Von der Produktion der »Zeit« zu ihrer marktwirtschaftlichen Dekonstruktion
Aus: Krisis 19
von Gaston Valdivia
Das moderne Individuum klagt ständig über »Zeitmangel«. Vierundzwanzig Stunden am Tag scheinen bei weitem nicht auszureichen, um all die Anforderungen zu bewältigen, die es erfüllen soll und will. Die Ansprüche an den modernen Menschen und sein »Zeitkontingent« sind enorm und drohen, ihn schier zu zerreißen: Pädagogen und Psychologen fordern mehr »Zeit« für die Kinder; Unternehmer erwarten ganz selbstverständlich längere und dabei immer intensivere Arbeit; die »Freizeitindustrie« verlangt verstärkte »Freizeitaktivitäten« von ihren Kunden; die Gebildeteren klagen mehr »Zeit« zum Lesen ein; der Handel will seine »Erlebniswelten« besser auslasten; die Genießer hätten gern mehr Muße und alle zusammen würden gerne etwas länger schlafen.
Je mehr die »Zeit« für die gehetzten Subjekte zum knappsten aller Güter wird, desto häufiger richten sie verstohlene Blicke auf jene fernen Länder, in denen sich die Menschen noch einen gemächlicheren Lebensrhythmus bewahrt haben. Doch schnell meldet sich nach solchen Anwandlungen das schlechte Gewissen, die Sehnsucht nach Geruhsamkeit schlägt sehr schnell um, und die eben noch Beneideten und Bewunderten werden ob ihrer »Faulheit« und »Arbeitsscheue« verachtet.
Die subjektive Befindlichkeit verweist über die individuelle Ebene hinaus auf ein zentrales Paradox der modernen Gesellschaft. Die mit der »Ökonomisierung der Zeit« einhergehende Produktivkraftentwicklung hat zwar einerseits den für die menschliche Reproduktion notwendigen »Zeitaufwand«(1) auf ein Minimum reduziert; gleichzeitig aber sorgt diese gleiche »Ökonomisierung der Zeit« in Form der »Beschleunigung« und »Verdichtung« dafür, daß die »freigesetzte Lebenszeit« restlos vom warengesellschaftlichen Gesamtbetrieb verschluckt wird. Insbesondere diejenigen, die sich noch der zweifelhaften Ehre erfreuen, am Erwerbsleben partizipieren zu dürfen, bekommen das tagtäglich zu spüren. Gerade für sie bedeutet »Ökonomisierung der Zeit« in keiner Weise ein Mehr an »disponibler Zeit«, sondern einzig und allein rigide »Zeitbewirtschaftung«. Sie leiden entweder permanent unter »Zeitdruck« oder machen, scheinbar verrückt geworden, aus der Not auch noch eine Tugend, identifizieren sich mit der Zumutung, werden süchtig, treiben sich zu immer höheren Leistungen an und »navigieren in chaotischen Systemen«(2), bis sie der Herzinfarkt dahinrafft(3). Geradezu makaber-prophetisch nimmt sich in diesem Zusammenhang das Motto einer texanischen Computer-Servicegesellschaft aus. Es verspricht ganz trendy, »die Zeit bewußt zu beschleunigen« und erklärt damit die Zeitsklaverei zum Ziel aller Ziele(4).
Das Thema »beschleunigte Zeit« ist mittlerweile für Medien, Feuilleton und Literatur zu einem beliebten Gegenstand geworden. Den Ursachen des merkwürdigen Phänomens ist man deswegen indes noch lange nicht wesentlich näher gekommen. Das Gros der Betroffenen, von den führenden Politikern und Wirtschaftsrepräsentanten ganz zu schweigen, sieht sich jedenfalls durch dieses Mysterium in keiner Weise zu vertiefter Reflexion veranlaßt. Im Gegenteil, je deutlicher die »Zeitproblematik« zutage tritt, desto stolzer verweisen die Apologeten des Systems auf ihre Spitzenleistungen in Sachen kapitalistischer »Zeitkompression« und verteidigen ihren wohlverdienten Streß mit Zähnen und Klauen. »Zeitknappheit« gilt als Index für Leistung und Effizienz und ist dementsprechend libidinös besetzt. Nur wer keine »Zeit« hat, ist in dieser Gesellschaft wer, und nur eine Gesellschaft, die sich keine »Zeit« läßt, gilt als funktionstüchtig. Als der Realsozialismus implodierte, war man sich im Westen schnell über die Ursache seines Scheiterns einig: nicht rationell genug, sprich zu langsam, lautete die Diagnose der hiesigen Hobby-Pathologen. Der Realsozialismus soll also vor allem daran zugrunde gegangen sein, daß die Menschen dort zu viel »Zeit« mit zuwenig Arbeit verbracht hätten.
Nachdem nun die frühere Zielscheibe von Hohn und Spott für immer verschwunden war, dauerte es nicht lange, da entdeckten die Politiker und Unternehmerverbände prompt die gleichen Krankheitssymptome bei sich zu Hause. Auch im Westen stößt die Arbeitsgesellschaft an ihre Grenzen, und auf der Suche nach Gründen für das stockende Wachstum der westlichen Wirtschaft fällt den Verantwortungsträgern wieder nur eine denkbare Ursache ein. Die eigenen Arbeitskräfte müssen sich mit dem Virus der »Faulheit«, der »mangelnden Arbeitsmoral«, der »Verweichlichung« und des »Hängemattendenkens« angesteckt haben. Die Heilmittel, die aus der Misere herausführen sollen, sehen denn auch entsprechend aus. Mit moralischer Bestrafung, Einkommensentzug, Ausdehnung des Arbeitstages durch Flexibilisierung, Mehrarbeit etc. wird weiter an der Leistungsschraube gedreht, und die universelle Diktatur des Sekundenzeigers nimmt noch einmal erbarmungslosere Formen an. Gegenwehr regt sich kaum, denn das Leistungs- bzw. Effizienzprinzip ist, wie das Geld, verinnerlicht und wird als quasi göttliche Instanz akzeptiert.
Auf die Idee, die Warenökonomie als solche könnte gleichermaßen für die Wirtschaftskrise wie für die allgemeine »Zeitdiktatur« samt all ihren seltsamen Erscheinungsformen ursächlich sein, kommen vorerst jedenfalls nur wenige. Selbst diejenigen, die Einwände gegen dieses System vorbringen und sich oppositionell gerieren, reagieren für gewöhnlich immer noch auf die »inneren« und »äußeren« Krisen reflexhaft mit Affirmation und Vollstreckung der diesem System zugrunde liegenden verheerenden »Zeitlogik«.
Zwei für diese Blindheit wesentlich mitverantwortliche Momente möchte ich in diesem Beitrag etwas näher beleuchten. Zunächst soll es um das Phänomen der modernen »Zeitwahrnehmung« gehen. Anschließend will ich die Konsequenzen der verschlungenen marktwirtschaftlichen Verteilungsumwege für das gesamtgesellschaftliche »Zeitbudget« thematisieren. Insbesondere dieser zweite Aspekt hat, trotz seiner gewaltigen Sprengkraft, innerhalb der bisherigen Kapitalismuskritik keinerlei Rolle gespielt. Grund genug, ihn etwas ausführlicher darzustellen. Die Verknüpfung von abstrakter »Zeit«, Geld und Warenform wurde dagegen in älteren marxistischen Debatten und auch in die »Krisis« schon eingehender diskutiert. An diesem Punkt konzentriere ich mich daher auf die historische Dimension, also auf die Frage, wie die »Zeit« zusammen mit dem Geld über die Menschen kam.
1. Die »Zeit«
Redewendungen wie »Zeit sparen«, »keine Zeit haben«, »Zeit gewinnen«, »Zeit verlieren«, »Zeitdruck«, »Zeit verausgaben« und zahllose andere dieser Art sind genaugenommen unsinnig. Weil »Zeit« kein Ding ist, sondern sich nur als eine Beziehung von Ereignissen beschreiben läßt, konnte es noch nie jemandem gelingen, sie zu speichern oder ihrer verlustig zu gehen. Wenn uns derlei eigentlich absonderliche Formulierungen dennoch völlig selbstverständlich über die Lippen kommen(5), dann hat das zwei Gründe. Zum einen suggeriert ihre eigene warengesellschaftliche Praxis den modernen Menschen, daß es sich bei der »Zeit« um eine Art von »substanzieller« Größe handelt, die beliebig teil- und meßbar wäre und mit der man auch sonst noch so allerlei anstellen kann. Wir sehen also in der »Zeit« vor allem deshalb einen Quasi-Gegenstand, weil wir sie verrückterweise täglich praktisch als solchen behandeln. Zum anderen hat diese Sichtweise ihre historischen Wurzeln. Auch wenn es natürlich mit der Verallgemeinerung des Warentauschs in der kapitalistischen Gesellschaftsformation erst seine heutige, wiederum besondere Ausprägung erlangt hat, lassen sich die Ursprünge unseres »Zeitverständnisses« bis in die griechische Antike zurückverfolgen, allerdings nur insoweit, als in dieser bereits ein Morgenrot erster frühbürgerlicher Bewußtseinsformen sichtbar wurde.
Die Beschäftigung mit der »Zeit« als Gegenstand für sich setzt ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse voraus, das sich erst auf der Grundlage abstrakt-logischen und theoretischen Denkens herausbilden konnte. Daher verwundert es nicht, wenn zwar schon früh in der Menschheitsgeschichte Ereignisse in Erzählungen, Gesängen oder Symbolen festgehalten und in eine bestimmte (damals noch zyklische und schwankende) Reihenfolge gestellt wurden, ohne daß jedoch ein »Zeitgefühl« oder ein Begriff von »Zeit« existiert hätten. Zum Erkenntnisobjekt wurde die »Zeit« erst recht spät, soweit überliefert, zunächst bei einigen Philosophen wie Aristoteles und Euklid. In deren Gefolge avancierte sie dann aber zu einem der bevorzugten Gegenstände des philosophischen Interesses.
