Die Clinton-Doktrin

von Boris Kagarlizky

Die Pax Americana, seit dem Zerfall der Sowjetunion ein weltumspannender Zustand, entwickelt sich zum Ende dieses Jahrhunderts zu einer Doktrin. Doch ihre Durchsetzung stößt auf immer heftigeren Widerstand — weltweit.

Seit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der CSSR 1968 sprachen westliche Journalisten von der "Breschnjew-Doktrin". Persönlich hatte Leonid Iljitsch natürlich keine Doktrin erfunden, sie kam irgendwie von selbst. Der Sinn der "Doktrin" war simpel, die Souveränität der dem Warschauer Vertrag zugehörigen Staaten zu begrenzen. Der große sowjetische Bruder hatte sich im Prinzip zwar nicht in die inneren Angelegenheiten der Staaten des Warschauer Vertrages einzumischen; wenn dort etwas schief gelaufen war, dann bestimmte er selbst, wer und wie zu bestrafen war. Dafür war keine Sanktion der internationalen Gemeinschaft nötig.

Inzwischen ist Breschnjew tot, die Tschechoslowakei zerfallen, auch die Sowjetunion und den Warschauer Pakt gibt es nicht mehr. Unverändert ist nur der Wunsch des Großen Bruders geblieben, seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Da heute nur eine Supermacht übrig geblieben ist, hat sich der US-Präsident das Recht angeeignet, souveräne Staaten seiner Kontrolle zu unterwerfen und nach Belieben zu bestrafen. Er agiert heute wie Breschnjew, aber nicht nur in Osteuropa, sondern weltweit. So ist an die Stelle der Breschnjew-Doktrin die Clinton-Doktrin getreten.

Als die Amerikaner Irak bombardierten, konnte man noch alles mit einem Sex-Skandal in Washington und der schlechten Laune des Präsidenten erklären. Von außen dürfte das sogar etwas komisch ausgesehen haben, den Einwohnern von Bagdad und den anderen irakischen Städten war jedoch nicht zum Lachen zumute. Mit dem Beginn der Luftangriffe gegen Jugoslawien ist klar geworden, daß es nicht mehr um den Versuch eines ertappten Schürzenjägers geht, die Hochachtung seitens der Nation zurückzubekommen und dafür einige hundert oder tausend Nichtamerikaner zu töten. Wir haben es vielmehr mit einem einheitlichen politischen Konzept zu tun, das konsequent mit Leben zu erfüllen ist.

Während Louis XIV. sagte "der Staat bin ich", stellen die USA heute folgende Grundregel auf: "die Weltgemeinschaft sind wir". Was die Menschen anderer Länder und selbst deren Regierungen denken, ist nicht relevant. Die USA beschließen alles für sie. Grundsätzlich entfällt dabei der Bedarf an einer Weltorganisation wie den Vereinten Nationen. Die UNO ist gegenwärtig weitgehend ein Instrument der amerikanischen Politik. Im Rahmen der Clinton-Doktrin jedoch wird sie unnütz, weil sie die Beschlußfassung bremst.

Die demokratischen Abläufe in den Ländern des Westens sind ebenfalls überflüssig. Die zweite Regel der Clinton-Doktrin besagt: Wenn die öffentliche Meinung in einem Land der Meinung des US-Präsidenten widerspricht, dann soll jede wahrhaft demokratische Regierung die Meinung ihrer Bürger zum Teufel schicken und ihrer Bündnispflicht nachkommen.

Die dritte Regel lautet: Die USA treten gleichzeitig als Täter, Ankläger, Richter und Vollstrecker auf. Der Weltleader ist durch keine rechtlichen Formalitäten gebunden. Was "moralisch" ist und was nicht, entscheidet der amerikanische Präsident. Je mehr Bomben und Flugzeuge ein Staat hat, desto höher ist dessen "moralische Autorität". Die Führer der Vereinigten Staaten deklarieren immer wieder ihre Bereitschaft, böse Diktatoren zu bestrafen. Seit dem Fall des Präsidenten von Panama, General Noriega, den die Amerikaner wegen Drogenhandels gestürzt und eingesperrt hatten, ist eine sonderbare Gesetzmäßigkeit zu beobachten. Alle ausländischen Führungspersönlichkeiten, die von Amerika öffentlich geahndet werden, waren in bestimmten Etappen ihrer Karriere politische Partner der USA. Noriega verteidigte ihre Interessen in Lateinamerika, Washington bedurfte des Regimes von Saddam Hussein als Gegengewicht zum islamistischen Iran, es stützte sich auch auf Milo"sevi“c, als es darum ging, die bosnischen Serben zur Annahme des durch die US-Diplomatie diktierten Dayton-Abkommens zu zwingen. Alle, die durch Amerika bestraft werden, sind selbstverständlich die schlimmsten Menschenrechtsverletzer. Aber zu ihnen zählen auch jene, für die sich Amerika stark macht. Die Politik Serbiens im Kosovo hatte niemanden bewegt, als die Stärkung der westlichen Positionen in Bosnien auf der Tagesordnung stand. Die Türkei darf , ethnic cleansing‘ betreiben, da sie ein NATO-Mitglied ist. Die Regierung der USA darf Bomben wahllos abwerfen, ohne dafür moralisch, politisch und rechtlich Rede und Antwort stehen zu müssen — so lange die Opfer der Bombardements keine amerikanischen Steuerzahler sind.

