von Erich Ribolits
Vortrag auf Einladung des Zukunftforums Gewerkschaften Ende November 2001 in Stuttgart
Wenn wir uns dem Thema Arbeit anzunähern versuchen, stehen wir vor einem eigentümlichen Dilemma: Einerseits kennen wir alle den auf der Arbeit lastenden alttestamentarischen Fluch der da lautet: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“; und die allgemeine Einstellung zur Arbeit und zum Arbeiten entspricht in der Regel auch jener Haltung, die man gegenüber einer verfluchten Sache annimmt: Wir sehnen uns nach dem nächsten Wochenende, nach dem Urlaub (Werbung: die schönsten Wochen des Jahres) und nach der Pension (die schönsten Jahre des Lebens), oder wir hoffen auf den großen Lottogewinn, der uns ein arbeitsfreies Leben ermöglichen könnte. Andererseits gibt es nur wenige Menschen die nicht alles daransetzen müssen Arbeit zu bekommen oder ihre Arbeit zu behalten. Nicht bloß beim Arbeiten selbst sind wir verdammt, wir sind auch noch dazu verdammt, dieser verfluchten Tätigkeit hinterherzulaufen.
Neue und mehr Arbeit braucht das Land!
Die technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat gigantische Produktivitätsfortschritte ermöglicht und dazu geführt, dass Waren und zum Teil auch Dienstleistungen heute mit wesentlich geringerem Einsatz an menschlicher Arbeitskraft als noch vor wenigen Jahren erzeugt werden können. Erstaunlicherweise lautet die allgemeine Forderung heute aber dennoch nicht „weniger Arbeit für Alle“. Im Gegenteil, gekämpft wird von allen Seiten um neue Arbeit. Und auch wenn sich die verschiedenen Parteien und Interessensvertretungen sonst recht uneins gebärden, in diesem Punkt sind sich alle einig: Ziel politischer Bemühungen hat das Schaffen neuer Arbeitsplätze zu sein. Ob es darum gehen soll, Arbeit durch Umweltmaßnahmen zu schaffen, ob behauptet wird, Arbeit werde durch liberalisierte Wirtschaftsbedingungen entstehen, oder gemeint wird, dass es notwendig ist, Arbeitsplätze durch offensive Standortpolitik zu schaffen; alle politischen Slogans weisen in dieselbe Richtung: Neue und mehr Arbeit braucht das Land!
Dabei ist die Tatsache, dass zur Erzeugung der notwendigen Güter immer weniger Arbeit erforderlich ist, durchaus kein neues Phänomen. So waren noch im 19. Jahrhundert nahezu 50% der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Durch entsprechende Technologien, veränderte arbeitsorganisatorische und ökonomische Bedingungen ist heute gerade noch ein Zehntel dieses Bevölkerungsanteils notwendig, um eine sogar deutlich verbesserte Versorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Auch die Erfindung der Dampfmaschine oder die kommerzielle Verwertung der Elektrizität waren technologische Wendepunkte, die jeweils gewaltige Produktivitätsfortschritte ausgelöst haben. Seitdem sich der Mensch Maschinen bedient, massiv beschleunigt aber seit der Durchsetzung des Kapitalismus, nimmt der Anteil lebendiger Arbeit in den Produkten menschlichen Tuns permanentab. Die mikrölektronische Revolution stellt in diesem Prozess bloß den vorläufigen Höhepunkt dar. Das Problem, das derzeit alle politischen Kräfte auf den Plan ruft und nach einer Lösung schreit, liegt meines Erachtens – darauf werde ich noch zu sprechen kommen – tatsächlich auch gar nicht in der Tatsache begründet, dass zur Herstellung des gesellschaftlichen Reichtums immer weniger menschliche Arbeitskraft erforderlich ist. Das Problem ergibt sich einzig daraus, dass jene, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen an der gesellschaftlichen Güter- und Leistungsfülle nicht ausreichend partizipieren können.
