Ist Walter Sonnleitner das revolutionäre Subjekt?

Wirtschaftsjournalismus und gesellschaftliche Emanzipation

vom Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM).
Abteilung für Medienpolitik.

50 Prozent der ÖsterreicherInnen haben Vorbehalte gegen den Kapitalismus. 1 Diese Einstellung dürfte aber ganz und gar nicht auf einen hohen Informationsstand über Funktionsweise und Auswirkungen unseres ökonomischen Systems zurückzuführen sein, sondern ganz im Gegenteil ihre Wurzeln in einem gefühlsmäßigen Vorurteil gegen Wirtschaft im allgemeinen haben. Eine wichtige Ursache für diese Mentalität ist die Tatsache, daß in den noch immer weitgehend dem Verwertungsinteresse entzogenen, von einem humanistischen Bildungsideal geprägten Schullehrplänen Wirtschaftsbildung — außer in Handelsakademien und in Marginalien im Rahmen des Geographieunterrichts — nicht vorkommt. Als r Faktor kommt die Sozialpartnerschaft hinzu, die die ganze Nachkriegszeit über auch ein Bollwerk zwischen Wirtschaft und Öffentlichkeit gewesen ist, in der Funktionäre der Bevölkerung die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Fragen "abgenommen" haben.

Lange Zeit hat sich deshalb ein Vorbehalt gegen "die Wirtschaft" gehalten. Dieser führte zwar niemals zu offenem Widerstand, da die Integration ins Arbeitsleben über die ebenfalls mächtige Arbeitsethik gewährleistet wurde. Vom Gesichtspunkt emanzipatorisch gesinnter Agitation bzw. Politik konnte diese Einstellung aber immer wieder gut für die Verteidigung von Abwehrbastionen gegen allzu kapitalfreundliche politische Maßnahmen genutzt werden. Ressentiment macht bockig und erzeugt Widerstand und Abwehr — was eine gute Waffe sein kann gegen Dinge, bei denen das Kapital auf aktive Teilnahme der Betroffenen angewiesen ist. Dieses auf Vorurteilen statt Information basierende Ressentiment ist aber ein weniger guter Mobilisationsfaktor für Dinge, wo alternative Sichtweisen gefragt sind, oder wo man Sachzwang-Argumenten bei Entscheidungen über gesamtgesellschaftliche Weichenstellungen gegenübersteht. Und überall dort, wo offensiv für Sachen gekämpft werden muß, es um offensive Kritik und das Vorantreiben von Alternativen geht. Hier ist Gegenexpertise vonnöten. Woher soll die kommen? Primäre Bezugsquelle von Information sind heute Medien. Was leisten die auf dem Gebiet der Wirtschaftsinformation?

Wirtschaftsmedien und Alltagsleben

Nach dem Wirtschaftsmedienboom in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren ist jetzt eine Konsolidierungsphase eingetreten, wo nicht mehr allzu viele eigene Magazine auf dem Markt sind, aber der Wirtschaftsteil in allen Zeitungen an Umfang und Tiefe gewonnen hat. Man nimmt an, daß das Publikum für Wirtschaftsnachrichten breiter geworden ist, das heißt, mehr Leute interessieren sich heute für Wirtschaft als früher. Das hängt nicht nur mit der erfolgreichen Affizierung von Geld und Erfolg mit positiven Attributen durch neoliberale Propaganda zusammen, sondern auch mit der Tatsache, daß der Themenkomplex Wirtschaft bedeutsamer für das Leben aller geworden ist. Die Ökonomie ist schnellerem Wandel unterworfen und hat die Anforderungen an Kenntnisse und Flexibilität der ihr Unterworfenen erhöht, und die fortschreitende Kommodifizierung aller Lebensbereiche hat uns mittlerweile in ungeahntem Ausmaß zu KonsumentInnen gemacht.