Kant ist die Einsicht zu verdanken, die »Zeit« habe transzendentale Idealität und komme daher nicht den Dingen an sich zu. Damit bestritt er die Existenz von »Zeit« außerhalb des menschlichen Individuums(6). Andererseits, und hierin ging er quasi seinem bürgerlich konstituierten Bewußtsein auf den Leim, hielt er die »Zeit« für allgemein und notwendig, also für eine apriori (transzendental) gegebene Form der inneren Anschauung. Etwas salopp kann man sich dies auch so vorstellen: In jedem Menschen tickt eine Uhr, noch bevor er überhaupt zur Anschauung fähig ist. Bei Kant scheint sie übrigens derart laut getickt zu haben, daß er sich zeitlebens von ihren Schlägen antreiben ließ. Es wird berichtet, daß Freunde und Nachbarn ihre Uhren nach der rigiden Einteilung seines Lebensrhythmus hätten stellen können. Kant verkannte offenbar, daß auch die innere Uhr ein »Geschenk« seiner Gesellschaft war, und sie keineswegs mit ihm zusammen das Licht der Welt erblickt hatte.
In Teilen hat die sozialhistorische Forschung inzwischen die einst fraglos akzeptierte Annahme, beim »Zeitempfinden« handle es sich um etwas Invariantes, dem Menschen Angeborenes, weitgehend revidiert. Mittlerweile dürfte sich unter Fachwissenschaftlern kaum mehr Widerstand regen, wenn der Naturwissenschaftler und Philosoph Gerald James Whitrow die These vertritt, »Zeit« sei eine zu erlernende Wahrnehmungsweise, und in seinem populärsten Werk »Die Erfindung der Zeit« ganz in diesem Sinne schreibt: »Obschon die Zeit eine grundlegende menschliche Erfahrung ist, gibt es doch keinen Anhaltspunkt dafür, daß wir einen besonderen Zeitsinn besitzen, so wie wir beispielsweise über einen besonderen Sinn für das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten verfügen.«(7)
Anders als bei Kant ist für Whithrow das »Zeitempfinden« nicht der sinnlichen Erfahrung vorausgesetzt, vielmehr entspringt es erst aus der Reflexion über sie. Die Art der Reflexion hängt dabei wiederum von der besonderen Form der jeweiligen gesellschaftlichen Organisation ab.(8) Damit ist selbstverständlich nicht negiert, daß auch natürliche Momente die Herausbildung eines »Zeitbewußtseins« mitbegünstigen. Die Grundlage für das »Zeitempfinden« bildet ein »gewisses Bewußtsein von Dauer« (Whitrow), das wiederum entscheidend von der Aufmerksamkeit und vom Interesse an dem abhängt, womit man gerade befaßt ist. Wesentlich scheint auch die allgemeine körperliche Verfassung zu sein.(9)
Dauer wird dann erlebt, so Whitrow, »wenn die gegenwärtige Situation zu vergangenen Erfahrungen oder künftigen Erwartungen und Wünschen in Beziehungen gesetzt wird. (…) Unsere Fähigkeit, Erwartungen zu haben, entwickelt sich jedoch, bevor wir ein Bewußtsein von Gedächtnis haben.«(10) Will ein Kind etwas greifen, das es nicht erreichen kann, macht es die Erfahrung, daß es dauert, bis die räumliche Distanz überwunden werden kann. »Die erste intuitive Vorstellung von Dauer scheint also räumlicher Natur zu sein: sie wird als der Abstand empfunden, der zwischen dem Kind und der Erfüllung seiner Wünsche steht.«(11) Die weitere Ausbildung des »Zeitempfindens« beim Kind hängt von Einübungstechniken und von der Sprache ab, die Sprache wiederum vom erlernten Grad der Abstraktionsfähigkeit einer menschlichen Gesellschaft und diese von den besonderen Bedingungen, unter denen Erfahrungen und Handlungen reflektiert und synthetisiert werden können.
Wie so oft finden sich zu diesen ontogenetischen Zusammenhängen Parallelen auf der Ebene der Phylogenese. Die Menschen archaischer Lebensgemeinschaften konnten Vergangenes und Künftiges von der Gegenwart ebenfalls gar nicht oder nur sehr vage trennen und verfügten in der Regel weder über einen Begriff für »Zeit« noch über solche Begriffe und grammatikalische Formen, die sich auf »zeitliche« Aspekte beziehen. Bis zur Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse blieben zentrale Momente dieses »Vor-Zeitverständnisses« lange erhalten. Ja selbst heute noch gibt es zahllose vorbürgerliche Gemeinwesen, in deren »Zeitverständnis« Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Totalität zusammenfließen, die ein Herausreißen bestimmter Ereignisse, zwecks einer klaren »zeitlichen« Zuordnung, verunmöglicht. Wo westlich sozialisierte Individuen auf Menschen treffen, die noch in solch traditionell geprägten Zusammenhängen leben und unseren immer schon als selbstverständlich unterstellten »Zeitsinn« vermissen lassen, führt diese unterschiedliche Wahrnehmung regelmäßig zu peinlichen Mißverständnissen. Wenn sich in den Aussagen oder Erzählungen der an die westlichen Empfindungsmuster noch nicht angepaßten Menschen Erlebtes, Gegenwart und mögliche Erwartungen zu einer Wirklichkeit verflechten, dann können die abendländisch geprägten Zuhörer in den Sprechern für gewöhnlich nur Lügner oder Spinner erkennen. Die Urlaubsberichte zeitgenössischer Massentouristen sowie zahlreicher Kulturbürger erinnern denn auch bis zum heutigen Tage bei diesem Thema an die Berichte der Conquistadoren über ihr Zusammentreffen mit den »Primitiven« in der »Neuen Welt«.
Nicht nur die »Exoten« am Rande der westlichen Welt haben das moderne lineare »Zeitverständnis« nicht in der gleichen Weise verinnerlicht wie die Menschen in den Metropolen. Auch in der abendländischen Geschichte selber blieb das »Zeitempfinden« lange konkretistisch an sich wiederholende Vorgänge gebunden, und bis in die Gegenwart hinein lassen sich gelegentlich Überbleibsel davon finden. Fast alle unseren heutigen Begriffe für »zeitliche« Einteilungen beziehen sich bezeichnenderweise in ihrer ursprünglichen Bedeutung auf ganz bestimmte Ereignisse. »Montag« und »Monat« stehen für das Erscheinen des Mondes; der »Sonntag« geht auf den Sonnengott zurück, wobei Sonne u.a. die Zustände des Schwelens und Brennens meint und Tag vermutlich auf Gott, brennen, Hitze, warmhalten sowie die Betätigungen des Pflegens und Hegens (dahah) zurückgeht. Selbst der Begriff »Stunde« drückt ursprünglich keine sechzigminütige Maßzahl aus; stattdessen gibt er im mittelalterlichen Sprachgebrauch das Eintreten eines spezifischen Geschehens oder einer grundlegenden Veränderung im Leben an, wie beispielsweise den Moment des Todes. In der Wendung »wem die Stunde schlägt« echot diese Sichtweise noch nach. Auch die englische Sprache, darauf hat Norbert Elias hingewiesen, läßt den älteren »Zeitbezug« noch erahnen: das Wort »timing« (»zeiten«) drückt den Zweck aus, »Positionen im Nacheinander zweier oder mehrerer Geschehensabläufe aufeinander abzustimmen (>zu synchronisieren<).«(12) Unsere heutige Vorstellung vom vierundzwanzigstündigen Tag wäre jedenfalls vor dem Aufkommen abstrakt-logischen Denkens sinnlos erschienen, denn sie verschmilzt völlig unterschiedliche Phänomene, wie Dunkelheit und Helligkeit, die für die sinnliche Wahrnehmung nichts miteinander gemein haben, zu einer Einheit.
Ob und auf welche Art und Weise die Menschen versucht haben, Ereignisse festzuhalten und in eine besondere Reihenfolge zu stellen, hing zunächst einmal von den vorgefundenen geographischen und klimatischen Bedingungen ab, unter denen sie ihre Reproduktion gestalten mußten. Zu den Naturphänomenen traten gesellschaftliche Einschnitte wie die Geburten von Herrschern, der Tod von Heiligen, Kriege und andere Katastrophen hinzu und gaben den frühen kalendarischen Darstellungen und verbalen Überlieferungen ihr Gepräge. Dabei glichen sich die ansonsten recht unterschiedlichen Methoden der Ereigniserfassung und -prognose in zweierlei Hinsicht: zum einen dienten sie der Festlegung von rituellen Festen, Kulthandlungen und der Bestimmung von landwirtschaftlichen Aktivitäten wie Aussaatanfang und Erntebeginn; zum anderen lag ihnen die zyklische Vorstellung zugrunde, sämtliche wesentliche Ereignisse würden sich bis in alle Ewigkeit in gewissen Abständen wiederholen. Bis ins späte Mittelalter hinein überlebten wesentliche Aspekte dieses Kreislaufdenkens.
Halten wir fest: Die vom menschlichen Bewußtsein wahrgenommenen und reflektierten Formen der Veränderung – Entstehen, Werden, Vergehen, etc. – wurden in nichtbürgerlichen Gemeinwesen weder unter einen Begriff subsumiert, noch existierte eine Denkweise, die einen solchen Begriff hätte schaffen können. Von Bedeutung waren lediglich die konkreten Ereignisse in ihrem fetischhaften, rituellen Kontext.