Die doppelten Standards

Demokratisch sind jene, die die amerikanischen Chefs als gut befinden. Nehmen wir Milosevic als Beispiel. Er erhielt die meisten Stimmen, an den Wahlen nahm auch die Opposition teil, die im wesentlichen durch den Westen finanziert wurde. Hatten die Serben eine falsche Wahl getroffen? Es kann durchaus so gewesen sein. Aber das war ihre Wahl, und Amerika hat damit nichts zu tun. Woher kommt übrigens die Gewißheit, daß die Amerikaner Recht hatten, als sie Clinton zum Präsidenten machten? Ich persönlich hege diesbezüglich erhebliche Zweifel.

Laßt uns ehrlich sein: das Regime von Milosevic ist alles andere als ein Muster der Demokratie. Der jugoslawische Präsident ist nach seiner Psyche und Kultur ein Autokrat. Nichtsdestoweniger existieren in Serbien legale oppositionelle Parteien. Die unabhängige Presse konnte, mindestens vor den amerikanischen Luftangriffen, frei vertrieben werden, es gab auch ein oppositionelles Fernsehen.

In Rußland gibt es, zum Beispiel, keinen einzigen überregionalen Fernsehsender, der durch die Opposition kontrolliert wäre. Es gibt auch keine einzige Nachrichtensendung, die mit den Kommunisten sympathisiert hätte. Wahlfälschung ist in den russischen Regionen längst normale Praxis geworden. (Die jüngsten Unruhen in Karatschajewo-Tscherkessien sind nur in einer Hinsicht der Ausnahmefall — hier hatten sich die Wähler, anders als in vielen "reicheren" Regionen, mit der Verdrehung nicht abgefunden. )

An all dem haben die Washingtoner Moralisten kein Interesse, denn Wahlfälschungen, Verstöße gegen das demokratische Prozedere sowie andere "kleine Tricks" sind durchaus zu entschuldigen, soweit sie den "unseren" zugute kommen, das heißt zum Wohle der Demokratie geübt werden. Ein glänzendes Beispiel solcher "doppelter Standards" ist die westliche Rezeption zur Auflösung der Parlamente in Rußland und Weißrußland. Jelzin jagt das Parlament auseinander und kriegt dafür Beifall. Lukaschenko wiederholt als ein eifriger Provinzler das russische Szenario und wird dafür zum Diktator abgestempelt. In Minsk wurde allerdings während der Auflösung des Parlaments niemand getötet. Umso schlimmer für die Belorussen. Sie konnten in ihrem hoffnungslosen Provinzialismus nicht mal interessante Aufnahmen für CNN organisieren.

Lukaschenko hatte es nicht verstanden: um sich kleine Streiche leisten zu dürfen, sollte man erst der Administration in Washington zu gefallen wissen. Am besten man privatisiere alles, was einem ins Auge fällt. Dann wird man eine reiche und energische Lobby in der amerikanischen Hauptstadt für sich gewinnen. Im schlimmsten Falle genügt es, ständig Solidarität mit der US-Politik zu erklären, wie das etwa die Regierung von Usbekistan macht. Um den Preis proamerikanischer Erklärungen werden ihr nicht nur politische Verfolgungen, sondern auch fehlende Privatisierung und volle Ignoranz der Rezepte des Internationalen Währungsfonds vergeben.