Entsprechend zielt Wirtschaftsberichterstattung immer mehr in Richtung Servicefunktion, und versucht sich ratgeberisch in den Bereichen Konsumentscheidung, Vermögensanlage, Steuervermeidung etc. Es gelingt den Wirtschaftsjournalisten also in zunehmendem Maße, an persönliche Erfahrungen, Wünsche und Bedürfnisse der Leute anzuknüpfen (was natürlich mit der gesamten Entwicklung des herrschenden Wirtschaftssystems zu tun hat, das die Bevölkerung zunehmend über andere Aspekte als über ihr ArbeitnehmerInnen-Dasein an sich bindet). Das ist neu, denn früher hat sich "seriöser" Journalismus, insbesondere Wirtschaftsberichterstattung, durch Ferne vom Alltagsleben ausgezeichnet. 2

Früher war klar: Den Wirtschafts-Teil lesen nur Unternehmer und ihre Adepten, ArbeitnehmerInnen lesen Sport und Chronik, maximal den Politik-Teil. Heute lesen Manager den Sport-Teil, weil es schick geworden ist, während ArbeitnehmerInnen in zunehmendem Maße den Börseteil durchforsten, sei es um den Kurs der eigenen Wertpapiere zu verfolgen oder sich nach dem besten Pensionsversicherungssystem zu erkundigen, sei es, weil sie in den Glamour von Geld und Erfolg eintauchen wie früher in die Welt von Sex and Crime (die Tatsache, daß sich Wirtschaftsberichterstattung heutzutage zunehmend an diesen Formen orientiert, kommt noch dazu).

Das hat Folgen für das politische Handeln: Bald werden linke Kräfte nicht mehr (wie in der Vergangenheit mitunter erfolgreich) an das tradierte Marktmißtrauen in weiten Teilen der Bevölkerung anknüpfen können. Denn die Wirtschaftsmedien haben es geschafft, Interesse zu wecken und können mit ihrer Verknüpfung von persönlichem Vorteil mit Konsum von Finanzdienstleistungen und anderem die Vorteile einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung für den Einzelnen plausibel machen.

Damit haben sich auch die Bedingungen für emanzipatorischen Journalismus geändert. Mit einem Mal macht es Sinn, sich um die Inhalte der Wirtschaftsseiten zu kümmern. Es gibt das Publikum, das potentiell für einen emanzipatorisch gesinnten Wirtschaftsjournalismus zugänglich wäre. Während Parteien und Verbände früher ihre von jedem Basisinput abgekoppelte Stellvertreterpolitik in Wirtschaftsfragen mit der angeblichen Überforderung von Interesse und Kenntnissen der Basis durch die den Wirtschaftsfragen inhärente Komplexität begründen konnten, hat sich heute einiges geändert: Die Parteien sind wirtschaftspolitisch orientierungs- und visionslos, aber die Massen reißen sich um die neuesten Nachrichten aus der Welt des Kapitals. 3

Doch was sie dort zu lesen bekommen, ist mehr als dürftig. Im Gegensatz zu anderen Ressorts sehen sich WirtschaftsjournalistInnen in ihrer Selbsteinschätzung tendenziell als eher unpolitisch, neutral und seriös. Attribute, die sich in den von ihnen verfaßten Texten jedenfalls nicht bemerkbar machen:

Wirtschaft wird meist als einsinniges Bekanntmachungs- und Verlautbarungsthema behandelt, nicht als kontroverser Diskussionsgegenstand, in dem Interessenskonflikte und unterschiedliche Zielrichtungen eine bedeutende Rolle spielen; die Berichterstattung ist vorwiegend Verlautbarungsjournalismus (präsentierte Unternehmenskennzahlen werden unkritisch übernommen, Entwicklungen werden nicht verfolgt), auf weniger offensichtliche Bedeutungen wirtschaftspolitischer Sachverhalte für die eigene Lebenssituation wird nicht eingegangen; es fehlen der Überblick und längerfristige Trendanalysen — gerade Wirtschaftsthemen sind ohne Darstellung der Zusammenhänge unverständlich; sie sind aber selten Gegenstand von Kommentaren und Hintergrundanalysen (Aufgabe des Kommentars wäre vor allem, Zusammenhänge zu erklären statt persönliche Meinung darzulegen); Wirtschaftsjournalismus wird meist auf "harte Fakten" reduziert, "weiche" Themen wie Personal, Soziales, Forschung etc. kommen zu kurz. Das Schwergewicht liegt auf Unternehmensberichterstattung, diese ist neben der offiziellen Politik auch der häufigste Agenda-Setter. Berücksichtigt werden dabei überwiegend die Interessen von AktionärInnen und die wirtschaftliche Lage des Unternehmens (statt auch sein sonstiges Agieren), Betriebsräte und Betriebsfremde kommen kaum zu Wort; innerbetriebliche Mitbestimmung, Unternehmensziele, Organisationsstrukturen, die Rolle der MitarbeiterInnen und eine Verknüpfung der Firmenaktivitäten mit gesellschaftlichen Bezügen werden systematisch vernachlässigt. Der Arbeitsalltag bleibt aus der Berichterstattung ausgeklammert, ArbeitnehmerInnen kommen nur als KonsumentInnen vor. Die Artikulationschancen von nicht unternehmensnahen Gruppen sind gering bzw. werden auf bestimmte Themen beschränkt (z. B. ArbeitnehmerInnenvertreter nur zu Arbeit und Soziales). Die Berichterstattung ist zumindest im Tageszeitungsjournalismus stark von Agenturen bestimmt, Eigenrecherche, zumindest die Befragung externer ExpertInnen, ist selten. Nach wie vor leidet der Wirtschaftsteil in Tageszeitungen unter geringer Verständlichkeit, die Fremdwortdichte ist hoch.

In diesem Umfeld emanzipatorische Formen und Inhalte einzubringen, ist mittlerweile wichtiger denn je.

Gegenöffentlichkeit statt Mainstreammedien?

Das oben Gesagte läuft auf die Forderung hinaus, die Qualität der Information in Massenmedien müsse verbessert werden. Ist damit schon viel gewonnen? Die kritische Medientheorie hat eine solche Sichtweise parodistisch als "Megafonmodell" etikettiert. Zu glauben, es genüge die "falsche" durch die "richtige" Berichterstattung zu ersetzen, um die nunmehr von Erkenntnis beseelten Menschen zum Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse zu treiben, unterstelle einen kausalen Zusammenhang von Information, Bewußtsein und Handeln, sei der Vorstellung einer manipulativen Medienwirkung verhaftet. 4 Das greife zu kurz. Denn heute sei auch kritische Information breit verfügbar. Sie bleibe aber folgenlos.

Der Grund liegt im Ohnmachtsgefühl, das entsteht, wenn wir über das Funktionieren des Systems, in dem wir leben, aufgeklärt werden, aber keine Möglichkeit sehen, es zu ändern. Zentral ist demnach die Erkenntnis von Kluge: Erst aus der Wahrnehmung von Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten kann sich bei MedienrezipientInnen ein Interesse an Realismus, an kritischer Information, bilden. Information muß sich in Handlung fortsetzen lassen. 5

Hier ist die konventionelle Wirtschaftsberichterstattung ebenso wie die Werbung im Vorteil: Im Bewerben und Bewerten von Produkten wird erworbenes Wissen unmittelbar in alltägliches Handeln (Einkauf) umsetzbar. Kritische Interessen können sich deshalb in diesem Kontext nur eingeschränkt durchsetzen. "Mediale Interventionen müssen in einem umfassenden Kontext von sozialem, politischem und kulturellem Handeln gedacht werden. Massenmedien in ‚richtigen‘ Händen ändern nichts, weil sie strukturell antidemokratisch sind (= sie beruhen auf dem Prinzip der Vervielfältigung der Information in eine Richtung). Deshalb können sie nur sehr eingeschränkt Ausgangspunkt bzw. Element einer über den reinen Medienkonsum hinausgehenden sozialen Praxis werden. "6 Zudem wurde darauf hingewiesen, daß systemfeindliche Inhalte in profitorientierten Massenmedien niemals Eingang finden könnten, da sie den Interessen der Eigentümer widersprechen. Aus der Desillusionierung gegenüber den Massenmedien entstanden im Lauf der Zeit zahlreiche "gegenöffentliche" Medienprojekte:

• Eigene Zeitschriften, Radioprogramme und Verlage: "Öffentlichkeit wendet sich an Beteiligte, nicht an ein Publikum. "7 Deren abflauende Konjunktur zeigte einerseits qualitative Defizite (Sektierertum) auf, andererseits die Tatsache, daß die Publikationen von Bewegungen getragen wurden und nicht umgekehrt, so daß mit dem Abflauen der Bewegung das Schicksal der Medien besiegelt wurde — die Beteiligten wurden weniger und somit auch die LeserInnen. Zuletzt kam es häufig zu finanziellen Problemen oder inhaltlichem "Ausverkauf" beim Versuch, ein größeres Publikum anzusprechen.

• Public access: Dem Ziel einer Öffentlichkeitsplattform, in der jedeR gleiches Rede- bzw. Senderecht hat, verhaftet, gibt es einige erfolgreiche Beispiele für "offene Kanäle" im Fernsehen, auf denen auch kritische Information durch BasisaktivistInnen verbreitet wird (allen voran Paper Tiger TV in den USA8). Allerdings ist ein solches Format meist in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit gegenüber den professionell mit medialen Stimulanzien arbeitenden Sendern unterlegen.

• Kommunikationsguerilla: In exemplarischen öffentlichkeitswirksamen Aktionen werden Symbole und Exponenten des herrschenden Systems lächerlich gemacht bzw. durch Offenlegung ihrer verdeckten Bedeutung kritisiert (z. B. Tortenwerfen ins Gesicht von Bill Gates, Versand von Nachrichten unter falschem Namen zur Subversion der Intentionen des Namensgebers, Eroberung und Veränderung fremder Websites, "Detournierung" von Plakaten und öffentlichen Objekten etc. ). Darunter sind viele Aktionen interessant und gut9, aber es ist fraglich, wie viel solche Einzelaktionen ohne Einbettung in einen verständnisfördernden Gesamtzusammenhang bewirken können.

• Campaigning: Durch Ausnutzung der Wirkungsweise kommerzieller Massenmedien, insbesondere deren Spektakelorientierung, gelingt es immer wieder, große Öffentlichkeit für bestimmte Ziele zu erreichen und diese dadurch letztendlich durchzusetzen. Greenpeace ist dafür das herausragende Beispiel. Bestimmte Einzelfälle werden sensationell aufbereitet und verpackt mit einer Anknüpfung am persönlichen Handlungsspielraum ("Kauf nicht bei …") medial lanciert. Damit lassen sich einzelne Schlachten überraschend gewinnen, "aber keine gesellschaftsverändernde soziale Praxis auslösen — eine solche erfordert Diskussionen, Versuche, Mut zum Unfertigen und Unrealistischen — alles wofür in der Einbahnstraße massenmedialer Kommunikation kein Platz ist. Veränderung beginnt in erster Linie im sozialen Alltag. "10

• Internet: Das kostengünstige Bilden von elektronischen Foren und Netzen ermöglicht eine teilweise Rekonstruktion der aufgrund von finanziellen Problemen gescheiterten autonomen Öffentlichkeiten innerhalb der verbliebenen Grüppchen, die aber durch weiträumigere Vernetzung und den Appeal einer neuen Technologie größere Kreise erreichen können.