Wie kam es nun dazu, daß die Menschen damit begannen, sich von diesen Ereignissen abzulösen und stattdessen eine »Zeit« als für sich seiende Objektivität in Form eines linearen, vorwärtsgerichteten »gleichmäßigen, einförmigen Flusses« (Elias) zu setzen? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn wir sie in einen weiter gespannten Rahmen stellen. Norbert Elias hat in seiner Abhandlung »Über die Zeit« diesen größeren Zusammenhang richtig benannt. Er stellt dort fest: »Eine der Schwierigkeiten, auf die man in einer Untersuchung über die Zeit stößt, (…) ist das Fehlen einer Entwicklungstheorie der Abstraktion oder richtiger: der Synthesebildung. «(13) Der Schlüssel zur Erklärung des Phänomens »Zeit« liegt also in den gesellschaftlichen Bedingungen, die, indem sie die bestimmte historische Form des abstrakt-logischen und theoretischen Denkens hervorgebracht haben, auch jene Dynamik in Gang brachten, die die »Zeit« »hinter dem Rücken der Menschen« zur objektivierten Triebkraft ihrer Geschicke hat werden lassen.
2. »Zeit«, Denkform und Geld
Damit Menschen eine Reihe aufeinander folgender Ereignisse zu abstrakten »Zeiteinheiten« zusammenfassen, also abgelöst von jeder konkreten Situation und von den Spezifika des aktuellen Geschehens »Zeitpunkte« bestimmen können, bedarf es einer Sprache, die sowohl über grammatikalische Formen zur Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügt, als auch abstrakte Zahlen kennt. Nur in den indoeuropäischen Sprachen hat sich, so Whitrow, beides voll herausgebildet. In seinem Buch »The Natural Philosophy of Time« befaßt er sich detaillierter mit der Verknüpfung dieser Momente und kommt zu folgendem Schluß: »Unsere Vorstellung von Zeit hängt eng damit zusammen, daß unsere Denkweise aus einer linearen Folge diskreter Aufmerksamkeitszustände besteht. Dies führt dazu, daß wir Zeit ganz natürlich mit Zählen assoziieren, welches die einfachste Form eines Rhythmus darstellt. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die Wörter >Arithmetik< und >Rhythmus< von zwei griechischen Begriffen abstammen, deren gemeinsame Wurzel das Wort >fließen< ist.«(14)
Die etymologische Verbindung verweist auf den historischen Kontext, in dem das Phänomen »Zeit« entstanden ist. Sie führt uns in die griechische Antike und damit zu der spezifischen historischen Formation, in der sich zeitgleich mit Münzwirtschaft und Warentausch auch der Umgang mit abstrakten Zahlen (Erfindung der Null) und das Denken in zielgerichteter »linearer Folge« herausgebildet haben. Rudolf W. Müller hat die gemeinsame Genesis von Denkform und Warenform, ausgehend von Thesen Alfred Sohn-Rethels und Theoriefragmenten von Karl Marx, insbesondere den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten«, umfassend in einem interdisziplinären Forschungsprojekt untersucht.(15) In komprimierter Form lautet seine Kernthese: »Diese Denkformen (gemeint sind: formale Logik, abstraktes Denken, theoretisches Erkennen, die allgemein als natürliche Form des menschlichen Denkens überhaupt gelten; G. V) stehen in einem inneren Zusammenhang mit der sich entwickelnden Warentauschgesellschaft, wie sie bereits in der griechischen Antike existierte. Der Entstehungsgeschichte und Funktion des Geldes im Warentauschprozeß entspricht die Genesis des >reinen Geistes<, d. h. der formalen Logik und der abstrakten Form der Identität im Denkprozeß. (…) So gewinnt der Marxsche Ausspruch einen Sinn, wonach die Logik das Geld des Geistes sei.«(16)
Das qualitativ Neue dieser Denkform wird deutlicher, wenn wir uns zum Kontrast die prä-warenförmigen Verhältnisse vergegenwärtigen. Das Bewußtsein klebte an der Unmittelbarkeit. Es mangelte dem Menschen an Distanz zu sich und zuseiner Umgebung, und so blieben seine Vorstellungen direkt an konkrete Tätigkeiten und Gegenstände gebunden. Zu Tieren, anderen Menschen und Dingen bestanden quasi persönliche Beziehungen. Um das Fehlen eines Schafes oder einer Ziege aus der Herde zu bemerken, mußten Hirten beispielsweise nicht erst durchzählen; aufgrund der intimen Beziehung und genauen Beobachtung bemerkten sie auch ohne dieses Hilfsmittel den Verlust eines ihnen gehörenden Vierbeiners. Soweit in späteren, von der Warenform noch unbeleckten Gemeinwesen, so etwas wie Mengenbestimmungen durch Zeichen entstanden, handelte es sich dabei nicht um abstrakte Bezeichnungen mittels beliebig (universell) zuordenbarer Zahlsymbole, wie sie den modernen Menschen vertraut sind, vielmehr bildeten das Maß und das Gemessene eine unauflösliche Einheit.
Erst als in der Erfahrungswelt etwas auftauchte, das sowohl sinnlich wahrnehmbar als auch eine Abstraktion war, also eine »daseiende Abstraktion« (Müller)(17), konnte sich das Denken von der engen Koppelung an die sinnlichen Gegenstände emanzipieren und damit beginnen, abstrakte, allgemein logische Verknüpfungen herzustellen. Das Geld erfüllte diese Bedingungen in idealer Weise, denn es verkörpert in dinglicher Form den Wert anderer Waren und setzt sie damit als Werte gleich, und doch kommt ihm dabei selbst eine handgreiflich empirisch unterschiedene Daseinsform zu. Im Geld findet der Abstraktions- und Syntheseprozeß sein gesellschaftliches Substrat, weil es gleichzeitig als etwas Besonderes figuriert und die Besonderung von Stoff und Form auslöscht und als abstrakter Ausdruck beliebiger, unterschiedlicher Gegenstände sich rein quantitativ spezifiziert mit allem und jedem identisch setzt. Durch wiederholte Tauschpraxis wurde die universelle Zuordnung einer zunächst »sinnlichen« Abstraktion an verschiedene, konkrete Stoffe eingeübt und damit die Fähigkeit, immer wieder von der spezifischen Verbindung abzusehen. Aufgrund dieses gewonnenen Differenzierungs- und Synthesevermögens (organisch miteinander verwachsene Erscheinungen wurden auseinanderdividiert und getrennt unter eine gemeinsame Abstraktion subsumiert) konnte das Bewußtsein quasi zur nächsten großen Tat schreiten und schließlich zum Denken von »reinen Zahlen«, also Abstraktionen ohne jeden sinnlichen Gehalt gelangen.
Zweierlei fällt bei dieser Entwicklung zusammen: die Abstraktionsleistung als solche und die mit dem Geldumgang zwangsläufig verbundene Notwendigkeit, Abstraktion in Zahlen ausdrücken, weil nur vor diesem Hintergrund Geld als quantitativer Maßstab fungieren kann.(18) Für den Übergang zum »abstrakten Zählen« spielte es dabei zunächst noch keine Rolle, ob Güter äquivalent getauscht wurden und wieviel subjektive Momente (Freundschaft, bloßes Schätzen, Ehrenkodexe, etc.) bei der Preisbestimmung von Waren einflossen.(19) Entscheidend ist einzig die Tatsache, daß sich »hinter dem Rücken« ein abstrakter Bezug verschiedener Menschengruppen zueinander herstellte, der im Geld einen dinglichen Ausdruck fand.
Welche Art und/oder Stufe von Abstraktionsvermögen sich ohne das Geld hätte entwickeln können, ist umstritten. Auch einige Anhänger der Müllerschen Thesen nehmen an, ausgehend von einer (begrenzten) Gleichsetzung ähnlicher Naturgegenstände hätten schließlich so etwas wie abstrakte Zahlen entstehen können. Ich habe daran meine Zweifel .(20) Wenn aber schon häufig die Genesis des Zählens vom Warentausch abgetrennt wird, so gilt das natürlich erst recht für die Entstehung des »theoretischen Bewußtseins« im allgemeinen. In der Regel müssen, je nach Erklärungsmodell, verschiedene Rituale, Ereignisse und Zustände wie Kriege, Versklavungen, Wanderungen, Reisen, rituelle »Verhandlungen mit den Göttern«, das handelnde Einwirken auf die Natur selbst oder Versuche, größere Mengen an Gütern oder Menschen zu erfassen, als Ursachen für dessen Herausbildung herhalten. Die Thesen von R. W. Müller weisen allerdings, meiner Ansicht nach, auch gerade in dieser Hinsicht die größere Plausibilität auf. Einige der genannten Aspekte mögen zum historischen Durchsetzungsprozeß der »Geld- und Geist-Logik« beigetragen haben; bestimmend dürfte indes die Entwicklung des abstrakten Vermittlungsmediums gewesen sein.
3. Zum Prozeß der Verwirklichung der »Zeit«
Während das Zählen und Rechnen, bis hin zur Mathematik, seit der Antike einen gewissen Grad an Bedeutung in den gehobenen Gesellschaftskreisen erlangte, kann davon, was die »Zeit« als solche angeht, trotz diverser Kalendierungen nur bedingt die Rede sein. Die Aufmerksamkeit der allergrößten Mehrheit der Menschen galt dem »zeitlosen«, gemächlichen Alltag und den verschiedenen natürlichen und außergewöhnlichen gesellschaftlich/religiösen Ereignissen. An genaueren Datierungen waren in erster Linie die Diener der Kulte und Religionen interessiert. Auch das verstärkte Bedürfnis nach »Zeitmeßinstrumenten«, wie es sich im frühen Mittelalter zusehends bemerkbar machte, ging von der religiösen Sphäre aus. Es waren die klösterlichen Gemeinschaften, die es bei der Festlegung der zahllosen Gebetsstunden (Temporalstunden) zu einer von den natürlichen Abläufen abgelösten Zerlegung der »Zeit« drängte. Zwar fiel die Dauer der sakralen »horae« je nach religiöser Pflicht und technischer Meßbarkeit höchst unterschiedlich aus,(21) der erste Schritt zur Abstraktifikation der Tageszeitbestimmung war damit aber immerhin geleistet.