Durch die Globalisierung der Wirtschaft, die Liberalisierung der Finanzmärkte und die arbeitsorganisatorischen Möglichkeiten neuer Technologien hat sich das Kräfteverhältnis von „Kapital und Arbeit“ in den letzten Jahren massiv zugunsten der Kapitalbesitzer verschoben. Die Folgen sind zum einen ein weltweiter Rückgang des Anteils den die Lohnbezieher vom gesellschaftlichen Reichtum für sich verbuchen können und ein rapides Wenigerwerden des Beitrags, den die Vermögensbesitzer zur Finanzierung der staatlichen Ausgaben leisten. Und zum anderen ergibt sich aus der Machtverschiebung zwischen Kapital und Arbeit die heute allerorts sichtbare Verschärfung des Kampfes um Arbeitsplätze und die zunehmende Not von Arbeitnehmern, Arbeit auch unter Bedingungen annehmen zu müssen, die weit unter den Standards der letzten Jahre und Jahrzehnte liegen.
Definiert Arbeit den Menschen?
Eine derartige Spaltung der Gesellschaft setzt allerdings den „bewusstlosen Glauben“ der Verlierer in die Prämissen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung voraus. Die Marginalisierungstendenzen müssen als unbeeinflussbare Gesetzmäßigkeiten ins Bewusstsein der Betroffenen treten und nicht als die Auswirkungen eines konkreten und auch veränderbaren politisch-ökonomischen Systems. Die An-den-Rand-gedrängten müssen glauben, dass es eine naturgesetzliche Macht ist, quasi das „Leben“ selbst, das sie – als die Wenigerbrauchbaren – bestraft. Insbesondere gehört dazu, dass die Ausgegrenzten Arbeit nicht als etwas betrachten dürfen, dem sie sich nur deshalb unterziehen, um den notwendigen Lebensunterhalt herbeizuschaffen. Arbeit muss in ihrem Bewusstsein „als Wert an sich“ erscheinen. Und genau das ist auch der Hintergrund der heutigen Situation: Arbeit – in ihrem an ökonomische Verwertbarkeit geknüpften Verständnis – wird heute von allen politischen und weltanschaulichen Lagern als etwas gesehen das den Menschen definiert. Ohne die Bereitschaft zur Unterordnung unter die ökonomisch verwertbare Arbeit wird dem Menschen sein Menschentum abgesprochen. Von der christlichen Glaubenslehre bis hin zu den sich auf den Marxismus berufenden Ideologien wird heute die Arbeit als Bedingung und Bestimmung der menschlichen Existenz gesehen. Und, als direkte Konsequenz dieser Tatsache, wird nicht ein Dasein auf der Basis ausreichender materieller Versorgung eingefordert, sondern ein – heute immer absurder werdendes – Recht auf Arbeit.
„Lernen statt Arbeiten“
Neben dem von allen Seiten in hilfloser Einigkeit vorgebrachten Ruf nach neuer Arbeit wird übrigens heute zunehmend noch ein weiterer Lösungsansatz propagiert, der da lautet, „Lernen statt Arbeiten“. Allerdings ist auch diese Forderung Element des allgemeinen Arbeitsethos. Denn nicht ein Lernen, das Menschen selbstbewusst und mündig macht und ihnen hilft, gesellschaftliche Zustände zu durchschauen und im Sinne ihrer Interessen mitgestalten zu können, wird damit angesprochen, sondern die bewusstlose Anpassung an die durch den Bedarf der Profitökonomie vorgegebenen Qualifikationserfordernisse. Auch die traditionelle Forderung der Gewerkschaften nach einer Verkürzung der Arbeitszeit wird in diesem Sinn zunehmend zaghafter vorgetragen. Da davon auszugehen ist, dass der Druck auf Arbeitnehmer weiter ansteigen wird, ihre „Employability“ zu erhalten – ein „schönes neues Wort“ für den Vermarktungszwang dem auch die Ware Arbeitskraft unterliegt -, wird oft gar nicht mehr ein höherer Anteil an frei verfügbarer (Lebens-)Zeit gefordert, sondern bloß eine Arbeitszeitreduktion zum Zwecke der Weiterqualifizierung.
Heinz-Joachim Heydorn hat Bildung als den Prozess charakterisiert, durch den der Mensch sich „als sein eigener Urheber [begreift, und] versteht, dass ihm die Ketten, die das Fleisch aufschneiden, vom Menschen angelegt sind und dass es eine Aussicht gibt, sie zu zerreißen“ . Ein solcherart politisch handlungsfähiges Subjekt wird durch ein Lernen, das einzig dem Ziel der Anpassung verpflichtet ist, jedoch sicher nicht gefördert; ein derartiges Lernen ist letztendlich nur ein Beitrag zur Entmündigung. Ein Lernen, das nicht mehr an Bildung ausgerichtet ist, wird genauso zu einer sinnentleerten Tätigkeit wie das Arbeiten, das sich vom Ziel der Bedürfnisbefriedigung entkoppelt hat. Es dient nicht der Entfaltung des „Menschlichen am Menschen“, sondern bloß noch seiner Zurichtung als Arbeitstier.