Auch ein Genozid kann verzeihlich sein. Wenn die türkischen Behörden die Kurden massakrieren, dann ist das natürlich unangenehm, aber zulässig, denn sie tun es im Sinne der Stärkung der südwestlichen NATO-Flanke. In Ruanda darf man überhaupt fast die ganze Bevölkerung vernichten, das Land gehört ja nicht zum Verantwortungsbereich der NATO. Im Kosovo sieht es anders aus. Die Präsenz der serbischen Truppen und Polizeikräfte auf dem Territorium Serbiens schwächt zweifelsfrei die südwestliche NATO-Flanke, und damit soll ein für allemal Schluß gemacht werden.

Dummer Milosevic

Dummer Milosevic! Er hätte rechtzeitig einen Aufnahmeantrag in die NATO zusammen mit Bulgarien, Polen und Ungarn stellen sollen. Dann hätte auch niemand das albanische Problem im Kosovo beachtet!

Die amerikanischen Liberalen der neunziger Jahre maßen sich das Recht an, jedes ihnen nicht genehme Regime als undemokratisch zu erkären. Das ist auf eine gewisse Weise folgerichtig. Ist Amerika eine Demokratie? Ja, ohne Zweifel. Dann wissen die Amerikaner, was Demokratie ist. Und sie dürfen daher entscheiden, wer ein Demokrat ist und wer nicht. In diesem Syllogismus ist lediglich ein Umstand unberücksichtigt geblieben: im Unterschied zum römischen Papst, der ex cathedra auftritt, ist der US-Präsident keinesfalls grundsätzlich unfehlbar.

Hier entdecken wir eine verblüffende Übereinstimmung zwischen der Breschnjew-UdSSR und Clinton-Amerika. Die Macht begeht nie Fehler. Genauer gesagt, sie erkennt ihre Fehler nie an. Sie hält sich daran fest und versinkt damit immer tiefer im Sumpf der aussichtslosen Politik. Es fällt leichter, die Fehler zu vergrößern, als zu versuchen, diese zu beheben.

Wie in der Sowjetunion der Breschnjew-Zeit, ist die gegenwärtige politische Elite in Amerika darin überzeugt, daß aus ihrer immensen militärischen, wirtschaftlichen und propagandistischen Kraft auch ihr uneingeschränktes Recht auf Irrtum resultiert. Jeder undurchdachte Beschluß läßt sich trotzdem durchführen, wenn man an die Sache zusätzliche Ressourcen anschließt. Schlimmstenfalls würde der Propaganda-Apparat eine Niederlage als einen Sieg und sinnlose Bombardements als einen Triumph der entschlossenen Kraft darstellen.

Amerika ist auf dieselbe Weise ein moralischer Weltleader, wie die Breschnjew-Sowjetunion der Führer der "fortschrittlichen Menschheit" war. Das ist der fürsorgliche und strenge Vater, dem das Recht zusteht, zu fördern oder zu bestrafen.

Der US-Präsident entscheidet über die Frage, wer, wie, wann und wofür zu bestrafen ist — abhängig von der aktuellen politischen Konjunktur. Je weniger Logik desto stärker die Position der USA als Führungsmacht. Denn alle müssen sich zu jeder Zeit bedroht fühlen.

Und schließlich die letzte Regel: Die technologische und militärische Überlegenheit der USA befähigt sie dazu, als Führungsmacht völlig straffrei zu agieren. Diese Regel setzt die Ausführung aller anderen voraus. Sieger kommen nie auf die Anklagebank, und die Welt hat den Willen des Siegers zu akzeptieren. Die Verbündeten wissen, daß sie gut beraten sind, den Triumph der Führungskraft zu teilen, als den Verdacht der Illoyalität auf sich zu lenken. Die Opfer der NATO-Aggression sind sich letztlich im klaren darüber, daß Widerstand zwecklos ist.

Der Sieg läßt alles abschreiben. Die humanitäre Katastrophe im Kosovo kann allein auf Übergriffe der Serben zurückgeführt werden. Das geht umso leichter, da das Vorgehen der serbischen Polizei im Kosovo wirklich repressiv war, allerdings nicht so repressiv, um den Exodus der ganzen Bevölkerung, einschließlich der Serben, verursacht zu haben. Die durch "präzise" Angriffe beschädigten Krankenhäuser und Schulen können als Militärobjekte bezeichnet und die Klagen der Betroffenen als Feindpropaganda abgetan werden. Das alles funktioniert allerdings nur, so lange es keine Zweifel am Sieg der Supermacht gibt. Und was geschieht, wenn solche Zweifel aufkommen?

Afghanistan und Kosovo

Der Doktrin von William Clinton haftet dasselbe Problem an, wie jener von Leonid Breschnjew. Sie pervertiert und verwirrt auch jene, die sie predigen. Die Pessimisten warnten davor, daß der Balkan für sie zum zweiten Vietnam werden könnte. Sie täuschten sich. Es kommt nicht zum zweiten Vietnam, sondern zu einem europäischen Afghanistan.