Das Hauptproblem all dieser Gegenöffentlichkeiten ist, daß sie nur auf eine sehr eingeschränkte Zahl von Menschen attraktiv wirken, meist Leute, die bereits in die entsprechenden Anliegen "initiiert" sind. Das liegt an vielen Dingen — den Vertriebsproblemen; der Übersättigung in der Medienlandschaft, die eine Selektion seitens der KonsumentInnen nach bekannten Marken auch im Medienbereich nahelegt; dem oft sektiererischen Gestus und spezialisierten Diskurs, der viele dieser Medien auszeichnet; und nicht zuletzt daran, daß ihnen das abgeht, was herrschende Medienverbünde so attraktiv macht: der zur Schau gestellte Pluralismus, was die Meinungs- und Themenvielfalt angeht. Für unseren Kontext besonders entscheidend: In fast allen gegenöffentlichen Medien spielt jedenfalls das Thema Wirtschaft in Form ökonomischer Gegenexpertise eine untergeordnete Rolle, von der üblichen Denunziation der dunklen Machenschaften "des Kapitals" abgesehen.

Für eine Doppelstrategie

Die linke Medientheorie warnt zu recht vor einer Überschätzung der Information. Information ist nicht alles. Aber Information muß nicht nur als Verlautbarung von Fakten oder der richtigen Weltschau verstanden werden, sondern auch als Auf-den-Weg-Bringen von Wissen. Das Wissen von ExpertInnen muß mit den Lebensumständen verkoppelt, veröffentlicht werden. 11 Kommunikatives Aushandeln von Alternativen bedarf auch der Information über Zusammenhänge des Bestehenden. Das alles leisten Massenmedien allein tatsächlich nicht, dazu braucht es zusätzliche Arbeit. Aber Information über wirtschaftliche Zusammenhänge und Alternativen ist nicht einmal in ihrer rudimentärsten Form in Verbreitung. Hier besteht enormer Aufholbedarf. Ein solches Wissen muß auf allen möglichen Kanälen in Umlauf gebracht werden. Die kritische Arbeit muß in Massenmedien und in Alternativmedien stattfinden. Es muß eine Doppelstrategie geben. Leute müssen in Mainstreammedien von der bzw. für die Tatsache informiert und interessiert werden, was in der Wirtschaft los ist. Wer daran angebissen hat, kann dann eine Gegenöffentlichkeit benutzen und sich in eine Community einklinken. Der Vorteil von Massenmedien ist nun mal, daß sie eine viel größere Reichweite haben. Natürlich ist dort nur begrenzt Raum für andere Sichtweisen und fast keiner für Interaktion. Aber es wäre dort mehr möglich, als die Erzählung vom absolutistischen Medien-Systemkonformismus-Einheits-Terror vermutet. Ein erstaunliches Beispiel dafür ist die Berichterstattung zum Multilateralen Investitionsschutzabkommen MAI, gegen das im Herbst 1998 von einer Tageszeitung, die eigentlich der Industrie zugerechnet wird, auf den Wirtschaftsseiten eine wahre Kampagne geführt wurde, was wesentlich dazu beigetragen hat, daß Basisprotest diffundiert ist und durch die Veröffentlichung seiner Anliegen in einer "seriösen" Tageszeitung ein Gütesiegel bekam, das ihn vom Obskurantenverdacht reinwusch und breiteren Kreisen attraktiv machte, und zuletzt nennenswerten Druck auf die Bundesregierung ausüben konnte.