Eine ganz andere Spezies Mensch konnte einige Jahrhunderte später an diese Errungenschaften anknüpfen und die Konstituierung des modernen »Zeitempfindens« forcieren. Die Kaufleute wurden allerdings weniger von heiligem Eifer als von schnöden weltlichen Motiven getrieben. Warum gerade sie ein vitales Interesse an exakten »Zeiteinteilungen« entwickelten, ist leicht nachvollziehbar. Als die einzige Personengruppe, die ihre Existenz weder auf milde Gaben, Land- und Handarbeit, den Zehnten oder anderen feudalen Abgaben aufbauen konnte, waren die Kaufleute existentiell auf die möglichst »zeitrationelle« Abwicklung ihrer Handelsgeschäfte angewiesen. Die Dauer von Handelsreisen und Transporten, die »Zeitpunkte« für Zahlungen und Einnahme von Erträgen, Schuldenerstattungen oder die Eintreibung von Verbindlichkeiten, die Zinsberechnungen, die Datierung von Verträgen, die Bestimmung von Haftungsperioden und vieles andere mehr erforderten die Festlegung genauer, regelmäßiger und dabei allgemeingültiger »Zeiteinheiten«.
Zugleich waren es die Kaufleute, die mit dem Verschieben von Genüssen (Sparen) in der Erwartung um so größerer späterer Gewinne das »Zeiten« einzuüben und zu verinnerlichen begannen. Diese »Zeitpioniere« unterwarfen ihren Lebensrhythmus zwangsläufig dem sowohl bewußt als auch unbewußt geschaffenen objektivierten Maßstab. Je mehr sich Handel und Märkte in einer wechselvollen Geschichte durchsetzten, desto wichtiger wurde die rechtzeitige Präsenz und schnellere Abwicklung von Geschäften. Verglichen mit dem heutigen Zustand ging es dabei allerdings noch recht gemächlich zu.
Der Verzeitlichung des kaufmännischen wie des klösterlichen Lebens war lange »Zeit« mit dem Fehlen genauer, gleichmäßig funktionierender »Zeitmeßinstrumente« eine Grenze gesetzt. Ungefähr seit dem 13. Jahrhundert schuf die Verbreitung mechanischer Uhren in Westeuropa indes Abhilfe. Ab dieser Epoche begannen reichere Gemeinden, ihre Kirchtürme mit mechanischen Uhren zu bestücken, und deren regelmäßiges Glockengeläut erinnerte fortan die gesamte Einwohnerschaft an die nun angebrochenen neuen »Zeiten«. Mit der mechanischen Uhr war nicht nur die gleichmäßige, sechzigminütige Stunde geboren, sie schuf zugleich eine wesentliche Voraussetzung für die Revolutionierung der bis dato gemächlichen bäuerlich-handwerklichen Wirtschaftsweise überhaupt. Erst nachdem die neuen Chronometer eine genaue Messung der Arbeitszeit möglich gemacht hatten, konnte sich die Lohnarbeit verallgemeinern und die sukzessive säuberliche Trennung der Arbeitszeit von anderen Beschäftigungen und Lebensäußerungen, also der Prozeß der Sphärendifferenzierung, einsetzen. Der Beginn dieser Entwicklung folgte, darauf hat Whithrow schon hingewiesen, der Erfindung der mechanischen Uhr auf dem Fuß. »In der Textilmanufaktur ersetzte die gleichförmige, sechzigminütige Stunde schon bald den Tag als Grundeinheit der Arbeitszeit. So gestattete es im Jahre 1335 der Gouverneur von Artois den Einwohnern von Aire-sur-la-Lys, einen Stadtturm mit besonderer Glocke zu bauen, um die Arbeitsstunden der Textilarbeiter ein- und auszuläuten. Das Problem der Länge des Arbeitstages war besonders in der Textilmanufaktur von großer Bedeutung, da die Löhne dort einen beträchtlichen Teil der Produktionskosten ausmachten.«(22) Bis sich dann die damals noch nischenhafte Lohnarbeit zur allgemeinen Existenzform verallgemeinerte, vergingen noch einige Jahrhunderte. Das schmälert die Bedeutung dieser Basisinnovation für den Take-off der Waren- und Arbeitsgesellschaft jedoch in keiner Weise.
War der »Zeitsinn« ursprünglich eine Domäne der Kaufleute, so stieg er mit der Durchsetzung der Lohnarbeit zum Allgemeingut und zur unbedingten Pflicht auf. Mit wachsender Verbreitung der gezielten Marktproduktion in Manufakturen und Fabriken fiel dem aufkeimenden Staatswesen die Aufgabe zu, die bäuerliche Bevölkerung »fabrikreif« zuzurichten, sprich, ihr die eiserne moderne »Zeitdisziplin« und die notwendigen Grundtechniken des Abstrahierens, darunter vor allem natürlich die Grundrechenarten, einzubleuen. Das war freilich keine leichte Aufgabe. Im Jahr 1791 charakterisierte Arnold Wagemann, ein Vertreter der Industrieschulbewegung des 18. Jahrhunderts, in seiner Abhandlung »Über die Bildung des Volkes zur Industrie« die Bauern und Kinder (!) folgendermaßen: »Beide sind vom Sinnlichen sehr abhängig, weil es ihnen an Kenntnissen fehlt, die sie über das Sinnliche hinaus erheben könnten.«(23) Die Schwierigkeiten bei der Metamorphose solcher »Bauerntölpel« in pünktliche und fleißige Arbeiter konnten die Erzieher zur Verzweiflung treiben: »Mangel an Abstraktionsvermögens also ist es vorzüglich, welcher dem Bauern einen solchen Unterricht unnütz macht und wäre die Art des Vortrags auch noch so sehr nach seiner Fassungskraft ausgerichtet, welches wahrlich keine so leichte Kunst ist «(24) Die Manufaktur- und Fabrikbesitzer verwendeten schon aus Kostengründen nicht allzuviel Mühe darauf und bedienten sich, im wahrsten Sinne des Wortes, einschlägigerer pädagogischer Mittel: Der Zeiger an der Turmuhr fand im Rohrstock seine übliche Verlängerung. Äußerst brutale »Zeit«-Disziplinierungsmethoden in Fabrik, Werkstatt, Armee, Schule und häuslicher Gemeinschaft beherrschten die Szenerie vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein.(25)
In dem Maße, wie sich Geldbeziehungen, Industriearbeit und Konkurrenz verallgemeinerten und die Sondersphären »Arbeit« und »Freizeit« auseinandertraten, beschleunigte sich der Lebensrhythmus mehr und mehr, und die »Zeit« erlangte ihre Weihen als schicksalhafte, quasi naturmäßige Antriebskraft. Diese »wirkliche gewordene Zeit« hat gegenüber allen früheren Empfindungen von Dauer eine eigene Qualität: als Substanz des Wertes entstand sie unabhängig von einem gesellschaftlichen Willen und wurde zum bestimmenden Bezugssystem und universellen Existenzmaßstab. Die oben dargestellten »modernen Kulturtechniken«, ursprünglich von Kaufleuten und Priestern eingeübt und verinnerlicht, haben sich der ganzen Gesellschaft wie eine Zwangsjacke übergestülpt. Auf der Grundlage zielstrebiger Produktion für den Markt, der Schaffung exakter, gleicher »Zeiteinheiten« und eines auf künftige Gewinne und Lohnerwartung konditionierten Bewußtseins, richtete sich der »Zeitsinn« nach vorne aus. In unbewußtem Rückgriff darauf wurden und werden auch Gegenwart und Vergangenheit als Momente eines linearen, vorwärtsgerichteten Flusses empfunden und Historie als eine logische Aneinanderreihung von Ereignissen interpretiert.
Der historische Siegeszug des Geldes, sein Aufstieg zur alleinigen gesellschaftlichen Syntheseform ist ohne die beschriebene Entstehung der »Zeit« gar nicht denkbar. Geld, verdinglichte »Zeit«, ist nun selbst zum Maßstab der »Zeit« geworden und »Zeit« daher kostbar wie Geld. Die Volksmundweisheit »Zeit ist Geld« bringt diese Identität auf den Punkt. Jeder Augenblick, der ohne Gelderwerb verstreicht und nichts einbringt, gilt potentiell als vergeudete »Zeit« oder Geldverschwendung. Je kostbarer die »Zeit«, desto hektischer gebärdet sich das Subjekt: im Straßenverkehr mutiert es zur rasenden Wildsau, die auf der Betonpiste um jede Hundertstelsekunde Vorsprung kämpft, als ginge es um olympisches Gold. Man nimmt selbst noch den eigenen Tod in Kauf, um fünf Minuten früher am Ziel zu sein, und das Essen wird in einer Geschwindigkeit heruntergeschlungen, die selbst gefräßige Haie vor Neid erblassen läßt. Alles muß schnell gehen: »Zeitsparen« scheint Volkssport Nummer eins zu sein, und die Uhr dürfte die Körperzierde sein, die üblicherweise zu allerletzt abgelegt wird – wenn überhaupt. Für die Produktion gibt es nur eine Maxime: schneller und mehr. Aber der rasende Takt der Industrie fegt selbst durch die letzten Winkel der Wohnstuben. Auch diejenigen, die sich mangels Erwerbsarbeit nicht mehr ausbeuten lassen dürfen, können sich nicht gemächlich zurücklehnen und diesen Zustand ein Weilchen genießen. Den industriellen »Zeitsinn« haben sie vollkommen verinnerlicht – die Hektik im Alltag bleibt. Gleichzeitig macht das fehlende Geld die häusliche Reproduktion »zeitaufwendiger«. Und ist einmal gar nichts zu tun, dann wird die Seele krank, weil Körper und Geist keine gesellschaftlich anerkannte Arbeitsleistung vollbringen. So oder so, der »Zeitstreß« holt alle ein.