Den Krieg in Vietnam konnte man verlieren. Die Vereinigten Staaten waren sich zu Kriegsbeginn über die Möglichkeit der Niederlage völlig im klaren. Der Krieg in Afghanistan dagegen markierte für die Sowjetunion den Beginn einer ideologischen und politischen Niederlage. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan war ein Produkt der festen Überzeugung des Breschnjewschen Politbüros, völlig straffrei agieren zu können, was durch die Erfahrung von 1968 in der Tschechoslowakei bestätigt worden war. Anders als die zivilisierten Tschechen, die wußten, daß der Kampf gegen eine Supermacht sinnlos ist, beherrschten die ungebildeten Afghanen die Grundlagen der Geopolitik nicht. Sie leisteten daher Widerstand. Und da kam das Unangenehmste ans Tagelicht: die Supermacht erwies sich als viel schwächer als angenommen. Sie war zu einem dauerhaften Kampf nicht fähig. Indem die Supermacht Schwäche zeigte, war auch ihre psychologische und "moralische" Überlegenheit dahin. Das Unmögliche wurde möglich, das Große schlug in Komik um.

Die Clinton-Doktrin ereilt in Jugoslawien das Schicksal der Breschnjew-Doktrin in Afghanistan. Der Widerstand der Serben veränderte die Spielregeln von Grund auf. Eine Kette von Mißerfolgen auf dem Gefechtsfeld, auch im Umgang mit der UÇK, provoziert eine politische Systemkrise. Wenn die USA nicht mehr als unverwundbar gelten, dann wird auch ihre Sonderstellung in der Welt in Frage gestellt, die sie dazu befähigte, das internationale Recht zu ignorieren. Dann beginnt sich jeder seiner Rechte zu besinnen und zu wehren. Bekanntlich kann keine Revolte erfolgreich enden, sonst würde sie anders genannt werden. Das gilt auch für erfolglose "humanitäre Missionen". Wenn sie scheitern, können sie durchaus als Agression und internationaler Terrorismus qualifiziert werden.

Die Kosovo-Krise ist in Wirklichkeit ein Produkt des Friedens in Bosnien. Während man dort geschossen hatte und gegen Jugoslawien eine Blockade verhängt wurde, floß eben über Albanien und Kosovo ein mächtiger Strom von Schmuggelgut. Hier wurde alles verschoben — von Zigaretten und Drogen bis zu Waffen. Damals entstand entlang der Grenze zwischen Albanien und Serbien eine "graue Zone", die einen günstigen Nährboden für künftige Feldkommandeure der UÇK darstellte. Die Kämpfer gegen die serbische Unterdrückung von morgen begannen ihre Karriere damit, die Serben mit allem, was für die Fortführung des Krieges notwendig war, zu versorgen. Der Frieden in Bosnien stürzte nicht nur die Finanzpyramiden in Albanien, er nahm vielen energischen jungen Männern ihren Job. Als im Kosovo die ersten Schüsse fielen, hielten das albanische Politiker, die für die Befreiung der Provinz mit friedlichen Methoden gekämpt hatten, anfangs sogar für eine serbische Provokation. Der demokratisch gewählte Leader der Kosovo-Albaner, Ibrahim Rugova, mußte feststellen, daß er die Lage nicht mehr kontrollierte. Von heute auf morgen wurde alles durchkreuzt, was über Jahre hinweg durch gewaltfreien Widerstand erreicht worden war. Jene Vertreter der albanischen Gemeinde, die für ihr Anliegen auf demokratischem Weg streiten wollten, verwandelten sich in bewegliche Zielscheiben. Jeder, der ein Amt in der Administration besetzte, sei es auch in der sozialen Versicherung, wurde zum Verräter und sollte gnadenlos vernichtet werden.

In Washington war das alles bekannt, hatte jedoch keine Bedeutung für politische Entscheidungen. Die Destabilisierung der Situation auf dem Balkan lieferte den Vereinigten Staaten eine ausgezeichnete Möglichkeit, die unbesiegbare Macht der Clinton-Doktrin ein s Mal zu demonstrieren. Die NATO hatte zu keiner Zeit die Regelung des Konflikts angestrebt. Ihr Ziel war die Besetzung Kosovos. Der Westen zwang sowohl den Serben als auch den Albanern unannehmbare Bedingungen auf; die Albaner wehrten sich dagegen genauso wie die Serben und unterschrieben einseitig den Friedensvertrag erst, nachdem klar wurde, daß die Serben ihm nicht zustimmen würden.

