von Martin Hart-Landsberg
Die Diskussion über die sogenannte Finanzkrise Asiens in den Medien verzerrt eher die gegenwärtigen Vorgänge, als sie zu erhellen. Die Wahrheit ist, daß die Ursachen jener ökonomischen Krise, die nun Thailand, Malaysia und Indonesien (kurz SEA-3 genannt) und gleichermaßen Südkorea verwüstet, nicht finanzieller Natur sind. Darüber reicht die Bedeutung dessen, was gerade in diesen Ländern passiert weit über Asien hinaus, nicht zuletzt, weil sie den Bankrott der kapitalistischen Entwicklungstheorien und auch Praxis entlarvt.
Die Funktionäre des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank und die für sie arbeitenden Ökonomen haben in letzter Zeit begonnen, sich vom ökonomischen Erfolg Südkoreas zu distanzieren, weil dieser vor allem auf umfangreiche staatliche Lenkung zurückzuführen war, der des Binnenmarktes genauso wie der internationalen Aktivitäten. Diese Strategie war natürlich in unmittelbarem Widerspruch zu den Beteuerungen von IWF und Weltbank über die Segnungen der freien Marktwirtschaft. Die SEA-3-Länder Thailand, Malaysia und Indonesien übten hingegen nur geringe staatliche Kontrolle aus, waren offener gegenüber den internationalen Kräften des Marktes, vor allem den ausländischen Direktinvestitionen (ADI), und so viel näher der konventionellen Weisheit von IWF/Weltbank. Sie wurden daher von IWF und Weltbank stets als Modelle für den Erfolg des kapitalistischen Entwicklungsweges angepriesen. Unabhängig von den Unterschieden in ihren Strategien sehen sich nun jedoch alle vier Länder mit großen Problemen konfrontiert. Ihre Währungen und Börsenkurse haben im letzten Jahr die Hälfte ihres Wertes verloren, viele ihrer Banken sind insolvent; alle befinden sich in einer schrecklichen Rezession und, damit verbunden, in zunehmender Arbeitslosigkeit und Armut.
Was hier passiert, ist mehr als der Zusammenbruch einiger asiatischer Volkswirtschaften; hier dekonstruiert sich ein Entwicklungsmodell, das jene beiden wichtigsten kapitalistischen Institutionen stets als Beweis für die Tugenden einer export-orientierten freien Marktwirtschaft hinausposaunt haben.
Obwohl der IWF stets die Wirtschaftsphilosophie der SEA-3 vertreten und verteidigt hat, und sich erst zum Kritiker aufschwang, als die Krise nicht mehr länger geleugnet werden konnte, spielt er sich nunmehr abermals als Retter auf und belehrt die SEA-3 und Südkorea über die Notwendigkeit r freiwirtschaftlicher Maßnahmen, wobei er die Zusage von dringend benötigten Devisen dazu benützt, den Regierungen seine Maßnahmen aufzuzwingen. Aber diese IWF Maßnahmen werden nicht das geringste lösen. Sie werden natürlich sicherstellen, daß ausländische Kreditgeber zu ihrem Geld kommen. Aber sie werden diese Volkswirtschaften schwächer denn je und die Arbeiterschaft ärmer denn je machen. Um zu verstehen, warum dies so kommen wird, müssen wir hinter die Schlagzeilen blicken, in denen alle Schuld an den gegenwärtigen Problemen der Freunderlwirtschaft und Korruption gegeben wird, und die tatsächlichen Ursachen der Krise analysieren.