Der heutige »Zeitsinn« wurzelt in einer anerzogenen »Zeitökonomie«, die sowohl Ausdruck wie Resultat der »Arbeitszeitabstraktion« und damit ein Spiegelbild der industriellen Produktions- und Umlaufgeschwindigkeit ist. Ein Leben in »kreativem Müßiggang« (Robert Kurz) läßt sich daher nur erreichen, wenn der Warentausch und mit ihm Geld, Arbeit und Kapital endlich das »Zeitliche« segnen. Erst dann könnten die Menschen ihre Reproduktionszusammenhänge bewußt gestalten und ihren Lebensrhythmus dem Takt selbstbestimmter Tätigkeiten anpassen. Dieser innere Zusammenhang läßt sich aber auch andersherum fassen. Der Abschied von der Warenform beinhaltet notwendig die Aufhebung des von der Moderne geschaffenen »Zeitbezugs«. Der Aufstand gegen die Warenform ist immer auch schon Aufstand gegen die herrschende »Zeit«diktatur.
4. Die »zeitraubenden« Umwege der Marktwirtschaft
Die bisherige Darstellung des logischen und historischen Zusammenhangs von »Zeit«, Geld und Arbeit hat noch nicht erklärt, warum die Menschen trotz der modernen »zeitsparenden« Produktionsmittel immer mehr arbeiten, und sich sogar noch in der »Freizeitsphäre« ununterbrochen mit unangenehmen Dingen abplagen müssen. Deshalb will ich nun die verschlungenen Pfade unter die Lupe nehmen, auf denen die Waren zum Verbraucher wandern. Dabei wird deutlich, welchen horrenden »Zeitaufwand« die monetäre Vermittlung produziert. Die Marktwirtschaft, die von ihren Apologeten ob ihrer Effektivität gerühmt wird, entpuppt sich aus dieser Perspektive als die »zeitaufwendigste« Produktionsweise, die es jemals gab. Die Marktwirtschaft hat den rationellen Umgang mit der »Zeit« offenbar nur entwickelt, um die freigesetzte »Zeit« zu vernichten.
Vor einigen Jahren begannen einige kritische WissenschaftlerInnen aus dem ökologischen Spektrum mit der Untersuchung der langen umweltzerstörenden Umwege, die Güter in Produktion und Distribution durchwandern, bevor sie endlich beim Endverbraucher anlangen. Dabei kam so manche Kuriosität ans Tageslicht. Vor allem die Geschichte »Ein Joghurt geht auf Reisen« machte eine zeitlang Furore. Gestützt auf eine Studie von Stefanie Böge konfrontierten mehrere Zeitungsredaktionen ihre werte Leserschaft mit der Tatsache, daß selbst in die Herstellung eines solch simplen und harmlosen Produkts wie eines Fruchtjoghurts sage und schreibe 7.587 LKW-Kilometer eingehen, bis es endlich im Kühlregal eines Supermarktes landet .(26) Im Anschluß daran tauchten immer wieder weitere Artikel auf, die die für die herrschenden Produktions- und Verteilungsbeziehungen charakteristische aberwitzige Hyperzentralisierung und die damit verbundene enorme Verschleuderung von natürlichen Ressourcen und menschlicher Lebensenergie exemplarisch aufs Korn nahmen.
Ein mehrfach kolportiertes Beispiel, das recht drastisch beleuchtet, wie wenig betriebswirtschaftliche Rationalität und Kostenminimierung mit gesellschaftlicher Vernunft und Sparsamkeit zu tun haben, ist die Herstellung von Orangensaft. Im Durchschnitt konsumiert der durstige Bundesdeutsche 21 Liter Orangensaftgetränk pro Jahr, nicht gerade wenig, wenn man bedenkt, daß die geschätzte Frucht nicht in unseren Breitengraden gedeiht. 80 Prozent der für die Saftherstellung notwendigen Orangen stammen aus Brasilien. 12.000 km legen sie auf ihrem Weg zum Konsumenten zurück. Außerdem wird bei der Erzeugung von einem Liter O-Saft die 22fache Menge an Wasser verbraucht. Damit liegt der Orangensaft aus brasilianischem Anbau aber im Vergleich zu amerikanischem Saft noch sehr günstig. In den Vereinigten Staaten, wo die Orangenplantagen künstlich bewässert werden müssen, entfallen auf einen Liter des begehrten Getränks 1.000 Liter Wasser und 2 Liter Treibstoff.(27) Ein noch viel dramatischeres Bild bietet sich natürlich bei der Produktion komplexer industrieller Güter. Rohstoffe und Teile des Volkswagens etwa stammen aus allen Kontinenten und legen dabei abertausende von Kilometern zurück. Wie die verzweigten und verzwickten Wege der elektronischen und mechanischen Einzelteile für die 55.000 Produkte des Siemens-Imperiums verlaufen, können nicht einmal mehr die eigenen Manager angeben.(28) Kreuz und quer über den gesamten Globus werden Millionen Tonnen von Gütern »kostengünstig« hin und her bugsiert. Ähnliche oder gleiche Produkte wandern in alle Himmelsrichtungen bei enormem »Zeitaufwand« nicht selten mehrmals aneinander vorbei und verpesten dabei die Luft, verzehren Energie und rauben zahlreichen Menschen die Nerven. Es erübrigt sich, die ökologischen Folgeschäden, die als »Nebenprodukt« bei einer solchen Herstellungs- und Verteilungsweise anfallen, hier im einzelnen auszubreiten.
Einer der exponiertesten Kritiker dieser Art »ökonomischer Vernunft«, Winfried Wolf, beschränkt sich nicht darauf, den grotesken Transportaufwand zu kritisieren, der mit dem laufenden Globalisierungsprozeß immer aberwitzigere Formen annimmt. Er weist darauf hin, »daß weit über 50 Prozent der Produkte und Dienstleistungen, die im hochindustrialisierten Kapitalismus hergestellt werden, unsinnig und destruktiv sind, was durchaus von einem großen Teil der Bevölkerung auch so gesehen wird.«(29) Würde die Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen ökologisch sinnvoll gestaltet und von destruktiven Elementen befreit, dann wäre »ausreichend Spielraum für die Verteilung sinnvoller, gesellschaftlich notwendiger (Haus-, Büro-, Fabrik-, Land-, usw.) Arbeit« vorhanden, und dennoch wäre gleichzeitig eine bedeutsame Reduzierung der »Arbeitszeit« pro Kopf möglich.(30) Gegen den häufig angeführten Einwand, solch eine »Traumtänzerei« wäre aus Kostengründen nicht finanzierbar und damit unrealisierbar, führt Wolf die Folgelasten der Elendsverwaltung (Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe etc.) ins Feld. Ohne diese Ausgaben und mit Hilfe einer Umverteilung des angesparten Vermögens von 3 Billionen DM allein in der Bundesrepublik könne einiges erreicht werden, meint er. So bemerkenswert und konsequent Wolfs Kritik an zentralen Momenten der konsumistischen Lebensweise, der Ressourcenverschwendung und der ökologischen Zerstörung ist, so entwerten doch leider seine Illusionen über die Möglichkeiten von Marktregulation dieses Verdienst.(31) Seine Position ist gerade in dieser Hinsicht aber repräsentativ für nahezu das gesamte etablierte Spektrum »altemativer Wirtschaftspolitik«, die so verzweifelt wie erfolglos sich darum bemüht, kapitalistische Ökonomie und Ökologie irgendwie in Einklang zu bringen.
Andere Autoren, die ihre Kritik aus anarchistischen und kleinbürgerlich-revolutionären Quellen beziehen und sich bei Rousseau, Bakunin oder Gesell anlehnen, preschen mit ihrer Kritik scheinbar ein ganzes Stück weiter vor. Sie begnügen sich nicht mit monetären Umverteilungsphantasien, sondern kratzen – zumindest auf den ersten Blick – am Glanz des Geldes. Die ganz Waghalsigen postulieren sogar dessen Abschaffung, in der Hoffnung, so die ökonomischen Krisen lösen zu können. Dabei erkennen sie das Geld indes nicht als den notwendigen Ausdruck allgemeiner Tauschverhältnisse, sondern halten es für eine eigenständige Instanz, die sich beliebig beseitigen ließe oder deren Charakter man einfach uminterpretieren könne. Dementsprechend verfallen sie keineswegs auf die Idee, an den Tauschverhältnissen selbst zu rütteln. Im Gegenteil, diese gelten ihnen als das natürliche Prinzip gesellschaftlicher Beziehungen. Selbst wenn sie sich das Geld wegdenken, der tiefersitzende Tauschwertfetisch hält ihr Bewußtsein gefangen. Deshalb können auch sie sich eine selbstbestimmte Produktion und Verteilung von Gütern ohne Tausch und ohne Leistungskriterien schlechterdings nicht vorstellen und führen das abstrakte Vermittlungsmedium Geld, oft ohne sich dessen überhaupt so recht gewahr zu werden, in anderem Gewand wieder ein. »Naturaltausch«, »Schwundgeld«, »Leistungsvergleiche«, »LET Systeme«, »Stundenzettel« etc. sollen an die Stelle monetärer Verrechnung treten und deren schädliche Auswirkungen tilgen.(32)
Näher besehen machen diese Konzepte allesamt den Eindruck, als solle zwar das Ei beseitigt, die Henne jedoch nicht geschlachtet werden. Gerade das entscheidende gesellschaftliche Problem wird nämlich ausgeblendet: Schon die Reduktion des Konkreten und Besonderen auf vergleichbare und quantifizierbare »Zeiteinheiten« degradiert gesellschaftliche Nützlichkeit und Verträglichkeit von Produkten qua Prinzip zur Nebensache, die keine systemische Berücksichtigung finden kann. Die Geldlogik ist nur die Erscheinungsform dieses basalen Verhältnisses. Dieses Grundproblem wiederholt sich auf der Ebene der sozialen Beziehungen, und auch hier bleiben diese Taschenspieler jede Antwort schuldig. Mit dem Warentausch ist bereits die Trennung der Produzenten, der Zwang zu individueller Reproduktion sowie die prinzipielle Gleichgültigkeit der Individuen gegeneinander gesetzt. Wenn sich jemand des Anderen erbarmt, sich mit Mittellosen solidarisiert oder etwas spendet, bleibt das unter dem Regiment des Tausches eine rein individuelle, ethisch-moralisch motivierte Tat.