Bis an die Schwelle zur Neuzeit hatte die Arbeit im Bewusstsein der Menschen den Status einer auferlegten bitteren Notwendigkeit, der sich jeder, der es sich leisten konnte, entzog. Erst danach setzte ein Prozess ein, in dessen Verlauf sie sukzessive ihren Makel als ein von Gott auferlegtes Übel abschüttelte und zur Tugend umgedeutet wurde. Sie erlangte zunehmend den Status der grundlegenden Bestimmungsgröße des Menschen. Indem das Besondere am Menschen immer weniger in seiner unsterblichen Seele und immer mehr in seiner Fähigkeit gesehen wurde, das Schicksal durch Intelligenz und Willenskraft zu bestimmen, wurde Arbeit zur neuen Definitionsgröße des Menschen. Sie wurde zu jener Größe hochstilisiert, die – wie es Friedrich Engels später einmal formulierte – den Affen zum Menschen gemacht hat.
„Ideologie der Arbeit“
Diese Entwicklung, die in der frühen Neuzeit ihren Anfang genommen hatte und mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts kräftigen Aufwind erhalten hatte, gelangte – unter tatkräftiger Unterstützung der Arbeiterbewegung – um die Wende zum 20. Jahrhunderts zu ihrem Abschluss. Die Arbeiterbewegung war es, die die feudale parasitäre Faulheit endgültig desavouierte und das bürgerliche Leistungsstreben definitiv in den Köpfen der Menschen verankerte. In einer beispiellosen Überhöhung der Ideologie ihrer Unterdrücker, hat sie den geknechteten und unterdrückten Arbeiter zum Herön der Geschichte und die entfremdete Arbeit zum Hohelied des Industriezeitalters umgedeutet. Die soziale Disziplinierung durch Arbeit – im Kontext profitorientierter Ökonomie! – wurde dergestalt zu etwas hochstilisiert, um das es sich zu kämpfen lohnt. Der letzte Ansatzpunkt für ein Infragestellen der „Ideologie der Arbeit“ war damit gebrochen. Arbeit hatte sich losgelöst von der Bindung an Bedürfnisbefriedigung und war zu einem Zweck an sich geworden – die Arbeitsgesellschaft war etabliert.
„Das Recht auf Faulheit“
Recht pointiert hat das Paul Lafargue – der ungeliebte Schwiegersohn von Karl Marx – schon vor über 100 Jahre in einer kleinen, unscheinbaren Schrift ausgedrückt, deren brisanter Inhalt allerdings bis heute nur geringe Beachtung gefunden hat. Das Buch mit dem Titel „Das Recht auf Faulheit“, das vom Autor ausdrücklich als eine „Widerlegung des Rechtes auf Arbeit von 1848“ bezeichnet wird, beginnt mit den Sätzen: „Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde, und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ noch Ökonom, noch Moralist zu sein behaupte, ich appelliere von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschriften ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft. “
Spöttisch polemisiert Lafargue in seinem Text gegen die Arbeitsmoral der bürgerlichen Gesellschaft. Bedauernd stellt er fest, dass sich diese zwischenzeitlich auch schon in den Köpfen der Arbeiterschaft eingenistet hat und dafür sorgt, dass die Arbeit von einer bitteren Notwendigkeit zunehmend zu einer Tugend uminterpretiert worden ist. Lafargue kann in der Arbeit – noch dazu in der fremdbestimmten Lohnarbeit – nichts Positives, nichts Heroisches und schon gar nichts Sinnstiftendwürdiges sehen. Sie ist für ihn bloße Notwendigkeit zur Reproduktion der Gattung, dementsprechend geht ihr ja auch – wer es sich leisten kann – aus dem Weg und lässt andere für sich arbeiten!