Der Ursprung der Krise
Anfang der 1980er Jahre waren die Bedingungen in Südostasien so schlecht wie überall in Afrika und Lateinamerika; ihre Exporte von Naturprodukten verloren an Wert, und sie kämpften schwer, um eine ernste Schuldenkrise zu überwinden. Um der Zahlungsunfähigkeit zu entgehen, stimmten die Regierungen von Thailand und Indonesien zu, die Strukturanpassungsprogramme des IWF durchzuführen. Diese Programme, konzipiert, um die Interessen des internationalen Kapitalismus zu fördern, verlangten eine Reduzierung des allgemeinen Lebensstandards, die Privatisierung und Deregulierung aller wirtschaftlichen Aktivitäten, vorgeblich um damit Exporte anzukurbeln und ausländische Direktinvestitionen (ADI) anzulocken, sowie die Erneuerung der existierenden ausländischen Kredite. Die Regierung von Malaysia trachtete die Einmischung des IWF abzuwenden, indem sie "freiwillig" ihr eigenes Strukturanpassungsprogramm ausführte.
Im Gegensatz zu den meisten Latinos und Afrikanern entging jedoch die Bevölkerung der SEA-3 dem Leid der Strukturanpassungsprogramme aufgrund einer für sie glücklichen internationalen Konstellation. Im September 1985 gab die japanische Regierung dem Druck der US-Regierung nach, der Japans wachsender Handelsbilanzüberschuß ein Dorn im Auge war, und wertete den Yen gegenüber dem Dollar auf. Dies bedrohte die Rentabilität der japanischen Exporte und Japans exportorientierte Wachstumsstrategie an sich. Mit Unterstützung ihrer Regierung begannen die japanischen Konzerne, ihre Produktion in großem Maßstab nach Übersee zu verlagern. Obgleich ein Großteil dieses japanischen Kapitals anfangs nach Europa und den USA floß, landete doch ein beträchtlicher Betrag in Asien, und da vor allem in den SEA-3-Staaten (denen zwischen 1985-1990 mindestens 190 Milliarden Schilling an japanischem ADI zuflossen). Diese Investitionen bedrohten die südkoreanischen und taiwanesischen Produzenten, die nun ihrerseits begannen, ihre Produktion nach Südostasien auszulagern. Dieser unerwartete Zustrom von ausländischem Investitionskapital erlaubte es Thailand, Malaysia und Indonesien (vorübergehend), ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen und dem IWF und seinen Strukturanpassungsprogrammen zu entkommen. Dank diesem von Japan eingeleiteten Regionalisierungsprozeß wurden die SEA-3 beinahe über Nacht zu wichtigen Exporteuren im Welthandel mit zahlreichen Fertigwaren. 1
Die Produktion dieser Exporte war jedoch großteils unter Kontrolle ausländischer multinationaler Konzerne2, und zwar großteils japanischer. 3 Aus der Sicht der USA dem Bestimmungsort der meisten SEA-3-Exporte schienen diese drei Länder nichts als Erfolgsgeschichten zu sein. Schließlich wuchsen sie rasch und dies durch den Verkauf international wettbewerbsfähiger Produkte. Aber obgleich dieses Wachstum die Armutsrate senkte und eine wachsende Mittelschicht hervorbrachte, zahlte die Mehrheit der SEA-3-Arbeiterschaft doch einen hohen Preis dafür.
Der Grund dafür lag vor allem darin, daß sich die SEA-3 in einem Prozeß der abhängigen Industrialisierung befanden. Dies hatte zur Folge, daß sie zwar Überschüsse im Handel mit den USA erwirtschafteten, dafür aber umso größere Defizite im Handel mit Japan (siehe Tabelle). Je schneller diese Länder zu wachsen begannen, um so größer wurden ihre Leistungsbilanzdefizite.
Angesichts dieser Handelsbilanzdefizite blieben die SEA-3-Regierungen unter ständigem Druck, mehr und abermals mehr ausländische Devisen ins Land zu holen; zu versagen hätte den Zusammenbruch ihrer Volkswirtschaften bedeutet. Deshalb zerschlugen sie alle Versuche der Arbeiterschaft, sich gewerkschaftlich zu organisieren, deshalb holten sie Gastarbeiter ins Land, um die Löhne niedrig zu halten, und deshalb setzten sie die unvernünftig rasche Ausbeutung der Bodenschätze fort. Die vom Wirtschaftswunder erbrachten Gewinne gingen hingegen großteils an die politischen und unternehmerischen Eliten. Seit 1994 gehört Thailand zu den fünf Ländern der Welt mit den größten Wohlstandsunterschieden innerhalb der Bevölkerung.
