im Gegensatz zu früher ist sie nur einer unter vielen Sinnlieferanten. Früher, im Feudalismus oder als Staatsreligion war Religion der einzig bedeutende Sinnlieferant. Heute dienen auch der Job, Konsum oder lebensgefährliche Sportarten – als letzte Möglichkeit Gefühle zu aktivieren – als Sinngeber.
Keine Renaissance von Religiosität – Geld und Warenförmigkeit sind die neue Religion
Esoterik ist aber nicht – wie immerzu beschworen wird – eine Renaissance von Religiosität, höchstens ein letztes Aufbäumen vor ihrem endgültigen Untergang.
Weder in einem noch weiter fortgeschrittenen Kapitalismus noch in emanzipierten Verhältnissen wird es Religion geben. Viele – auch Linke – meinen, Religion werde es immer geben; sie wird als anthropologische Konstante betrachtet. Seit einigen Jahren wird Spiritualität als „progressive Religiostität“ gehandelt. Auch unter Linken und Liberalen wird kaum mehr etwas ohne den spirituellen Aspekt diskutiert: Feminismus, Partnerschaft, Erziehung, Sexualität, Ökologie und die Geldvermehrung. Wo nichts mehr befriedigend gestaltbar ist, soll das Zaubermittel Spiritualität zum Kick verhelfen. Religion ist dennoch keine anthropologische Größe, nichts, das immer währen wird. Wenn Menschen einmal direkt miteinander kommunizieren können, wenn sie den Tod nicht mehr fürchten, weil sie ein sinnvolles Leben genießen, dann wird Religion überflüssig. „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt ist.“ (Karl Marx) Also, Religion gibt es noch, weil sie gebraucht wird – mangels Sinn in der Welt.
Aber „Marx huldigte keinem primitiven oder rigorosen Atheismus, nach dem Motto: Nur kein Opium! Seine Kritik ist keine bloße Negation, sondern er betont im Gegenteil die historische, aber somit zeitlich begrenzte Notwendigkeit religiösen Bewußtseins. Der Kommunismus war ihm keine Antireligion, sondern jenseits der Religion. Nirgendwo propagierte er einen Sozialismus, der einer Kirche glich. Diesen Fehler begingen andere, die den Sozialismus von der Theorie zur Ideologie umfunktionierten.“ (Franz Schandl) Religion ist im Zustand des Absterbens, weil sie historisch bereits überholt wurde. Nunmehr hat der Stellenwert von Geld religiösen Charakter angenommen. Walter Benjamin sieht im Kapitalismus eine neue Religion.
Im Zuge der Aufklärung wurden alle äußeren Autoritäten – Religion, Naturanschauung, Staatsordnung etc. – der Kritik unterzogen. Alles sollte der Vernunft und der Rationalität unterworfen werden. Damit einher ging die Durchsetzung der Warenförmigkeit der Gesellschaft: wir sind alle KäuferInnen und/oder VerkäuferInnen von Waren – einschließlich der Ware Arbeitskraft. Dies ist im Gegensatz zum Feudalismus, in dem die Religiösität das oberste Prinzip darstellte, die herrschende gesellschaftliche Verkehrsform geworden, die alles durch und durch prägt. Das durchzusetzen hat eine Religion mitgeholfen – die protestantische; der Religionsfetisch wurde mehr und mehr durch den Kapitalfetisch ersetzt. Heute wird in zahlreichen Esoterik-Seminaren der richtige spirituelle Umgang mit Geld gelehrt oder verkündet, wie man mit dem richtigen Bewußtsein spielend reich wird. Damit wird offensichtlich versucht, den Kapitalfetisch zu resakralisieren. Der systemimmanente Zwang, Geld verdienen zu müssen, um zu überleben, wird spirituell überhöht, anstatt kritisiert.