Auch die Kirchen, die ihre Existenzberechtigung nun einmal von der göttlichen Moral und der Ethik und nicht vom Markt beziehen, kommen angesichts der Doppelmisere von Arbeitsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat nicht umhin, sich mit den Ursachen der sozial verheerenden weltlichen Lebenspraxis auseinanderzusetzen. Einige ihrer frommen Glieder haben die Geldkritik für sich entdeckt. Die klerikal unterfütterte Polemik gegen die Herrschaft des Geldes klingt zunächst ganz forsch, ja bisweilen ketzerisch und fast revolutionär. Letztendlich landet sie indes doch wieder beim »guten« und »gerechten Geld«, bei einer Vorstellung also, die andere Schwestern und Brüder vor wenigen Jahren zur Gründung einer eigenen Bank bewogen hat.
Die christliche Gelddebatte bringt recht kuriose Stilblüten hervor. Da es mir nur um den Gesamttenor dieser Pseudokritik geht, genügt an dieser Stelle ein charakteristisches Exempel, das wir dem Domkapitular Wolfgang Sauer verdanken: »Nun ist freilich das >Gut Geld<, das ich hier unbeschwert und positiv beschreibe, immer in Händen von Menschen, die aus der in sich neutralen Ware Geld gleichsam >durch Ansteckung< immer auch etwas Fragwürdiges oder gar Gefährliches machen können, neben all den Segnungen, die durch Geld und Reichtum in die Welt geflossen sind und fließen«, so dieser tapfere, mit den Schwächen der menschlichen Seele vertraute Christ in seinem Artikel »Unser Umgang mit Geld – Ein Anstoß zum Nachdenken.«(33) Diese Wendung kann nicht überraschen. Solange die Struktur selbst nicht ins Visier der Kritik genommen wird, mündet das Beklagen von Oberflächenphänomenen fast zwangsläufig entweder in illusorische links-etatistische Umverteilungsmodellen oder in rechtskonservative Appelle an die Moral.
Auch können die systembedingten Irrationalitäten im Kreislauf der kapitalistischen Produktion und Distribution nur sehr unzureichend erfaßt werden, wenn die Warenform nicht selbst in Frage gestellt wird. Wer den virtuellen Standpunkt einer Re-Produktionsform bezieht (34) die auf selbstbestimmte Bedürfnisbefriedigung(35) ausgerichtet ist und gebührend Rücksicht auf die ökologischen Lebensgrundlagen nimmt, für den oder die stellt sich der größte Teil aller im Kapitalismus verrichteten Arbeiten als gigantomanische »Zeitverschwendung« dar, gegen die sich die von Ökologen und Pseudo-Geldverächtern kritisierten Transportwege wie kurzweilige Spaziergänge ausnehmen. In dieser Gesellschaft existieren zahllose Arbeitsbereiche, die einzig und allein der Reproduktion der Warenform und somit dem bloßen Systemerhalt geschuldet sind. Diese »Zeitverschwendung« kann aber nur thematisiert werden, wenn die Warenform selbst ins Visier der Kritik gerückt wird und nicht durch die ideologische Hintertür gerettet werden soll.
4.1 Die in der bloßen Geldverwaltung gebundene Lebenszeit
Tauschen bedeutet zunächst einmal Kaufen und Verkaufen. Vorderhand springt denn auch die Existenz eines umfänglichen Bereichs ins Auge, der diese milliardenfachen Transaktionen ermöglicht, also die Sphäre des Handels: Menschen beschäftigen sich den ganzen lieben Tag lang mit dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen. Sie fahren oder laufen durch die Gegend, um anderen Kosmetika, Staubsauger und Computer anzudrehen; sie stehen in Läden, Markthallen und Kaufhäusern vor und hinter aufgetürmten Warenbergen herum oder kauern vor auf verpesteten Gehsteigen ausgebreiteten Tüchern; sie hängen in schicken Büros an Telefon, Fax und PC, akquirieren und schließen Verträge ab; sie sitzen an Fließbandkassen oder quetschen sich durch verqualmte Kneipen, um eine Rose loszuwerden. Verkäufer verkaufen an Wiederverkäufer, die zum Wiederverkauf an andere Wiederverkäufer weiterverkaufen etc. pp. Wo verkauft wird, wird gekauft. Wiederum Abermillionen Menschen sitzen in speziellen Abteilungen und kaufen für ihre Produktions- und Dienstleistungsbetriebe Rohstoffe, Halbfabrikate, Maschinen, Waren und Arbeitskräfte ein. Zahllose Stunden vergehen im Stau, im Kaufhaus, beim Schlangestehen, in Auto, Bus und Bahn, damit die Endverbraucher ihre notwendigen Konsumgüter ergattern und ihre Schnäppchen machen können.
Das die Tauschakte vermittelnde Geld muß in seinen unterschiedliche Existenzweisen stets aufs Neue geschaffen, vermittelt und abgesichert werden. Ob Bargeld, Schecks, Kreditkarten, schriftliche oder elektronische Überweisungen, alle monetären Transaktionen ziehen einen gewaltigen Rattenschwanz an Aktivitäten nach sich und damit einen »Zeitaufwand«, der ohne weiteres mit dem der Verkaufssphäre konkurrieren kann. Da haben wir zunächst die materielle Herstellung von Bargeld, Schecks, Überweisungsformularen und Wertpapieren; des weiteren die (Mensch und Natur vergiftende) Förderung von Gold- und Silbererz, dessen Verarbeitung, den weltumspannenden Transport und die Einlagerung zur Geldwertsicherung. Der weitaus größte »Zeitaufwand« fällt mit der Buchgeldschöpfung und der Abwicklung des Geldverkehrs an. Hierzu bedarf es unzähligen Personals, das an Schaltern, Computern und Schreibtischen in den zahlreichen Banken und Kreditinstituten sein Leben fristet. Geld ist Eigentum und steht daher niemandem per se und schon gar nicht in beliebiger Menge zu. Es muß daher vor unbefugtem Zugriff geschützt werden. Vom Bankangestellten und dem Nachtwächter, dem Polizeibeamten und dem Computerspezialisten bis zum finster dreinblickenden »Schwarzen Sheriff« widmen sich zahllose Beschäftigte tagaus, tagein einzig und allein dem Schutz des Mammons.
Eigentum und Habgier, Armut und Reichtum fordern zu Streit und Diebstahl heraus. Richter und Anwälte schlichten, richten und lassen in Gefängnissen sühnen, deren Erhaltung, nebenbei bemerkt, ebenfalls mit großem personellen wie finanziellen Aufwand verbunden ist.
Aufbewahrtes Geld kann sich, bei etwas Phantasie, auf wundersame Weise »vermehren«: Hunderttausende Banker, Broker, Spekulanten, Groß- und Kleinanleger und viele viele andere Glücksritter widmen sich weltweit dieser heiligen Mission.
Wo sich Banker tummeln, da sind auch Versicherungshaie nicht weit. Ihre Existenz verdanken sie der speziellen Manier der bürgerlichen Gesellschaft, jeden Schaden, sei er ideeller, Bach- oder personenbezogener Art, in Geldquanta auszudrücken. Gefühle, Gedanken und Körper bilden ein Puzzle aus addierbaren Wertgrößen, die sich u. a. durch die Höhe des zu leistenden Tributs und die quantifizierten Auswirkungen eventueller Schadensfälle bestimmen. Raquel Welchs Busen macht 10 Mio. Dollar, mein Daumen vermutlich 5.000 DM und der Kopf des Obdachlosen null Komma nix. Versicherungen verwalten nicht nur Geld, sie senden auch tausendfach Hausierer in die Lande, die die Leute nachdrücklich auf ihre bedrohlichen Lebensumstände aufmerksam machen. Die allgemeine Absicherung und Kontrolle des in Geldeinheiten abstraktifizierten und quantifizierten Eigentums der Bürger erfordert eine ununterbrochene Zählung, Abrechnung, Kontrolle und Buchung in allen ökonomischen Bereichen und Sphären. Heerscharen von Berufstätigen bevölkern Büros, kaufmännische Abteilungen und Controllingfirmen, um sich diesen ehrenwerten Arbeiten partiell oder mit ihrer gesamten Arbeitskraft zu verschreiben. Selbst beim kleinsten Handwerksbetrieb fällt eine stetig wachsende Masse an steuertechnischen und kaufmännischen Tätigkeiten an, die zur eigentlichen Dienstleistung gar nichts beitragen.