Der Zusammenbruch des freien Marktes
Die SEA-3-Länder konnten ihre wachsenden Handelsbilanzdefizite zwischen 1986 und 1990 ausgleichen, weil ständig s japanisches Direktinvestitionskapital (ADI) ins Land strömte. Doch Anfang der 1990er Jahre begann das japanische ADI in Thailand und Malaysia zu sinken, nicht etwa weil Japan Asien aufgegeben hätte, sondern weil die japanischen Konzerne ihr Interesse auf China und Vietnam richteten, Ländern mit noch geringeren Löhnen und größeren Märkten. Das japanische ADI in Asien insgesamt übertraf sogar jenes in Europa. 4
Die Veränderung von Japans Prioritäten hinterließ in Thailand und Malaysia leere Töpfe, und die Regierungen mußten sich aggressiv um andere Devisenquellen kümmern. Sie hatten "Glück": Die Rezession, verbunden mit niedrigen Zinsen in der entwickelten kapitalistischen Welt, ließ bei den großen Anlagefirmen und internationalen Banken gesteigertes Interesse an den "aufkeimenden" Märkten von Südostasien entstehen. Um ja nichts dem Zufall zu überlassen, umwarben Thailand und Malaysia (wie auch Indonesien und die Philippinen) die Investoren um die Wette, indem sie auf die Kontrolle der Devisenströme verzichteten, ihren Aktien- und Anleihenmarkt für ausländische Investoren öffneten, ihre Währungen fix an den Dollar koppelten, die Zinsrate erhöhten und neue Möglichkeiten für die ausländischen Banken schufen, direkt in Dollar gezeichnete Darlehen an lokale Geschäftsleute zu vergeben. Gigantische unbeständige Kreditströme flossen auch tatsächlich in die Region, vor allem nach Thailand. 5 Die hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahre konnten so aufrecht erhalten werden, allerdings abermals um einen hohen Preis: Thailands Auslandsverschuldung etwa wuchs von 265 Milliarden Schilling im Jahr 1989 auf 1120 Milliarden Schilling im Jahr 1996.
Man muß hinzufügen, daß IWF und Weltbank keinerlei Beschwerden über diese Entwicklungen hatten (die sehr wohl die Freunderlwirtschaft und Korruption förderte und belohnte). Zuversichtlich zogen sie die Schlußfolgerung, daß, solange diese Finanztransaktionen von privater Hand und nicht von öffentlichen Funktionären getätigt würden, das Spiel der Kräfte am Markt schon dafür sorgen würde, daß sich angemessene Schuldenpegel einstellten und die Mittel effizient genützt würden.
Wie das thailändische Beispiel zeigt, floß das geliehene Geld aber nicht in produktive Investitionen. Thailändische Finanzgesellschaften und Banken verliehen einen Großteil des Geldes an Baugesellschaften weiter. Ende 1995 gab es mehr fertige Geschäftsräume und Luxuswohnungen, als Kunden, die sich diese auch leisten konnten. Anfang 1997 waren die Hälfte der im Bausektor vergebenen Darlehen uneinbringbar. Thailändische Finanzgesellschaften und Banken begannen bei ihren Auslandskrediten in Zahlungsverzug zu geraten.
