Zwischenruf zu den freiheitlichen Sirenen
Streifzüge 2/2000
von Ernst Lohoff
Gerhard Scheit und Franz Schandl berühren in ihrer Kontroverse um die „freiheitlichen Sirenen“ in den Streifzügen nicht nur ganz zentrale Punkte eines hochbrisanten Themas auch seiner dialogischen Form nach hebt sich ihr Versuch theoretischer Klärung angenehm von der üblichen linken Schlagabtauschkultur ab. Dennoch bleibt nach der mittlerweile vierten „Lieferung“ ein gewisses Gefühl der Unbefriedigung. Die Debatte beginnt sich ein wenig im Kreis zu drehen. Es zeichnet sich weder eine Auflösung der Gegensätze ab noch macht es den Eindruck, daß sie wirklich schon präzise auf den Punkt gebracht wären.
Franz Schandl faßt die Haiderei als eine extreme und damit bis zur Kenntlichkeit entwickelte Variante des allgemeinen warengesellschaftlichen Irrsinns. Gleichzeitig distanziert er sich aber von jedem subsumierenden Denken und will auf keinen Fall „die Besonderheit“ in der „Allgemeinheit“ von Wertkritik überhaupt ertränkt wissen. Gerhard Scheit wiederum bemüht sich, das Spezifische am Phänomen Haider zu seinem Recht kommen zu lassen, ohne deswegen die Kritik der österreichisch-deutschen Wirklichkeit zum Ersatz für eine allgemeine Kapitalismuskritik zu machen. Soweit so gut. Darüber, was mit dem Spezifischen in diesem Kontext gemeint ist, herrscht indes keineswegs Einigkeit und die jeweiligen Vorstellungen werden auch nicht unbedingt wirklich klar herausgearbeitet. Franz schweigt sich weitgehend darüber aus, was er da als das Besondere anerkennt. Gerhard seinerseits präsentiert eine recht spezifische Interpretation des Spezifischen, streckenweise aber auch eher implizit denn explizit. Das ist wohl mit der Hauptgrund, warum die Auseinandersetzung etwas Diffuses behält, während gleichzeitig doch deutlich wird, daß die Diskutanten mehr als eine Frage unterschiedlicher Akzentsetzungen verhandeln.
Wenn dem Allgemeinen des kapitalistischen Prozesses „das Besondere“ entgegengestellt wird, dann kann sich diese Kategorie prinzipiell auf zwei Achsen beziehen, Zeit und Raum. Keine Epoche kapitalistischer Entwicklung geht im allgemeinen Begriff des Kapitals einfach auf. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto eklatanter tritt die Inkongruenz von allgemeinem Begriff und historischer Wirklichkeit zu Tage. Genausowenig beherbergt irgendeine der Weltwarengesellschaft angehörige geographische Region ein bloßes Exemplum der allgemeinen Norm. Als Variationen des warengesellschaftlichen Gesamtzustands sind den Verhältnissen in jedem Gebiet stets Momente von Kontingenz eigen.
Beim Blick auf Haider-Österreich geht es indes nicht einfach darum, diesen generellen Zusammenhang von Besonderem und Allgemeinen auf die hiesigen Verhältnissen und ihre Historie „anzuwenden“. Deutschland und Österreich stehen keineswegs für irgendeine Ausprägung warengesellschaftlicher Abscheulichkeit hier ist vielmehr mit dem Nationalsozialismus und insbesondere mit der Shoa das der modernen Gesellschaft inhärente Potential an Irrationalität und eliminatorischen Wahn geballt zur Entladung gekommen. Die Frage nach dem Verhältnis der „großdeutschen“ zur kapitalistischen Gesamtgeschichte übersetzt sich dementsprechend sofort in eine andere: In welcher Beziehung stehen der kapitalistische „Normalbetrieb“ und das volksgemeinschaftliche Eroberungs- und Vernichtungsprogramm? Steht letzteres im Kontrast zu ersterem oder läßt es sich zugleich als dessen Fortsetzung und Übergipfelung fassen?