Mythologisierung der Arbeit
Eine derart kritische Sichtweise der Arbeit ist derzeit weitgehend unbekannt. Dabei darf nicht übersehen werden, dass – auch wenn ich im Zusammenhang mit der „Mythologisierung“ der Arbeit sehr stark das politisch-ökonomische System „Kapitalismus“ anspreche – auch in den ehemaligen, sogenannten „realsozialistischen“ Gesellschaften die Arbeit eine Idealisierung, weit über jede bedürfnisorientierte Notwendigkeit hinaus, genossen hat. Die Heroisierung von Alexej Stachanow, jenes Arbeiters der angeblich eine Rekordleistung im Kohlenbergbau erbracht hat, gibt dafür ein beredtes Beispiel. Es gehört wohl zu den großen Erstaunlichkeiten unseres Jahrhunderts, dass das permanente Hervorkehren der Unterschiede zwischen den westlichen und den östlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen die tiefgreifende ideologische Gemeinsamkeit, die in der Idealisierung der Arbeit liegt, völlig verdeckt hat. Der christliche Beleg für das kapitalistische Arbeitsethos – die strenge Mahnung des Apostel Paulus an die Thessaloniker, dass „wer nicht arbeiten will, auch nicht essen“ soll – wurde übrigens fast wörtlich in die Sowjetverfassung von 1937 aufgenommen und gilt deshalb vielfach – wohl in einer unbewusst richtigen Einschätzung der Situation – sogar als ein Ausspruch Stalins.
„Jeder Job ist besser als keiner“
Der qualitative Inhalt der Produktion zählt vom Standpunkt der Arbeit heute genauso wenig wie vom Standpunkt des Kapitals. Es geht nur noch um „Arbeitsplätze“ und um „Beschäftigung“. Was und wofür und mit welchen Folgen produziert wird, ist dem Verkäufer der Ware Arbeitskraft letzten Endes genauso egal, wie dem Käufer. Der dem ehemaligen Amerikanischen Präsidenten, Bill Clinton zugeschriebene Satz, „Jeder Job ist besser als keiner“, ist zum allgemein anerkannten Glaubensbekenntnis geworden. Dass immer weniger menschliche Arbeit notwendig ist, um die Bedürfnisbefriedigung der Menschen sicherzustellen, kann nun nicht mehr als gesellschaftlicher Erfolg wahrgenommen werden. Die einzig logische Konsequenz die dieser Entwicklung folgen müsste, die Verringerung der allgemeinen Arbeitszeit – selbstverständlich ohne Kürzung der Einkommen – gilt heute als exotische Forderung die auf nur wenig Akzeptanz stößt. Stattdessen werden von allen Seiten in hilfloser Einigkeit neue Arbeitsplätze gefordert und Lohneinbussen hingenommen, weil „wir in den letzten Jahren ja angeblich über unsere Verhältnisse gelebt haben“. Kaum wird irgendwo thematisiert, dass die durchschnittliche Wertschöpfung pro geleisteter Arbeitsstunde auch derzeit – genauso wie in den letzten Jahrzehnten – massiv ansteigt und der durch Arbeit geschaffene gesellschaftliche Reichtum weiterhin anwächst.
Das vom Arbeitsethos paralysierte Denken verhindert die Forderung nach einer gerechten Aufteilung des Arbeitserfolgs. Offenbar besteht, bevor die unserer Gesellschaft immanente Vergötzung der Arbeit nicht grundsätzlich relativiert wird, überhaupt keine Chance, das Wenigerwerden der Lohnarbeit dafür zu nützen, gesellschaftspolitische Alternativen jenseits von Lohnarbeit und Arbeitsgesellschaft zu entwickeln. Heute klingt schon die Forderung nach einem „Recht auf Arbeit“ ketzerisch, an „Wohlversorgtheit für Alle“, oder gar ein „Recht auf Faulheit“ – wie es Paul Lafargue gefordert hat – wagt niemand zu denken.
Der Arbeitsgesellschaft geht ihr namensgebendes Gut aus
Uns allen, die wir gelernt haben, uns über Arbeit zu definieren, wird allerdings nichts anderes übrig bleiben als (wieder) zu entdecken, dass der Sinn des Lebens nicht darin liegen kann, sich Arbeitsprozessen unterzuordnen, die nicht an der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern einzig an der Maximierung von Profit ausgerichtet sind. Denn auch wenn Politiker aller Couleurs derzeit regelmäßig Maßnahmen zum Schaffen neuer Lohnarbeitsplätze ankündigen, ist nicht zu erwarten, dass sich der Prozess der anwachsenden Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen sukzessiven Entwertung der Arbeit umkehren wird. Der Arbeitsgesellschaft geht ihr namensgebendes Gut – die Erwerbsarbeit in ihrer klassischen Ausprägungsform – aus; und diese Entwicklung ist endgültig. Denn im Gegensatz zur Arbeitslosigkeit in früheren Entwicklungsphasen im System kapitalistischer Arbeitskraftverwertung, signalisiert die gegenwärtige Arbeitslosigkeitswelle nicht eine Periode der Umstrukturierung im System, sondern die Krise des Systems selbst. Es handelt sich dabei nämlich nicht – wie meist angenommen wird – bloß um Folgen des technischen Fortschritts oder der ökonomischen Globalisierung.