Die ausländischen Investoren wollten nun nur eines: raus aus Thailand. Ihre Sorge wuchs angesichts der Zweifel, ob die thailändische Zentralbank überhaupt genug Dollar besaß, um die Entnahmen der Investoren zum festgelegten starren Wechselkurs durchführen zu können. Diese Sorge wiederum erhielt Auftrieb durch den Umstand, daß der thailändischen Exportinitiative der Dampf ausging; die Wachstumsrate bei Exporten sank von 26 Prozent im Jahr 1995 auf 1 Prozent im Jahr 1996. Kaum begannen die Investoren jeder schneller als der andere ihre Aktien und Anleihen los zu werden (und damit die entsprechenden Märkte zu ruinieren), sowie ihre Dollardarlehen aufzukündigen, wurde Gewißheit, daß die Reserven der Zentralbank dafür nicht ausreichen würden. Rasch begannen nun auch die Spekulanten, sich am Fall der thailändischen Währung, des Baht, zu beteiligen. Die Regierung erhöhte den Eckzinssatz und verpulverte ihre Reserven, konnte aber den Dollarrausch nicht stoppen. Am 2. Juli 1997 gab die thailändische Regierung den fixen Wechselkurs auf, der Baht fiel um 18 Prozent allein an diesem einen Tag. Dieser Absturz stimulierte Verkäufe und Spekulation, und drückte die einheimischen Börsen- und Wertpapierkurse, wie auch denBaht, weiter nach unten.
Während Thailand am Prüfstand stand, begannen Investoren und Spekulanten ihre Aufmerksamkeit auch den anderen Ländern der Region zuzuwenden. Indonesien, Malaysia und die Philippinen hatten sich ebenfalls auf umfangreiche Auslandsschulden eingelassen, hatten große und wachsende Leistungsbilanzdefizite erwirtschaftet, hatten ihre Währungen an den Dollar gebunden, und hatten ihren Finanzgesellschaften und Banken erlaubt, ebenfalls viel zu viele Darlehen an einen bereits überschwemmten Immobilienmarkt zu vergeben. Wie nicht anders zu erwarten, begannen Investoren und Spekulanten, ihr Geld auch aus diesen Ländern abzuziehen. Die Börsenkurse fielen, und noch bevor der Monat Juli zu Ende war, waren der philippinischen Peso, der malaiischen Ringgit, und die indonesische Rupiah in der Spirale abwärts.
Um einen vollständigen Zusammenbruch ihrer Volkswirtschaften abzuwenden, mußten Thailand (im August 1997) und Indonesien (im Oktober 1997) den IWF um Hilfe bitten, und im Gegenzug das Strukturanpassungsprogramm des IWF akzeptieren. Malaysia, wie schon früher, verschrieb sich sein eigenes Strukturanpassungsprogramm.
Der Zusammenbruch des staatlich gelenkten Kapitalismus
Südkoreas Krise scheint zwar von den Ereignissen in Südostasien ausgelöst worden zu sein, hat aber andere Hintergründe. 6 Im Unterschied zu den SEA-3- erlebte Südkorea eine lang anhaltende Periode einheimischer Industrialisierung, bei der ADI nur eine untergeordnete wenn auch wichtige Rolle spielten. Koreas Weg war ein Gewaltmarsch unter Leitung einer Militärdiktatur, aber er hob den Lebensstandard. Dieser Erfolg beruhte großteils auf einer Wachstumsstrategie, deren Prinzipe eine staatliche Lenkung der wirtschaftlichen Angelegenheiten waren. Sie beinhalteten die Unterdrückung der Arbeiterschaft und waren darauf angewiesen, daß Japan bereit war, Technologie, Halbfertigwaren und Maschinen an Südkoreas große Konglomerate (Chaebol) zu verkaufen und daß die USA bereit waren, dies alles politisch und finanziell zu unterstützen und ihren Markt für Südkoreas Exporte zur Verfügung zu stellen. Es waren divergierende Kräfte, die Koreas Wachstumsstrategie gestalteten, und die dann auch entsprechende Widersprüche hervorbrachten. 7
Diese Wachstumsstrategie begann Ende der 1980er Jahre zusammenzubrechen als Folge ihres eigenen Erfolges. Südkorea erzielte die ersten Handelsbilanzüberschüsse in den Jahren 1986-1989. Diese Exporterfolge bedrohten die japanischen Produzenten, die daraufhin begannen, den südkoreanischen Chaebol unverzichtbare Produktionsmittel vorzuenthalten. Die Überschüsse veranlaßten ferner die US-Regierung, von Südkorea eine Aufwertung ihrer Währung zu verlangen, um ihre Produkte zu verteuern. Außerdem verlangten die USA eine Öffnung des koreanischen Binnenmarktes für US-Güter und -Firmen. Nicht zuletzt gaben die Handelserfolge den südkoreanischen Chaebols mehr Selbstbewußtsein und Unabhängigkeit von einem schwächer werdenden Staat, und dies gestattete ihnen, ihre Profite für spekulative Zwecke statt für produktive Investitionen einzusetzen. In dieser Periode des ökonomischen "Erfolges" wuchs auch die aufgestaute Unzufriedenheit der Arbeiter, die davon noch wenig gesehen hatten. Die gewerkschaftlichen Aktivitäten explodierten und es kam zu beachtlichen Lohnerhöhungen.
