Vorläufige Thesen
Streifzüge 2/2000
von Franz Schandl
1.
Mit der Relativierung staatlicher Gewaltmonopole im Zeitalter der Globalisierung und dem Aufkommen dezentrierter Gewaltpole (Mafiotisierung), verliert die Kriegführung ihren zwingend nationalstaatlichen und politischen Charakter, auch wenn sie sich nationalistisch auflädt und politisch zu gerieren versucht. Sie wird poststaatlich, postnational, postpolitisch. Der postmoderne Krieg zeichnet sich dadurch aus, daß nicht eine bestimmte Form die andere ablöst, sondern daß allen bisherigen Formen neue zugesetzt werden. Nicht eine Bestimmtheit ist sein Charakteristikum, sondern seine Unbestimmtheit. Alles ist möglich. Keine Wahrscheinlichkeit, die a priori auszuschließen wäre. Kreuzzug nennen wir ihn deshalb, weil er sich stets ideologisch, freedom and democracy-mäßig aufladen muß, um als legitim zu erscheinen. Der Krieg wird zur Strafe.
2.
Politik an ihrem Ende wird umso öfter in gewalttätige Konfrontationen umkippen, je weniger jene mehr wissen kann, was sie tun soll. Krieg meint immer mehr die Kapitulation der diplomatischen oder „friedlichen“ Mittel der Politik, nicht deren Fortsetzung. Der postmoderne Krieg ist der Zersetzung der politischen Form geschuldet. Politik war die sympathischere Variante des Krieges gewesen, weil die Subordination der Objekte doch einem berechenbaren Modus folgte, Angst und Schrecken nicht primären Mittel und Kriterien der Durchsetzung gewesen sind.
3.
Krieg ist dazu da, den alten Frieden durch einen neuen Frieden zu ersetzen. Ob die Kontrahenten mit dem erreichten Frieden zufrieden sind oder nicht, darüber entscheiden in erster Linie Sieg und Niederlage. Krieg ist nichts anderes als die extremste Form des Friedens. In ihm kommt er zu sich über uns. Im konkreten Krieg preßt der jeweilige Frieden sein abstraktes Substrat aus. So unplausibel es auf den ersten Blick erscheinen mag: Nicht die empirische Gegenüberstellung ist hervorzuheben, sondern die eherne Zusammengehörigkeit. Seit der Kalte Krieg vorbei ist, tritt dieser Konnex auch ungeniert zutage. Es gilt auch und nachdrücklich gegen diesen Frieden zu sein.
4.
Krieg und Frieden betonen Aspekte der bisherigen Vorgeschichte, die in dieser allgegenwärtig sind. Das eine ist ohne dem anderen nicht denkbar, was aber auch bedeutet, daß mit der Aufhebung des Krieges auch der Frieden als eigenständige Größe verschwinden wird. Was kommen kann und kommen soll, ist also nicht der Kantsche ewige Frieden, sondern etwas, das jenseits der Achse Friede/Krieg angesiedelt ist. Postkapitalistische Auseinandersetzungen und Konflikte werden ihre Zuspitzungen und Gelassenheiten anders definieren, entwickeln und verwirklichen. Sie sind jenseits von „Schlagt sie tot! “ oder auch „Macht sie fertig! “
5.
Krieg als auch Frieden sind Zivilisation, nicht Natur, d. h. auch der Krieg ist nicht dem Frieden vorgelagert, sondern mit ihm gemeinsam in die Welt gekommen. Erst als die Menschheit sich Ordnungen gegeben hat, konnten überhaupt Krieg und Frieden als Unterscheidungen in Erscheinung treten. Krieg und Frieden sind frühe Ausdifferenzierungen der zweiten Natur. Der Krieg ist ein soziales Phänomen, kein natürlicher Rest oder gar ewiges Schicksal. Der Mensch ist nicht so, wie das der gesunde Menschenverstand immer wieder behauptet, um alle Grausamkeiten zu legitimieren, die geschehen, er ist höchstens so, wie er gerade sein muß, wie ihm seine Koordinaten in Raum und Zeit auferlegen.
6.
Menschenrechte gehen heute zweifellos vor Menschen! Daher liebt man es gar nicht von Krieg zu reden, in Orwellscher Manier spricht man von Strafaktion oder gar von Friedensmission. Denn es können nur Friedensbomben, Friedensgranaten, Friedensraketen sein, die da als zu Metall gewordene westliche Werte auf die Menschen niederkommen. Gerade die Menschenrechte gehören zu den schärfsten Waffen des Nordens und seiner NATO. Entsichert, entfalten sie ihre zivilisatorische Wirkung. In der Anbetung der Menschenrechte übertreffen sich Herrschaft und Opposition in ihrer jeweiligen Gläubigkeit.
7.
Kriegsverbrechen ist ein Terminus, der in perfider Manier den Krieg an sich vom Verbrechen freispricht. Menschen zu vertreiben, sie zu erschlagen, zu vergewaltigen und zu exekutieren, ist folglich ein Kriegsverbrechen; Soldaten in Panzern zu verbrennen, Zivilisten aus dem Schlaf zu bomben, Journalisten in TV-Gebäuden zu zerfetzen, ist hingegen ein legitimer Akt der Durchsetzung westlicher Werte.
8.
Die Beschwörung der Abstammung, einer gemeinsamen Geschichte, die sich als eherne Schicksals- und Charaktergemeinschaft konstruiert, ist die völkische Grundbedingung des Nationalismus. „Edel ist, was Herkunft hat“, sagt Martin Heidegger. Und merkt sogleich an: „Nicht nur sie hat, sondern in der Herkunft seines Wesens weilt.“ Die Nation als besondere Formation verschwindet hinter der Behauptung dieser oder jener Nation als dem sich selbst erhöhenden Spezifikum. Der Krieg ist eines der Lebenselixiere der Nation, nötig zu seiner Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung. Nie sind die Nationen so in ihrem Element wie im Krieg. Da können sie sich aneinander reiben, und reiben doch nur die ihnen gehörigen Menschen tot. Zu sich kommend, geraten sie außer sich.
9.
Nationen sind vergänglich, gleiches gilt für die Abstraktion der Nation. Kritische Theorie und emanzipatorische Praxis haben dieser Vergänglichkeit nachzuhelfen. Die völkische Zuordnung muß überwunden werden. Das heißt nicht, daß Menschen in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort nicht bestimmte Eigenheiten haben werden. Aber diese sind dann rational einsichtig, nicht mythisch verklärt; sie bauen nicht auf Abgrenzung, Ausschluß und Vereinnahmung auf. Sie sind ein Kolorit. Die Teilnahme an Gemeinsamkeiten ist nicht staatlich verordnet und national überhöht, sie fordert nicht unbedingte Zugehörigkeit ein, ist keine Gehörigkeit und keine Hörigkeit, sondern eine bloß lose verdichtete Facette in sich überschneidenden Zeit-Raum-Achsen. Dabeisein und Nichtdabeisein ist keine bekennenswerte Eigenschaft, sondern eben einer unmittelbaren Situation geschuldet. Authentizität bedeutet variable Identität.