Die Warengesellschaft bedarf zu ihrer Reproduktion und Absicherung einer besonderen staatlichen Sphäre. Dieser Sektor kann sich selber aber nur reproduzieren, indem er sich beständig Finanzmittel verschafft, d.h. das Finanzgebaren der Bürger überwacht und eine begrenzte Umverteilung von Geldwerten organisiert. All das ist aber ebenfalls wiederum mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden. Weltweit müssen Hunderttausende von Finanzbeamten Daten überprüfen, nehmen Rückzahlungen vor, mahnen Nachzahlungen an und leiten Gelder an die Staatskasse weiter, die dort von einem enormen Stab an Sachkundigen und weniger Sachkundigen auf allen Ebenen verwaltet, verteilt und verplempert werden müssen. Nicht jeder hat es gern, wenn Big Brother gierig auf seine Geldbörse schielt. Zum Schutz davor gibt es Steuerberater, Steueranwälte, Geldwäscher, Fluchtgeldvermittler, Anlageberater und andere ehrenwerte Gestalten, die stets in ausreichender Zahl für solche Fälle zur Verfügung stehen. Die Hobby- und Berufspolitiker füllen den überwiegenden Teil ihrer »Zeit« mit Überlegungen, Beratungen und Abstimmungen über Geldverteilungskriterien sowie über deren rechtliche und praktische Umsetzung aus. Sie widmen sich der intensiven Kontaktpflege zwecks Geldakquise, was sie mitunter zwingt, ausgedehnte Dienst- und Amigoreisen über sich ergehen zu lassen.
Nahezu jede öffentliche und private Dienstleistung fordert ihren Preis. Bei der Post verbringen die Bediensten weniger als die Hälfte ihrer »Arbeitszeit« mit Tätigkeiten wie dem bloßen Brief- und Paketumschlag und der dazu notwendigen Planung und Logistik. Vielmehr ist der Großteil der Belegschaft mit einfallsreicher Gebühreneintreiberei, vom Briefmarkenverkauf bis zur Ausleihe von Frankiermaschinen und der Verwaltung und Abrechnung der Einnahmen, beschäftigt.
Selbst der Einsatz öffentlicher Verkehrsmittel verlangt nach einer großen Schar von Fahrkartenverkäufern, Fahrkartenautomatenaufstellern und Kontrolleuren. Sogar manch Bus- oder Bahnfahrerln muß noch so nebenbei als Kassiererin fungieren. Die Deutsche Bahn AG beglückt neuerdings jeden einzelnen Unternehmensbereich mit einer eigenen gigantischen kaufmännischen Verwaltung.
4.2 Stoffliche Reichtumsverschwendung in der Distribution und Zirkulation
Auch die Produktionssphäre, die vielen Gesellschaftskritikerinnen traditionell als die gute, bodenständige Seite der Marktwirtschaft erscheint, ist in diesen bloß systemerhaltenden Kreislauf der Verschwendung menschlicher Lebensenergie und -zeit direkt eingebunden. Denn die Verteilung der Dienstleistungs- und Warenflut nach den Prinzipien der Warenform nimmt einen enormen Teil des Produktions- und Logistikaggregats in Anspruch. Dies erstens, weil ein großer Teil der Überkomplexität und des stofflichen Aufwands in den Produktionskreisläufen, wie oben am Beispiel des Joghurts und des Orangensafts illustriert, einzig und allein auf das Prinzip der betriebswirtschaftlichen Rentabilität zurückgeht. Zweitens aber nimmt auch die Verkaufs- und Verwaltungssphäre einen großen Teil der gesellschaftlichen Produktion direkt in Anspruch. Dies beginnt mit den notwendigen Gebäuden, vom Wolkenkratzer über die Kaufhalle bis zur Pommesbude, die erst einmal gebaut sein wollen.
Ein Blick auf Innenstädte und Gewerbegebiete läßt ahnen, welche umbauten Flächen ausschließlich diesem Zweck geopfert werden, während Wohnraum beengt und chronisch knapp bleibt. Die Subsumtion der gesellschaftlichen Reproduktion unter die Warenform macht eine unübersehbare, allein an diesen Zweck gebundene Infrastruktur notwendig: Verkaufs- und Transportfahrzeuge, Geschäftswagen; Regale, Lager, Gefriertruhen, Dekorationen; Registrierkassen und Geldkassetten; Pappe, Papier, Farben und Tinten für Werbeblätter, Verträge, Rechnungen, Kassenbons und Verkaufsverpackungen in gigantischen Mengen; Computer, Handies, Faxgeräte, Möbel, Kopierer, Bleistiftspitzer und tausende andere Gegenstände mehr.
Geschäftemachen verlangt Präsentation und Repräsentation. Textil-, Schmuck- und Lederindustrie halten hierfür unerschöpfliche Varianten von Bekleidung und sonstige Accessoires bereit. Die Geldverwahrung, Geldvermehrung, Geld- und Eigentumssicherung erfordert Bankgebäude, Börsenlokale, Büroräume ohne Ende; sie setzt Keller, Bunker, Tresen, Rechner, Safes, Sicherungsanlagen, Kassetten, Überwachungskameras, Riegel, Panzerglas, zahllose kleine und große Türen, Schlösser sowie Sparschweinchen für die Kleinen voraus.
Auch mittelbar beeinflußt die Geldlogik den Produktionsaufwand. Unaufhaltsam hat sie alle alten Gemeinschaftsformen gesprengt und eine auf sich selbst zurückgeworfene Geldmonade zurückgelassen. Kleinfamilien- und Singledasein haben die Re-Produktion und die Konsumgewohnheiten gründlich verändert. Die Versorgung der Kleinhaushalte mit Individual- oder Familienportionen potenziert die Verpackungsflut und macht besondere Produktionsanlagen zur Abfüllung von Minimalmengen in Flaschen, Dosen, Becher usw. notwendig. Der Rohstoffverbrauch schnellt dabei, trotz Recycling, unablässig in die Höhe. Jeder Haushalt verfügt über eine eigene gar nicht so kleine »Mini-Infrastruktur«, vom Herd über den Kühlschrank bis zur Waschmaschine. Individuelle Mobilität verlangt nach individuellen Verkehrsmitteln und getrenntes Wohnen nach entsprechend gestaltetem Wohnraum.(36)
Selbst bei intensivster empirischer Forschung dürfte es schwierig sein, den für die Warenzirkulation und Wertrealisation verausgabten »Zeitanteil« in der Produktionssphäre exakt zu ermitteln, da sich oftmals nicht genau erkennen läßt, welcher Bestimmung die eine oder andere Arbeit oder dieser oder jener Rohstoff zugeführt wird. Nach meiner Schätzung könnte der Anteil bei ungefähr 60 Prozent liegen. Schließt man außerdem noch die Produktion destruktiver Güter, vom Panzer bis zum Atomkraftwerk, in diese Rechnung ein, dann dürfte der nicht monetär bedingte, auf die tatsächliche Reichtumsproduktion entfallende Anteil an der derzeit verausgabten gesellschaftlichen »Arbeitszeit« auf 25 bis 30 Prozent zusammenschnurren.
4.3 Tauschen muß gelernt sein
Diese noch vorsichtige Schätzung deckt die formbedingte gesellschaftliche »Zeitverschwendung« noch immer nicht völlig ab. Damit all die anfallenden Arbeiten in Produktion, Verwaltung und Distribution auch entsprechend qualifiziert geplant und ausgeführt werden können, bedarf es zusätzlich auch noch ganzer Legionen von Lehrern, Dozenten, Professoren, Unterweisern und anderer Spezialisten, die sich den entsprechenden Aus- und Fortbildungen hauptberuflich widmen. Wenn wir das mitberücksichtigen, dann läßt sich beim besten Willen nicht mehr ausrechnen, wieviel gesellschaftliche Arbeit ausschließlich der monetären Grundlage entstammt oder ihrem Erhalt dient.
Aber nicht nur die Sphäre der Erwerbstätigkeit ist von der Wert- und Warenform durchsetzt. Auch die Privatsphäre entkommt ihr nicht. Bis das Tauschprinzip »Äquivalent gegen Äquivalent« Bewußtsein und Unterbewußtsein durchdrungen hat und die intimsten Regungen steuert, muß enorm viel »Zeit« investiert werden. Wieviel Stunden mit Kampf und Krampf ins Land gehen, wieviel Tränen fließen, bis Kinder auf das Geld zugerichtet sind und endlich »verstehen«, daß eine Puppe keine Puppe, sondern nur ein Wertding von 29,99 DM ist, können die geneigten Leserinnen und Leser genauso gut wie ich beurteilen. Wieviel »Erziehungsarbeit« wird geleistet, bis im Restaurant der Teller leergegessen wird, selbst wenn der Bauch schon platzt, weil die Pizza eben keine Pizza, sondern ein entgoltener Wert von 12,50 DM »ist«? Verschenkt wird nichts! Jahre gehen ins Land, bis der Zögling einsieht, daß ihm Gebrauchsdinge nicht einfach zustehen, sondern einen Preis haben. Welche Zurichtung ist erforderlich, bis ein Mensch vor der gefüllten Schaufensterauslage verhungert, anstatt sich zu nehmen, was er zum Leben braucht? Wieviel »Zeit« verstreicht, bis man Gefühle »investiert« und nur gegen entsprechende Äquivalente eintauscht? Man braucht nur einen Augenblick darüber nachzudenken, wieviel Gespräche und Auseinandersetzungen sich im Leben um Geld und Preise drehen, um zu erahnen, in welchem fetischhaften Bann wir stehen.