Denn wenn dies die Ursachen des Wenigerwerdens an Lohnarbeitsplätzen wären, dann wäre das System der kapitalistischen Arbeitskraftverwertung noch lange nicht grundsätzlich in Frage gestellt. So ist – wie schon erwähnt – das permanente Hervorbringen neuer, produktivitätssteigernder Technologien und Arbeitsverfahren nachgerade ein Kennzeichen der kapitalistischen Konkurrenzökonomie. Und auch der mit dem Begriff Computer verbundene, gegenwärtige Produktivitätsfortschritt ist nur ein – wenngleich gewaltig großer – technologischer Entwicklungsschritt, wie es deren schon viele gegeben hat. Hätte sich an den Rahmenbedingungen nichts geändert, würden – so wie bisher – die durch den technischen Fortschritt „freigesetzten“ Arbeitskräfte bald schon von Wirtschaftsbereichen aufgesogen werden, die durch das weitere Ankurbeln des Warenumlaufs und das Wecken neuer Konsumwünsche entstehen.
Global agierende Konkurrenzökonomie
Auch die durch die Globalisierung ausgelösten Arbeitsplatzverlagerungsund Vernichtungseffekte, einschließlich der damit verbundenen sozialen Erosionen bringen die Arbeitsgesellschaft nicht unbedingt zum kippen. Zwar funktioniert es tatsächlich immer weniger, durch eine Unterordnung der Politik unter Wirtschaftswachstumsprämissen den Spielraum für die sozialstaatliche Abfederung gesellschaftlicher Widersprüche zu schaffen. Mit den vorhandenen Instrumenten nationaler Politik kann die global agierende Konkurrenzökonomie in zunehmend geringer werdendem Maß beeinflusst werden. Und es würde wohl Jahrzehnte dauern, bis transnationale politische Instrumentarien erkämpft sind, die es ermöglichen würden, den Kapitalismus auch auf globaler Ebene jenes soziale Erscheinungsbild zu geben, das seinen zuletzt recht guten Ruf begründet hat. Aber prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass es irgendwann auch im transnationalen Rahmen möglich wäre, die Anarchie des (Arbeits-) Marktes politisch zu überformen.
Was aber tatsächlich berechtigt, von einem heraufdämmernden „Ende der Arbeitsgesellschaft“ zu reden, ist das zunehmende Erreichen der ökologisch diktierten „Grenzen des Wachstums“. Permanente Ausweitung ist einer der Grundpfeiler der kapitalistischen Ökonomie. Das daraus abgeleitete Generalrezept zur Bekämpfung kapitalistischer Krisen, das Ankurbeln der Wachstumsund Konsumspirale, stößt derzeit allerdings immer deutlicher an seine Grenzen. Zunehmend wird unübersehbar, dass das mit Wachstum untrennbar verbundene Prinzip der hemmungslosen Ausbeutung aller Ressourcen, fortschreitend wachsende Rohstoff- und Energieprobleme sowie ökologische Zerstörungen auf progressiver Stufenleiter nach sich zieht. Damit wird es aber auch immer schwieriger, den – durch die permanente Erhöhung der Produktivität ausgelösten – relativ andauernd sinkenden Arbeitskräftebedarf, durch einen neuen Bedarf an lebendiger Arbeit mittels der fortschreitenden Ausweitung der Produktion und des Angebots an Dienstleistungen zu kompensieren. Gegenwärtig wird es zunehmend schwerer möglich, den Zerstörungsfaktor von Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen, der schlichtweg im Aufbrauchen von Umwelt besteht, auszublenden. Es wird immer offensichtlicher, dass die gewaltigen Produktivitätsgewinne der kapitalistischen Ära durchaus nicht bloß auf einer „unschuldigen“ wissenschaftlichen Durchdringung der Arbeitsprozesse beruhen. Sie sind in diesem Ausmaß nur möglich gewesen durch einen anwachsenden Raubbau an den natürlichen Ressourcen und dem Unterlaufen ökologischer Gleichgewichte. Heute beginnen die Kosten des quantitativen Wachstums allerdings zunehmend seinen Nutzen zu schmälern. Mit den Grenzen des Wachstums ist damit aber auch die Grenze der Lohnarbeit schaffenden Potenz des Kapitalismus erreicht.