Das Zusammentreffen all dieser Faktoren untergrub rasch Südkoreas Exportinitiative. Und die Situation wurde durch die wachsende Konkurrenz der in den SEA-3-Ländern stationierten japanischen Firmen noch weiter verschlimmert. Südkoreas Leistungsbilanzdefizit verdreifachte sich in nur einem Jahr und betrug 1996 300 Milliarden Schilling; im selben Jahr fielen die Profite der obersten 30 Chaebol um 90 Prozent. 8
Der Staat versuchte daraufhin, die Wettbewerbsfähigkeit und die Profite der Chaebol zu retten, indem er die Arbeiterschaft angriff, verfehlte jedoch sein Ziel, als die Arbeiter 1996-1997 mit einem Generalstreik antworteten. Einige der größten Chaebol mußten schließlich 1997 den Konkurs anmelden und dies nährte Zweifel an der Stabilität anderer Chaebol und am südkoreanischen Bankwesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Südkorea eine Auslandsverschuldung von mehr als 1400 Milliarden Schilling angesammelt, schlimmer noch von dieser Summe waren binnen Jahresfrist 880 Milliarden Schilling zur Zahlung fällig.
Als die Finanzkrise über Südostasien fegte, begannen ausländische Investoren sofort, auch die Kreditwürdigkeit von südkoreanischen Firmen und Banken anzuzweifeln, und ob denn die schwindenden Devisenreserven der Zentralbank ausreichen würden. Sie begannen Aktien zu verkaufen und Darlehen fällig zu stellen; Mitte November 1997 befand sich der Won (die südkoreanische Währung) in freiem Fall, und Südkorea war mit einer gravierenden Schuldenkrise konfrontiert. Widerwillig mußte die südkoreanische Regierung Anfang Dezember das IWF-Programm akzeptieren.
Obgleich die südkoreanische Erfahrung zeigt, daß die staatliche Lenkung der Wirtschaftsaktivitäten effizient sein kann, zeigt sie auch, daß staatlich gelenkte, exportorientierte Wachstumsstrategien ihre eigenen fatalen Widersprüche enthalten. Es ist vor allem notwendig zu erkennen, daß die sozialen, politischen, und ökonomischen Kosten der Industrialisierung der Mehrheit der Südkoreaner einen außerordentlich hohen Preis abverlangte, und dies selbst in Zeiten, als das Land hohe Wirtschaftswachstumsraten erzielte.
Die Lehren aus der Krise
Malaysias Premierminister Mahathir war rasch bei der Hand, die Schuld an der Krise den westlichen Spekulanten zuzuschreiben und er forderte strengere Kontrollen der Kapitalzirkulation (Tobin Steuer). Zweifellos haben Spekulanten eine entscheidende Rolle dabei gespielt, die Währungen in den Keller zu treiben und zweifellos sind Kapitalkontrollen nützlich. Aber sie greifen zu kurz. Denn die Chronologie der Ereignisse macht deutlich, daß Mahathir das Wesentlichste übersah. Die Wurzel der Krise liegt im Charakter der asiatischen Wachstumsstrategie selbst. Die südasiatischen Regierungen entschieden aus eigenen Stücken, die Finanzmärkte zu öffnen und auf Kontrollen zu verzichten, denn sie benötigten Mittel, um ihr wachsendes Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Diese Defizite aber waren großteils durch die Dependenz ihrer Exportindustrie bedingt (und zusätzlich durch die Konsumbedürfnisse der Reichen).