Esoteriker und linke Politikgläubige
Anfällig für esoterische Ideologien sind offensichtlich alle, die sich den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht analytisch und kritisch nähern, sondern mittels Moral und Glauben (egal ob an einen Gott oder an die Politik) eine bessere Welt schaffen wollen. Hierin liegt der Schlüssel, warum so viele Linke problemlos zur Esoterik wechseln konnten oder warum für viele Linke Esoterik kein Widerspruch zu ihrer Weltanschauung ist. Esoteriker, Linke und Konservative vereinigen sich im Glauben an das Gute, im Glauben an menschenwürdiges Dasein innerhalb des Kapitalismus, wenn – wie sie betonen – „alle nur wollen täten“; oder im Glauben an die Durchsetzbarkeit von Gerechtigkeit per Gesetz. Sie glauben, menschenwürdige Verhältnisse wären eine Frage des subjektiven Wollens, eine Frage des Bewußtseins der Menschen. Sie erkennen nicht, daß diesem subjektiven Wollen die objektiven ökonomischen Verhältnisse, die Warenförmigkeit entgegenstehen. Der Glaube, mit Spiritualität oder einer neuen Welt-Ethik menschliche Verhältnisse etablieren zu können, gehört ins Reich der Mythen.
Nachsatz oder: Wo bleiben Poesie, Ironie und Warmherzigkeit?
Bei meinen Vorträgen werde ich stets gefragt, was denn meine „Alternative“ zu Esoterik sei, woher denn Trost nehmen, wenn es schon keinen Sinn gibt?
Um diese Frage ist es in vorliegendem Beitrag nicht gegangen. Er beschäftigt sich mit Theorie, mit der Analyse von gesellschaftlichen Gegebenheiten. Das Thema „Praxis der Lebensbewältigung“ unter den herrschenden Verhältnissen steht auf einem anderen Blatt und ist eins der weiteren Tabus. Es herrscht schweigender Pragmatismus, wenn es um Zwischenmenschliches, um unsere Alltagsbewältigung und um fehlenden Trost geht. Jedenfalls bin ich nicht – wie die meisten Linken – der Meinung, Denken sei die alleinige Alternative zu Esoterik. Mir fehlen bei den Linken Poesie, Ironie und Warmherzigkeit ganz besonders! Diese sind in ganz anderen Welten zu finden – allerdings werden sie auch dort immer mehr vom alles durchdringenden Moloch Warenlogik ausgemerzt.
Aus: „Karma und Aura statt Tafel und Kreide, Der Vormarsch der Esoterik im Bildungsbereich“, in Schulheft Nr. 103, Dezember 2001, Wien.
Maria Wölflingseder
Studium der Pädagogik und Psychologie (Dr. phil. ), Sozialarbeiter-Diplom.
Seit Mitte der achtziger Jahre wissenschaftliche Erforschung und Kritik von Esoterik Biologismus und Öko-Feminismus; zahlreiche Publikationen.
Von 1992 bis 2000 Redaktionskoordinatorin der nunmehr eingestellten Zeitschrift „Weg und Ziel“.
1996 Mitbegründerin des Kritischen Kreises, der die „Streifzüge“ herausgibt.
Zur Zeit Gastprofessur an der Universität Klagenfurt. Seit einigen Jahren literarisch tätig: Lyrik sowie Rezensionen insbesondere bosnischer neuer Literatur.
Auswahl der Veröffentlichungen
Esoterik und die Linke. Oder: Warum Spiritualität eine völlig beliebige und keine emanzipatorische Größe ist. In: AntiVisionen (Hg. ): Schicksal und Herrschaft. Materialien zur Kritik der Esoterik-Bewegung, Hamburg 1999.
Broschüre Din A4, 80 Seiten, 80 Schilling, erhältlich bei:
Maria Wölflingseder, A-1120 Wien, Anton-Scharff-Gasse 6/13,
Die Spirituellen, die aus der Kälte kamen. In: El Awadalla: Heimliches Wissen – unheimliche Macht. Sekten, Kulte, Esoterik und der rechte Rand, Wien/Bozen 1997. (Folio Verlag)
Fetisch Weiblichkeit. Über die diffizilen Zusammenhänge zwischen spirituellem Ökofeminismus und rechter Ideologie. In: Renate Bitzan (Hg. ): Rechte Frauen. Skingirls, Walküren und feine Damen, Berlin 1997. (Elefanten Press Verlag)
Gemeinsam mit Gero Fischer Herausgabe von: Biologismus – Rassismus – Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch, Wien 1995, darin der Beitrag: Biologismus – „Natur als Politik“. New Age und Neue Rechte als Vorreiter einer (wieder) etablierten Ideologie. (Promedia Verlag)