Der Anfang vom Ende der Arbeit
Worum es heute also geht, ist die Einsicht, dass die allerorts hohen und noch weiter steigenden Arbeitslosenzahlen und der anwachsende Zwang für viele Arbeitnehmer, sogenannte Mc-Jobs anzunehmen, sehr viel mehr bedeutet als eine vorübergehende Krise im System der kapitalistischen Arbeitskraftverwertung. Wir befinden uns am Anfang vom „Ende der Arbeit“ und in dieser Situation bringt es herzlich wenig, um neue Arbeitsplätze zu kämpfen.
Notwendig ist die Überwindung des allgemein verinnerlichten Arbeitsethos – der Idealisierung des Arbeitens über jede bedürfnisorientierte Notwendigkeit hinaus. Eingedenk der Marx’schen Erkenntnis, dass das Reich der Freiheit erst jenseits der Arbeitsnotwendigkeiten beginnt, gilt es nicht um neue Arbeitsplätze zu kämpfen sondern um das Herstellen gesellschaftlicher Bedingungen, die allen Menschen maximale kulturelle Teilhabe bei einem Minimum an geforderter Arbeit ermöglichen. Das Ziel kann nicht sein, dass alle Menschen „vollbeschäftigt“ sind, sondern, dass sie an der erzeugten Güter- und Leistungsfülle teilhaben und sich beschäftigen können, womit sie sich beschäftigen wollen. Es ist höchste Zeit für die Einsicht, dass der Mensch sich nicht als arbeitender Konsument vom Tier unterscheidet, sondern als denkendes Wesen. Nicht die Arbeit ist es, die den Menschen aus der restlichen Natur heraushebt, sondern die Tatsache, dass er der Arbeit nicht naturwüchsig unterworfen ist. Das Besondere des Menschen besteht auch nicht in den gewaltigen Leistungen, die er arbeitend vollbringt, sondern in seiner prinzipiellen Fähigkeit, sich frei zu entscheiden, ob er arbeiten will oder nicht.
Im Gegensatz zum instinktgesteuerten Tier zwingt den Menschen keine genetische Programmierung zur Arbeit. Und das ist wesentlich mehr, als die bloße gedankliche Vorwegnahme der Produkte, die am Ende von Arbeitsprozessen entstehen sollen, worauf vulgärmarxistische Interpretationen der in diesem Zusammenhang oft zitierten Textstelle aus dem „Kapital“ – in der Karl Marx die Tätigkeit der Biene, mit denen eines menschlichen Baumeisters vergleicht – ihr Hauptaugenmerk legen. Das über die Bewusstseinsfähigkeit vermittelte Besondere des Baumeisters gegenüber der Biene, besteht nicht bloß darin, dass dieser – im Gegensatz zur instinktgesteuerten Biene – die Zelle schon in seinem Kopf „gebaut“ hat, bevor er sie tatsächlich realisiert, sondern in der Tatsache, dass er frei ist zu entscheiden, ob er das „prinzipiell Machbare“ auch tatsächlich in die Welt setzen will. Es ist nicht die „Arbeit an sich“, die den Affen zum Menschen hat werden lassen, sondern die Tatsache, dass es dem Menschen nicht bloß möglich ist, das Produkt seiner Arbeit gedanklich vorzuentwerfen, sondern, dass er die Folgen seines Arbeitens insgesamt abschätzen kann, er somit „Herr“ über sein Arbeitsvermögen ist. Arbeit ist einzig und allein dadurch Ausdruck der „Selbsterschaffung des Menschen“, weil er der Arbeit nicht naturwüchsig unterworfen ist und sie auch ungetan lassen kann.