Diese Handelsprobleme wurden umso schlimmer, als immer mehr Länder Asiens versuchten, dieselben Grundgüter zu exportieren: petrochemische Produkte, Konsumgüter, Autos und Computerchips. Dieser Wettbewerb zwang China 1994 und Japan 1995, ihre Währungen abzuwerten, was den SEA-3 und Südkorea schadete. Schlimmer noch die regionale Überproduktion führte 1996 zu fallenden Exportpreisen und noch stärker fallenden Wachstumsraten (für Thailand, Malaysia, die Philippinen und Südkorea).
Kurz gesagt, in Wahrheit kann die exportorientierte Wachstumsstrategie der Vergangenheit kein nachhaltiges nationales Wachstum mehr garantieren, egal ob mit oder ohne Kontrollen der Kapitalzirkulation.
Wie schon gesagt, gibt der IWF die Schuld an der asiatischen Krise der Freunderlwirtschaft und Korruption und behauptet, daß ein freier Markt und tatsächlich unabhängige öffentliche Kontrollbehörden (Schlagwort Demokratiedefizit) die Banken daran gehindert hätte, rücksichtslos Geld an befreundete, aber schlecht geführte Firmen für völlig undurchdachte Bautätigkeit und Investitionen zu vergeben. Obgleich Freunderlwirtschaft und Korruption tatsächlich ein ernstes Problem sind, zeigen die Ereignisse, daß die Krise in wesentlich entscheidenderem Maß auf das Konto der von den Regierungen eingeleiteten Deregulierung des Finanz- und Produktionssektors geht (die dann noch zusätzlich Freunderlwirtschaft und Korruption ermunterte). Außerdem liegen die Ursachen in Asiens Strukturen der Produktion und nicht am Finanzwesen.
Noch wichtiger ist es zu erkennen, daß die Strukturanpassungsprogramme des IWF nichts dazu beitragen werden, die asiatische Wirtschaftsentwicklung anzukurbeln.
Die asiatischen Regierungen stellten fest, daß sie nicht genug Devisen besaßen, um es ihren Konzernen und Banken zu ermöglichen, die ausländischen Gläubiger zu bezahlen. Der IWF war bestrebt, daß die asiatischen Eliten nicht zahlungsunfähig wurden, und bot deshalb Notkredite an. Als Gegenleistung dafür und für die Aussicht, mehr Kredite zu erhalten, akzeptierten die Regierungen von Thailand, Indonesien und Südkorea die Strukturanpassungsprogramme des IWF, deren einziges Ziel es ist, daß sich die Zielländer noch mehr als bisher für die internationale Geschäftswelt öffnen, und daß ihre einzige und oberste Priorität zu sein hat, genug Devisen zu erwirtschaften, um die internationalen Schulden begleichen zu können.
Angeblicher Zweck dieser Programme ist, die internationalen Geldverleiher zu ermutigen, neue Kredite zu vergeben, wodurch eine längere Rezession/Depression und soziales Chaos vermieden und die herrschenden Regime stabilisiert würden. Die Strukturanpassungsprogramme des IWF verpflichten deshalb die Regierungen zu einer Hochzinspolitik (um Mittel ins Land zu holen und die Wechselkurse zu verteidigen);
zu einer Kürzung der Ausgaben und Wachstumsverzicht (um die Einkommen und damit die Importe zu reduzieren);
dazu, Sozialleistungen einzustellen, Arbeitsrechte auszuhöhlen und Gewerkschaften zu schwächen (um die Lohnkosten zu senken und dadurch Exporte anzukurbeln);
- und zur Privatisierung, Steuersenkung, r Deregulierung und völliger Gleichstellung ausländischer Eigentümer mit Inländern (um Auslandsinvestitionen anzulocken).