Der Versuch, den Nationalsozialismus im Sinne der Wertkritik zu historisieren ist seiner ganzen Ausrichtung nach radikal-kritisch. Indem aufgezeigt wird, daß selbst noch die Vernichtung „unwerten Lebens“ und der Verkörperung des Abstrakten in Gestalt des Juden im Namen der konkreten Seite der Wertabstraktion als eine mögliche Option der warengesellschaftlichen Logik inhärent war, gewinnt deren Kritik eine zusätzliche Tiefendimension. Auch das reflektierte Aufklärungsdenken blieb bei seiner Kritik der warengesellschaftliche Rationalität stets dem Standpunkt einer wahren, universellen Rationalität verhaftet und hat die herrschende Vernunft dementsprechend als durch die Dominanz des betriebswirtschaftlichen Partikularismus gebrochene Rationalität verstanden. Der Versuch den Nationalsozialismus aus einer wertkritischen Perspektive analytisch konsequent in Beziehung mit der Durchsetzung der bürgerlichen Formprinzipien zu setzen, kommt hingegen zu einen anderen Befund: In dem, was für gewöhnlich als Einbruch des Irrationalen firmiert, hat nur der Subtext des warengesellschaftlich Rationalen einen ihm durchaus adäquaten Ausdruck gefunden. Auschwitz steht nicht für einen Amoklauf gegen die Vernunft, sondern war eine besondere Form des Amoklaufs der Vernunft.
In Teilen des antideutschen Spektrums liest man die Delegitimierung der warengesellschaftlichen Rationalität gewohnheitsmäßig als Relativierung, ja sogar als indirekte Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Die radikale Kritik läßt sich allerdings nur dann als Apologetik interpretieren, wenn klammheimlich oder offen ein positiver Rationalitäts- und Modernisierungsbegriff dort unterstellt wird, wo dieser – nicht zu letzt vor dem Hintergrund der Shoa – grundsätzlich in Frage steht. Das beständige Beharren auf dem einmaligen Charakter der nationalsozialistischen Judenvernichtung lenkt im Endeffekt nur vom eigentlichen Konflikt ab. Der Vorzeichenwechsel, radikale Vernunftkritik statt Rettung eines emphatischen Vernunftbegriffs, wird nicht akzeptiert. Hier liegt das Problem. Wer sich darum bemüht, die Shoa wert- und damit rationalitätskritisch zu historisieren, leugnet damit nicht nur nicht deren Sonderstellung. Gerade die besondere Stellung dieses Genozids drängt dazu, ihn mit der allgemeinen Logik der Warengesellschaft ins Verhältnis zu setzen. So wenig sich die nationalsozialistischen Gräuel unmittelbar aus dem Wertgesetz deduzieren lassen, so werfen diese umgekehrt ein Schlaglicht auf das Allgemeine der Wertform.
Die klassische kritische Theorie hat zugleich Elemente einer konsequenten Vernunfts- und Aufklärungskritik entwickelt und sich an die Grundlagen des Aufklärungsdenkens geklammert. Diese innere Spannung löst sich bei den heutigen Adepten zusehends zugunsten eines ungebrochen emphatischen Rationalitätsbegriffs auf. Ein ziemlich gerader Weg führt sie von den Einmaligkeits-Mantras über eine Art von Analyseverbot für die Shoa heim ins Reich der seligen Aufklärung.
Die klassische kritische Theorie ist selber zu einer Historisierung des Nationalsozialismus gelangt, auch wenn diese auf einer höchst fragwürdigen Interpretation der Kategorien der Kritik der Politischen Ökonomie beruhte. Adorno und Horkheimer haben die großdeutsche Entwicklung als Spielart einer auch in der Sowjetunion und den USA zu beobachtenden „Aufhebung des Wertgesetzes“ gedeutet und damit in einen über die besondere großdeutsche Situation hinausgehenden Kontext gestellt. In den Schriften der ISF und der Bahamas verschwindet dieser Horizont. Die Welt des auf „seiner eigenen Grundlage aufgehobenen Werts“ schrumpft letztlich auf Großdeutschland.