Die Albaner hofften vielleicht ehrlich auf Hilfe der NATO. Tausende Flüchtlinge in Mazedonien, Albanien und Montenegro spürten und spüren bis heute am eigenen Leib, was amerikanische Hilfe bedeutet. Niemand kümmert sich um diese Leute. Nach Übergriffen der serbischen Polizei, dem Terror der UÇK und dem Auftauchen serbischer paramilitärischer Formationen im Kosovo hagelten auf diese Menschen auch noch die NATO-Bomben. Die amerikanische Diplomatie suchte den Krieg auf dem Balkan, sie hat ihn auch bekommen.

Die Legitimation der Balkan-Politik der USA besteht darin, die bösen Serben zu bestrafen. Für objektive Beobachter ist es klar, wie schrecklich die Politik von Milo"sevi“c im Kosovo war. Die Erfahrung der letzten Jahre lehrt jedoch, daß die Straf- und Verantwortungslosigkeit einer Supermacht in planetarischer Dimension weitaus gefährlicher ist.

Amerikanische Flugzeuge, die tonnenweise Bomben auf Kosovo abwarfen, verwandelten dieses Stück Erde in eine für den Menschen weitgehend unbewohnbare Zone. Ausgerechnet die Militäraktionen der NATO stellten die Garantie dafür her, daß viele Flüchtlinge niemals zurückkehren werden.

Eine sich selbst zum moralischen Maß für die übrige Welt erklärende Regierung wird aber die Meinung der Serben, Albaner, Araber, Somalier genausowenig berücksichtigen wie die der eigenen Bürger, die auf der Landkarte verwirrt nach Kosovo suchen.

Der wochenlang andauernde militärische Widerstand der Serben und die seit dem Einmarsch der KFOR-Truppen zunehmende Verunsicherung der Albaner sind erste Anzeichen eines mächtigen Umschwungs, der nicht nur auf dem Balkan vor sich geht. Hinter der glatten Fassade der allgemeinen Loyalität versteckt sich, wie einst in Breschnjew-Zeiten, ein starkes Empörungspotential. Der Antisowjetismus entwickelte sich im Bereich des Warschauer Paktes allmählich zu einer gemeinsamen Ideologie, welche die Polen, Rumänen und Afghanen bei allen Unterschieden zusammenführte. Nichts vereinigt so innig wie das Vorhandensein eines gemeinsamen Feindes.

Die Idee des Anti-Amerikanismus

Die Pax Americana kann sich in der Praxis als genauso brüchig erweisen, wie die durch das sowjetische Politbüro angeführte "Bruderunion". Die NATO hat den Warschauer Pakt um ganze zehn Jahre überlebt. Es gibt jedoch keine ewigen Imperien. Man kann nicht ausschließen, daß das amerikanische Herrschaftssystem demnächst mit seiner eigenen Variante des Jahres 1989 konfrontiert wird.

Amerikanische Medien versuchen immer noch, den Moskauer Protest gegen die NATO-Aktion mit der sentimentalen Liebe der Russen zu ihren "slawischen Brüdern" zu erklären. Auch die Chinesen, die ja schwer als Slawen zu bezeichnen sind, gingen wegen der NATO-Aggression auf die Straße. Journalisten haben Angst, es auszusprechen. Die Menschen werden nicht durch die Sympathie mit den Serben, sondern durch Feindseligkeit gegenüber den Amerikanern auf die Straße getrieben. Dieses Gefühl vereint gegenwärtig Millionen Menschen in den verschiedensten Teilen der Welt. Diese Menschen haben sonst fast nichts füreinander übrig.

Wieviel ist von allgemeinmenschlichen Werten geredet worden, niemand konnte jedoch diese verständlich formulieren. Am Ende des Jahrhunderts scheint es klar geworden zu sein: die Mehrheit der Menschheit ist offensichtlich bereit, die neue Epoche unter dem Zeichen einer einfachen, klaren und vereinigenden Idee zu betreten. Diese Idee heißt Anti-Amerikanismus.

    Boris Kagarlitzky ist Soziologe und lebt in Moskau. Er war Mitglied des letzten sowjetischen Moskauer Sowjets. Sein Beitrag ist eine wesentlich erweiterte Fassung eines Textes, der Mitte April 1999 in der Berliner Tageszeitung „Junge Welt“ erschienen ist.

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