Es kann nicht mehr allein um die Errichtung einer "ganz anderen" abgeschotteten Gegenöffentlichkeit gehen, sondern man muß sich unter das Bestehende mischen. Denn auch die RezipientInnen leben "im Falschen" und müssen sich mit diesem tagtäglich auseinandersetzen. Gegenöffentlichkeiten, die ein "Fluchtverhalten" in eine "Gegenwelt" evozieren, kopieren die Technik der Werbung. Auseinandersetzung mit der "Realität" in derselben ist wichtig. Wenn auch nicht ausschließlich: Der Marsch durch die Institutionen, den manche antreten, muß begleitet werden von einer inhaltlichen Stützung der dort Tätigen in einer Gegenöffentlichkeit, die spezialisierte Inhalte in größerer Tiefe und unter weniger Druck hinsichtlich Zeit, Breitenkompatibilität und sonstigen kommerziellen Zwängen bearbeitet, aus der geschöpft und in der kommuniziert werden kann.

Was kann emanzipatorische Wirtschaftspublizistik tun? Das wäre praktisch zu erforschen, einige Grundregeln sind aber sicher: Wirtschaft nicht als einen Hort von Sachzwängen darstellen, sondern als kontroverses System, wo es unterschiedliche Interessen, Theorien und Meinungen, sowie Alternativen gibt; Nachrichten in einen Zusammenhang stellen; Bedeutung eines Sachverhalts für die konkrete Leserin aufzeigen; Verbindung zum eigenen Leben herstellen; persönliche Betroffenheit und persönliche Eingriffsmöglichkeiten betonen, Artikulation und Transport von Kritik; Alternativen zeigen; Betroffene und kritische ExpertInnen sprechen lassen.

Manche Medientheoretiker sehen in den MedienarbeiterInnen gar die künftigen revolutionären Subjekte. 12 Das ist sicher übertrieben, ist aber ein Hinweis darauf, daß diesem Berufszweig und seiner Ausbildungssituation von kritischer Seite mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Leute mit Wirtschaftswissen: Werdet JournalistInnen! Leute mit Geld: Gründet Lehrgänge für WirtschaftsjournalistInnen!

Anmerkungen

    1 "Die Presse", 8. Jänner 2000.

    2 Oskar Negt und Alexander Kluge beklagten vor 25 Jahren in "Öffentlichkeit und Erfahrung" den Ausschluß der Produktions- und Beziehungssphäre aus der bürgerlichen Öffentlichkeit. Mittlerweile quillt die kommerzielle Medienwelt vor lauter veröffentlichter Privatheit über — Talkshows, Sitcoms, Boulevardmagazine — insbesondere das Fernsehen macht aus dem Alltäglichen Unterhaltung. Demgegenüber ist die Welt der Arbeit vielleicht mehr denn je dem Blickfeld der Berichterstattung entzogen.

    3 Und die Arbeitnehmervertretungsorgane versuchen verzweifelt hinterherzulaufen. Man beachte die Versuche der Arbeiterkammer, durch vermehrte "Serviceorientierung" mit dem Angebot der Wirtschaftspresse mitzuhalten.

    4 autonome a. f. r. i. k. a. gruppe (1998): Bewegungsle(e/h)re, http: //www. nadir. org/nadir/archiv/netzkritik/bewegungsleere.html.

    5 Alexander Kluge (1985): Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit, in: Klaus von Bismarck u. a. (Hg. ): Industrialisierung des Bewußtseins, München.

    6 autonome a. f. r. i. k. a. gruppe (1998): Bewegungsle(e/h)re.

    7 Büro Bert (1993): Öffentlichkeit, in: BüroBert: Copyshop. Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit, Berlin.

    8 http: //www. papertiger. org.

    9 Siehe autonome a. f. r. i. k. a Gruppe (1995): Handbuch der Kommunikationsguerilla, Hamburg.

    10 autonome a. f. r. i. k. a. gruppe (1998): Bewegungsle(e/h)re.

    11 Renate Lorenz/BüroBert (1993): Kunstpraxis und politsche Öffentlichkeit, in: BüroBert: Copyshop. Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit, Berlin, S. 17.

    12 H. J. Krysmanski (1996): Weltsystem, neue Medien und soziologische Imagination.

    13 Postfach 162, A-1015 Wien, http://www.wu-wien.ac.at/inst/roman/beigewum.

image_print