Diese Blickfeldverengung macht sich auch in Gerhards Beiträgen in gewisser Weise bemerkbar. Die mehrfach bemühte Kategorie des Besonderen zielt bei ihm, jedenfalls im wesentlichen, auf ein großdeutsches Kontinuum. Inwiefern muß man davon ausgehen, daß angesichts der speziellen Vorgeschichte Österreichs und seines nordwestlichen Nachbarn in diesen beiden Ländern auch in der heutigen Krisensituation die allgemeine warengesellschaftliche Barbarei eine ausgesprochen eliminationsfreudige Variante annimmt? Natürlich ist diese Fragestellung an sich völlig legitim. Es gibt sicherlich einige Argumente, die einen solchen Verdacht näheren können. Von einem rationalitätskritischen Standpunkt ist aber mindestens genauso wichtig, inwieweit das deutsche Erbe nicht auf seine Weise längst zum westlichen Gemeinbesitz geworden ist. Wenn die „deutsche Ideologie“ auf ihre Weise von Beginn an mit dem Geist der Aufklärung verschränkt war, dann kann sie unter bestimmten Umständen auch außerhalb der deutschen Einflußsphäre geschichtsmächtig werden. Die Totenglocken müssen nicht immer dort läuten, wo sie einst gegossen wurden. So viel Standorttreue sollte man im Zeitalter der Globalisierung nicht unbedingt als selbstverständlich unterstellen.
Der Horror der Nazidiktatur gehört nicht nur für Österreich und Deutschland zur Vorgeschichte des Wirtschaftwunders. Der globale fordistische Boom fußt insgesamt mentalitätsgeschichtlich, von der Organisation der Produktionsabläufe und von der makroökonomischen Steuerung auf den Errungenschaften der Weltkriegsepoche. Gerade unter den Bedingungen der Krise ist für das herrschende Bewußtsein aber nicht nur das Gemeinsame an der Vergangenheit virulent Muster, die ursprünglich der besonderen „deutschen Ideologie“ entstammen, werden verstärkt verallgemeinerungsfähig. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die laufende Ethnisierung und Kulturalisierung von Konflikten. Wenn Franz Gerhard entgegenhält „die zukünftigen Kriege verlaufen mehr nach dem Modell Huntington als nach dem Modell Hitler“, dann führt diese Gegenüberstellung in die Irre. Der Name Huntington steht gerade für eine erste Adaption wesentlicher Momente der „deutschen Ideologie“ durch die westliche Führungsmacht.
Franz faßt Inklusion und Exklusion als „Bewegungsmodus kapitalistischer Zivilisation“. In dieser Nacktheit können diese Termini den Unterschied zwischen der volksgemeinschaftlichen Traditionslinie und der staatsbürgerlich universalistischen natürlich nicht fassen. Dennoch taugt dieses Begriffpaar durchaus als Ausgangspunkt, wenn die Spielarten von Exklusion und Inklusion näher eingekreist werden, und die Bestimmung nicht beim allgemeinsten und leersten Begriff stehenbleibt. Im Westen bedeutete Exklusion im wesentlichen Marginalisierung. Die „deutsche Ideologie“ hat in ihrem Streben nach volksgemeinschaftlicher Einschmelzung die andere Seite, die exkludierende Bewegung, in Eliminierung transformiert. Mit der Krisenentwicklung erlischt die reale Integrationskraft der Warengesellschaft. Gerade deshalb aber dürfte beim Versuch auf ihrem wegbrechenden Boden Integration und Identität zu hallunzinieren und sicherzustellen das eliminatorische Moment an Bedeutung gewinnen. Zugespitzt formuliert: Der antideutsche Blickwinkel droht bei allem Alarmismus letztlich zu einer Verharmlosung der Lage zu führen: Deutschland ist überall.