Spielraum für selbstbestimmtes Handeln
Möglichkeit menschlicher Selbstverwirklichung ist einzig selbstbestimmtes Sein und nicht Arbeit, die dem Menschen als auferlegtes, fremdbestimmtes Tun entgegentritt. In diesem Sinn hat Arbeit auch immer nur jene frei gemacht, die durch die Arbeitsverausgabung der Massen den Spielraum für selbstbestimmtes Handeln gewonnen haben, und niemals jene, die arbeiten mussten um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das ist der Grund, warum es heute – in einer Situation, in der, aufgrund technologischer Entwicklungen das gesellschaftlich erforderliche Arbeitsvolumen massiv abnimmt – höchste Zeit ist, die Idealisierung der Arbeit zu hinterfragen. Ziel kann es nicht sein, um neue Lohnarbeitsplätze zu kämpfen, sondern Bedingungen des Lebens einzufordern, die freies, nicht entfremdetes Tun ermöglichen.
Dazu müssen wir allerdings unsere nicht verwertbaren Bedürfnisse wieder zutage befördern, jene menschlichen Sehnsüchte und Wünsche, die sich nicht in Profit umsetzen lassen und die dem gemäss im Kapitalismus einer permanenten Erosion ausgesetzt sind. Die an der Überhöhung der Arbeit gekoppelten Verhaltensweisen und Denkmuster können wohl nur überwunden werden, wenn uns bewusst wird, dass wir – inmitten des gigantischen Angebots an Gütern und Dienstleistungen – Mangel leiden. Wir leiden Mangel an all jenen Aspekten des Lebens, die sich der Verwertung, das heißt der Verwandlung in ein Profit bringendes Warenangebot entziehen. Denn genauso wie es im Kapitalismus nicht darum geht, Arbeitsplätze zu schaffen, ist es auch nicht die Funktion der kapitalistischen Produktion „Lebensbedürfnisse“ möglichst effektiv zu befriedigen. Es geht vielmehr darum, die Menschen von ihren Bedürfnissen zu entfremden, ihnen das Bewusstsein über Wege und Formen der Bedürfnisbefriedigung zu rauben und ihnen statt dessen den Fetisch Ware anzubieten, der zwar verspricht, psychisch zu nähren und Befriedigung zu verschaffen, die emotional Hungrigen jedoch immer unbefriedigt zurücklässt. Nur so können die dergestalt permanent Unbefriedigten schließlich zu „dankbaren“ Objekten der ungehemmten Ausweitung der Produktion werden. Der Kapitalismus lebt vom permanenten Versprechen der Bedürfnisbefriedigung jedoch nicht von der tatsächlichen Befriedigung der Bedürfnisse. Die Sehnsucht nach Lebendigkeit, nach Liebe und nach Lust bleibt im System der Warenproduktion notwendigerweise unbefriedigt. Dementsprechend weit entfernt vom „Geschmack des Lebens“ befinden wir uns heute.
„Müßiggang ist aller Liebe Anfang“
Erst wenn wir uns der Verwertung in Arbeit und Konsum zumindest teilweise entziehen, können wir uns den nicht profitmäßig verwertbaren Wünschen und Bedürfnissen wieder langsam annähern. Unser Ziel muss ein Leben in Muße sein, ein Leben, das uns ermöglicht dem Lebendigen Vorrang gegenüber dem Fetisch Ware einzuräumen und die uns umgebende Welt nicht nur als Ausbeutungsobjekt und die Mitmenschen nicht nur als Konkurrenten und Hindernisse wahrzunehmen. Müßiggang ist nämlich ganz und gar nicht – wie es im bekannten Sprichwort heißt – aller Laster Anfang, sondern – so wie es die Schriftstellerin Christa Wolf formuliert hat – aller Liebe Anfang.
Was das alles mit Bildung und Bildungspolitik zu tun hat? Meiner Meinung nach sehr viel. Hinter pädagogischen Bemühungen lassen sich stets „heimliche“ Lehrziele ausmachen, die in den offiziellen Lehrplänen nicht aufscheinen und diese sogar häufig konterkarieren. Sie verkörpern sich in den strukturellen Bedingungen und im Selbstverständnis der Bildungseinrichtungen und können – da sie ja tatsächlich manifest vorhanden sind – durchaus als die echten Ziele von Schule, Aus- und Weiterbildung bezeichnet werden. Der Sozialisationsraum der Lernenden wird durch sie abgesteckt und sie bewirken unvergleichlich größere Lerneffekte, als alle vordergründig deklarierten Bildungsziele. Dieses „strukturelle Curriculum“ zeigt sich beispielsweise in der Lernorganisation, den Beziehungsformen und den Berechtigungen, die die Bildungsinstitution vergibt, vor allem aber auch im Legitimationsmuster für die „Veranstaltung Lernen“.