Wie wir gesehen haben, ist die gegenwärtige Krise das Ergebnis einer sich vom Ausland abhängig machenden Exportstrategie. Statt jedoch auf eine radikal andere Wirtschaftsstrategie umzuschwenken, besteht der IWF nur auf einer noch größeren Abhängigkeit dieser Länder von Exporten und ausländischen Konzernen. Im Zuge dieses Prozesses werden die Einkommen sinken und die Arbeits- und Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung untergraben werden.
Zusätzlich wird diese "Lösung" weltweit die Handelsbilanzen noch unausgewogener machen und Reaktionen provozieren, die die Weltwirtschaft unausweichlich näher an eine krisenhafte Überproduktion führen.
Die Geschichte zeigt, daß der "Neoliberalismus" des IWF nicht funktioniert, außer vielleicht vordergründig im Sinne einer Verteidigung kapitalistischer Interessen. Doch auch alternative kapitalistische Strategien, wie zum Beispiel jene, denen Südkorea gefolgt ist, haben versagt und waren aufgrund ihrer eigenen inneren Widersprüche den Herausforderungen nicht (mehr) gewachsen.
Es ist also höchste Zeit für kühne Gedanken über institutionelle und strukturelle Reformen, die nötig sein werden, um demokratischere und mehr auf Binnenmärkte orientierte Wirtschaftsstrukturen zu schaffen, die auch die öffentlichen Bedürfnisse berücksichtigen, und die mit anderen Volkswirtschaftsräumen durch fair verhandelte Handelsabkommen verbunden sind.
Den Arbeitern in Asien stehen zweifellos harte Zeiten bevor. In Japan steigt die Arbeitslosigkeit, die Löhne fallen und Arbeitsbedingungen verschlechtern sich, alles als Folge der Regionalisierungsstrategie des japanischen Kapitals (seinerseits Folge des Wirtschaftskrieges zwischen Japan und den USA). In Thailand, Malaysia und Indonesien nimmt die Armut ebenfalls zu, und zwar als Folge ihrer Eingliederung in das regionale Akkumulationsmodell, das mittels japanischer Investitionen geformt wird. Auch die Arbeiter Südkoreas sind mit denselben Problemen konfrontiert, denn auch Südkoreas Wachstumsstrategie ist dependent und unterliegt dem Druck der Regionalisierung. Allmählich organisiert sich jedoch Widerstand gegen die Krise und die IWF-Strategie, die der Arbeiterschaft alle Kosten aufbürdet. Die IWF-Auflagen, zum Beispiel, die in Indonesien die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben haben, haben damit entscheidend zur Rebellion und zum Sturz Suhartos beigetragen. Und sie haben im Juli 1998 zu einem Generalstreik in Korea geführt. Auch die Voraussetzungen, eine regionale Solidarität zu organisieren, scheinen gegeben.
Es besteht daher kein Grund, das Vertrauen zu verlieren, daß zum Kapitalismus Alternativen existieren, und daß wir gemeinsam in der Lage sind, etwas viel besseres zu schaffen. Wir müssen jedoch in unserem Denken die Hoffnungen auf jede Form von Staatskapitalismus und auf exportorientierte Wachstumsstrategien überwinden, etwa indem wir die Debatten und Kämpfe, die zur Zeit in Asien stattfinden, verfolgen, unterstützen, und von ihnen lernen.
Martin Hart-Landsberg ist Professor für Ökonomie am Lewis and Clark College in Portland, Oregon USA. Der Essay beruht auf einem Vortrag, den er im November 1997 am Peoples Summit on APEC in Vancouver, Canada, gehalten hat und der vom Autor für „Weg und Ziel“ überarbeitet wurde (eine davon abweichende Textfassung wurde in der Zeitschrift „Against the Current“ Heft 73 veröffentlicht). Vor kurzem erschien sein Buch Korea: Division, Reunification and US Foreign Policy, New York, Monthly Review Press (1998).