Schule als Sozialisationsagentur zur Vermittlung des Arbeitsethos
Spätestens seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht ist Schule niemals anderes gewesen, als eine Sozialisationsagentur zur Vermittlung des Arbeitsethos. Seitdem die gesellschaftliche Positionsverteilung vordergründig nicht mehr durch geburtsständische Faktoren determiniert ist, sondern Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit die offiziellen Kriterien der Sozialstruktur darstellen, ist das Bildungswesen Haupttransporteur der Vorstellung vom „Menschen als Arbeitstier“. Und die derzeitige Illusion, der Krise der Arbeitsgesellschaft ließe sich durch ein optimal an die Erwartungen der Wirtschaft angepasstes Humankapital begegnen, lässt das Bildungswesen noch einmal mehr zum Agenten der allgemeinen Arbeitsorientierung werden.
Eine Bildungspolitik, die an einer menschenwürdigen Gesellschaft orientiert ist, müsste zuallererst Abschied von der Vorstellung nehmen, das „Ende der Arbeit“ durch marktgerechte Qualifizierungsmaßnahmen verhindern zu können. Durch die Aus- und Weiterbildung von Arbeitnehmern entstehen weder neue Arbeitsplätze, noch wird dadurch das Machtverhältnis von Kapital und Arbeit zugunsten des Faktors Arbeit verschoben. Dies wäre jedoch notwendig, um nicht bloß die vorhandene Arbeit, sondern auch den gesellschaftlichen Reichtum neu zu verteilen. Bildung kann nicht leisten, was Politik versagt! Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und ihre Folgen ist Teil des Kampfes um die Durchsetzung der „Interessen der Arbeit“ gegen die „Interessen des Kapitals“ und kann sinnvoll nur auf politischer Ebene angegangen werden.
Muße ist die Antithese zum Arbeitszwang
Dazu braucht es allerdings selbstbewusster und mündiger Menschen. Und die wachsen sicher nicht in Schulen und Erwachsenenbildungseinrichtungen heran, wo der Begriff „Bildung“ bloß die Fassade für ein System abgibt, in dem es um das Zurichten von Humankapital und das Verinnerlichen des Arbeitszwangs geht. Zwar lebt in der Bezeichnung „Schule“ noch das griechische „schol, “ fort, das Wort für Muße – für den Ort, der von jeder Verzweckung freigehalten ist -; die ursprüngliche Begriffsbedeutung ist allerdings zwischenzeitlich nahezu vollständig in ihr Gegenteil verkehrt. Muße ist die Antithese zum Arbeitszwang; während Arbeit das Kürzel für fremdbestimmtes Tun darstellt, zielt Muße auf selbstbestimmtes Leben. Eine Schule, die eine derartige Mußeorientierung auch nur in Ansätzen ernst nimmt, dürfte sich nicht als Ausbildungsstätte begreifen, wo Heranwachsende im Sinne wirtschaftlicher Vorgaben zurechtgerichtet werden, sondern als gesellschaftlicher Bereich, wo es um die Entwicklung des humanen Potentials von Menschen geht, um Kultivierung, die Entfaltung der Fähigkeit also, das Leben an Prinzipien ausrichten zu können, die der „Rationalität des Nutzens“ übergeordnet sind.
Das in der heutigen Situation von Schulen und Bildungspolitik zu fordern, wäre allerdings mehr als bloß naiv. Bildung und Bildungspolitik ist im Kapitalismus untrennbar an das Arbeitethos gekoppelt. Die „Befreiung des Menschen durch Bildung“ war immer bloß ideologischer Überbau für eine schulische Realität, die niemals anderes war, als das Domestizieren des prinzipiell freien Wesens Mensch zum brauchbaren Arbeitstier. Nach der Bildungspolitik für eine menschenwürdige Gesellschaft zu suchen, bedeutet das Pferd beim Schwanz aufzuzäumen. Eine menschenwürdige Gesellschaft wird nicht durch die Schule begründet, sondern durch jene, die den Mut haben, über die Arbeitsideologie, die ihnen in der Schule eingebleut worden ist, hinauszudenken. Erst eine Gesellschaft, die das Recht auf Wohlversorgtheit über die Pflicht zur Arbeit stellt, wird in der Lage sein, der Bildung jenen Stellenwert zu geben, den sie als Idee immer schon hatte – die Förderung der Humanisierung des Menschen.