Anmerkungen
1 Martin Hart-Landsberg / Paul Burkett, Contradictions of Capitalist Industrialization in East Asia: A Critique of "Flying Geese" Theories of Development, „Economic Geography“ 74(2) (1998).
2 In Malaysia betrug Ende der 1980er Jahre der Anteil an den Exporten, die von Firmen unter ausländischer Kontrolle stammten: 99 Prozent bei Elektronik, 90 Prozent bei Maschinen und elektrischen Geräten, über 80 Prozent bei Gummiprodukten und 75 Prozent bei Textil- und Bekleidungswaren. [Mitchell Bernard / John Ravenhill, Beyond Product Cycles and Flying Geese: Regionalization, Hierarchy, and the Industrialization of East Asia, „World Politics“ 47(2) (1995): 196. ]
3 Der japanische Aktienanteil am ADI des Fertigungssektors betrug 1992 73 Prozent in Malaysia und 68 Prozent in Thailand. 1994 waren rund 7 Prozent aller thailändischen Fabriksarbeiter von japanischen Firmen angestellt. Der Matsushita Elektrikkonzern alleine hatte in Malaysia einen Anteil von 4-5 Prozent am BIP. [Chai Siow Yue, Foreign Direct Investment in ASEAN Economies, „Asian Development Review“ 11(1) (1993): 84; Walter Hatch / Kozo Yamamura, Asia in Japans Embrace, Cambridge, UK: Cambridge University Press (1996), S. 11. ]
4 Das Investitionsvolumen Japans in Thailand sank von 30 Milliarden Schilling im Jahre 1990 auf 7 Milliarden Schilling im Jahre 1993, doch Asiens Gesamtbedeutung stieg. Im Jahr 1994 betrug das japanische ADI: 220 Milliarden Schilling in den USA (davon nur 60 Milliarden Schilling im Produktionssektor), 122 Milliarden Schilling in Asien (davon mit 66 Milliarden Schilling sogar mehr im Produktionssektor als in den USA), und 78 Milliarden Schilling in Europa (früher an zweiter Stelle). [Edith Terry, An East Asian Paradigm? , „AtlanticEconomic Journal“ 24(3) (1996): 189-90. ]
5 Die Portfolioinvestitionen (also der Ankauf von thailändischen Aktien und Wertpapieren, vor allem durch US Versicherungs- und Pensionsfonds) stiegen netto von jährlich durchschnittlich 8 Milliarden Schilling im Zeitraum 1985-1989 auf 70 Milliarden Schilling im Jahre 1993, und noch mehr in den folgenden Jahren. Noch viel umfangreichere Geldsummen wurden durch die Bangkok International Banking Facility ins Land geholt, die 1993 gegründet wurde. Sie ermöglichte es thailändischen Finanzierungsgesellschaften und Banken in nur drei Jahren nicht weniger als 630 Milliarden Schilling von ausländischen (meist japanischen) Banken in Bangkok zu leihen. [Walden Bello, Addicted to Capital: The Ten Year High and Present Day Withdrawal Trauma of Southeast Asias Economies, „Focus-On-Trade“ (Focus on the Global South, Bangkok, Thailand) Heft 20 (1997). ]
6 Eine ausführlichere Analyse der koreanischen Situation findet sich im Artikel von Brenner et al. , Die Reichsreform des IWF in Ostasien, „Weg und Ziel“, Heft 5/1998.
7 Martin Hart-Landsberg, Rush to Development: Economic Change and Political Struggle in South Korea, New York: Monthly Review Press (1993).
8 Darren McDermott / Michael Schuman, South Korea Economy Feels the Pressure, „Wall Street Journal“ November 3 (1997): A18.