Angesichts der schwindenden Wertmassen, bedingt durch den sinkenden Einsatz lebendiger Arbeit, verschärft sich der Konkurrenzkampf um die noch erzeugten Wertanteile auf allen Ebenen. Immer mehr Menschen halten den mörderischen Existenzkampf nicht mehr durch und werden zeitweilig oder definitiv vom legalen Gelderwerb ausgeschlossen. Gedanken über andere Geldbeschaffungsmaßnahmen drängen sich dann immer mehr in den Vordergrund und beanspruchen entsprechende »Zeit«. Der Zwang zur Marktbehauptung beflügelt die Phantasie. Alles muß in die Geldform hinein. Keine menschliche und natürliche Lebensäußerung entkommt ihrer Hinrichtung auf die Marktfähigkeit: Menschen werden vermietet oder als Sklaven verkauft, als »Ersatzteillager« gehalten und bei Bedarf zur Operation frisch auf den Tisch serviert. Nur das ständig sich distanzierende Bewußtsein eines bürgerlichen Individuums kann den Gedanken ertragen, im Körper das Herz eines eigens dafür entführten und geschlachteten Artgenossen zu tragen, wohl indem es sich suggeriert, man habe ja schließlich selbst dafür »geblutet«. Momentan sind wir Zeugen einer »zeitintensiven« Marketingkampagne, die uns von den Vorteilen einer Patentierung menschlicher, tierischer und pflanzlicher Gene überzeugen möchte, mit dem Ziel, auch noch dem kleinsten DNS-Abschnitt einen Preisstempel aufdrücken zu dürfen und die Natur restlos in den »zeitverschlingenden« Reißwolf des Tauschwertkreislaufs hineinzupressen.(37)
Der Versuch, die vom Kapitalismus erzeugten Probleme systemimmanent zu »lösen«, regt eine schier unerschöpfliche Phantasie an. Die durch all die Umwege erzeugte »Zeitknappheit« schreit geradezu nach einer Branche, die bei der individuellen »Zeitbewältigung« behilflich ist. Kontaktbüros vermitteln PartnerInnen, die mangels »Freizeit« nicht selbst erobert werden können. »Zeitseminare« lehren Managerinnen und Manager, das knapp gewordene Gut effizient und nutzenmaximiert zu verbrauchen. Fehlt die »Zeit« zum Kochen, kommt die Pizza in’s Haus, und die Planung für die nächste Reise übernimmt notfalls eine Agentur. Wer trotz all dieser nützlichen Hilfsleistungen immer noch nicht in der Lage ist, dem Streß zu entkommen und darob eines Tages zusammenklappt, braucht sich auch dann nicht zu sorgen (vorausgesetzt, er verfügt über das nötige Kleingeld oder ist gut versichert): Kuren, Erholungsreisen, Solarien, Rekreationsfarms, Spezialkliniken, Yoga und Tantracenter sorgen für eine kurze »Auszeit« und machen ihn wieder fit für die Tretmühle.
Wenn man nun die gesamte »Zeit« zusammenfaßt, die in allen Sphären unmittelbar oder mittelbar dem goldenen Kalb der Warenproduktion und Tauschwirtschaft geopfert wird, kommt man sicher gut und gerne auf 80 Prozent. Niemals zuvor hat sich der homo sapiens einen derartigen »Zeitaufwand« geleistet, um in den Genuß der Resultate seiner Arbeit zu kommen, und niemals war er dabei so nahe an der völligen Zerstörung seiner Psyche, Physis und natürlichen Umgebung. Die Marktwirtschaft gleicht einer gigantischen »Zeitraubmaschinerie«, die von Arbeitsameisen in Schwung gehalten wird, deren Arbeits- und Leistungsstolz sich vor diesem Hintergrund als lebensgefährliche Dummheit entpuppt. Wer sich zur Tauschwirtschaft bekennt, bekennt sich zu diesem monumentalen Wahnsinn, der seiner Logik nach nur im allgemeinen Exitus enden kann.
5. »Utopisches« zur Überwindung von Tausch- und »Zeitdiktatur«
Nach dem bis hierhin Ausgeführten läßt sich nun nachvollziehen, warum die Lebensgestaltung, trotz aller technologischer Errungenschaften, so »zeitaufwendig« und streßbehaftet bleibt. Erst die Sprengung der Geldfessel könnte eine günstige Ausgangskonstellation für die Gestaltung einer neuen Gesellschaft schaffen, in der das immense, von der Marktwirtschaft erzeugte, jedoch gleichzeitig gefangen gehaltene »Zeitpotential« »freigesetzt« und damit das Ende der »wirklich gewordenen Zeit« überhaupt eingeläutet wird. Wenn der fetischistische Zwang entfällt, die Welt auf abstrakte Wert- und »Zeit«quanten zu reduzieren, dann richtet sich der Einsatz moderner Technologie nicht mehr automatisch gegen Mensch und Natur, und es besteht die Möglichkeit, die Re-Produktion auf hohem Produktivkraftniveau nach bewußt bestimmtem Rhythmus zu gestalten.(38) Fortan könnte sich die Gesellschaft in »kreativem Müßiggang« ihrer dringlichsten Aufgabe widmen: der Aufhebung der Arbeits- und Sphärenteilung.
Die Verwertungsmaschinerie hat mit ihrem Siegeszug die produktiven Potenzen der Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten immer mehr für sich monopolisiert. Im gleichen Maße wie mit der Verallgemeinerung der Warengesellschaft ein immer dichteres Geflecht von ausdifferenzierten Berufen und Sphären entstand, wurden die einzelnen dazu verdammt, bloße Teilfunktionen zu erledigen. Auf diese Weise bildete sich ein gemessen an den gesamtgesellschaftlich akkumulierten Fähigkeiten und Kenntnissen vereinseitigter Menschentypus heraus, der nicht so ohne weiteres imstande wäre, eine umfassende kollektive Planung und Organisation gesellschaftlicher Aufgaben zu bewerkstelligen. Andererseits müssen bereits heute immer mehr flexibilisierte metropolitane Individuen zwangsläufig wachsendes Wissen und weitergehende Kompetenzen erwerben, allein um ihre Arbeitskraft überhaupt noch verkaufen zu können. Dies kumulierte Wissen sprengt oftmals den Rahmen beruflicher Erfordernisse und kann durchaus den Wunsch nach umfassenderer, kreativer und selbstverwirklichender Tätigkeit wecken.
Eine direkt vernetzte moderne Gesellschaft kann ohne universell befähigte Menschen nicht auskommen. Andererseits böte eine Gesellschaft ohne die Praxis des Tausches erstmals die Chance, solch ganzheitliche Persönlichkeiten hervorzubringen.(39) Schon im Kampf um die Abstreifung der Geldfessel werden die beteiligten Menschen Kooperation und gegenseitige ungehinderte Wissensvermittlung erlernen müssen .(40) Die Geldwirtschaft verschwindet schließlich nicht mit einem lauten Knall. Vermutlich entstehen während eines zugespitzten Krisenverlaufs verschiedenste Notformen der gemeinschaftlichen Re-Produktion zur Sicherung des blanken Überlebens. Sollte es gelingen, die Tauschökonomie zu überwinden, ohne in eine neue moderne Barbarei abzugleiten, dann wird jedenfalls die kontinuierliche Absprache über die Gestaltung des Lebensalltags in all seinen Facetten zur vorrangigen menschlichen Aktivität. Was, wann, wie und zu welchem Zweck produziert werden soll und wie die Verteilung der Güter zu gestalten ist, muß dann beständig allseitig geklärt werden. Dies würde einschließen und voraussetzen, die abstrakte, von der Reproduktion abgekoppelte und in einer getrennten Lernsphäre (Schule, Universität) vollzogene Vermittlung von Wissen zugunsten einer an die immer vielfältigere Gestaltung des Lebensalltags gekoppelten, ununterbrochenen Wissenserweiterung aufzuheben. Dabei ginge es beileibe nicht darum, lauter Individuen mit exakt gleichen Kenntnissen und Fähigkeiten heranzubilden, wie es dem platten Egalitarismus der meisten traditionellen Sozialismus- und Kommunismusvorstellungen enstpricht. Vielmehr sollten sich erstmals wirklich die individuellen Fähigkeiten uneingeschränkt entfalten können.
6. Das Ende der »notwendigen« und der »disponiblen Zeit«
Zu guter Letzt möchte ich noch auf ein schwieriges Problem zu sprechen kommen, das in den diversen Utopiedebatten einen wichtigen Platz eingenommen hat und, wie mir scheint, bis heute nicht befriedigend geklärt ist. Es geht um die schon von Marx vorgenommene Trennung der gesellschaftlichen Re-Produktion in eine Sphäre der »notwendigen« und eine der »disponiblen Zeit«. In der oben angedachten neuen Gesellschaft würde sich diese Einteilung, die bis hin zu André Gorz so vielen Theoretikern Kopfzerbrechen bereitet hat, von selbst erledigen. Allgemein war und ist die Vorstellung verbreitet, in einer kommunistischen Gesellschaft müßten alle Menschen eine bestimmte, wenn auch nur noch geringfügige »Zeit« mit der handwerklichen, industriellen und landwirtschaftlichen Güterherstellung verbringen. Die verbleibende »freie Zeit« könne dann jedermann und jedefrau nach eigenem Gusto gestalten.(41) In der Regel liegt hier, seltsamerweise bis heute, eine recht vorsintflutliche Vorstellung von der Produktionssphäre als einem Bereich vorwiegend manueller Tätigkeiten vor (was bei Marx angesichts der Verhältnisse im 19. Jahrhundert vielleicht noch verständlich war), während das akkumulierte Wissen und die geistigen Tätigkeiten als Produktivkraft ausgeklammert bleiben.
Genau dieses Moment bestimmt aber längst, selbst noch unter kapitalistischen Bedingungen, die modernen Produktionszusammenhänge. Das enorme geistige Potential, das ihnen vorgelagert ist und auch während der Fabrikation ununterbrochen eingesetzt werden muß, kann offensichtlich nicht eindeutig den genannten Sphären zugeteilt werden. Die Schaffung dieser geistigen Fähigkeiten erfordert immer längere Lernphasen im Leben der einzelnen. Heute umfaßt die Schul- und Hochschulausbildung eine Periode von acht bis zwanzig, manchmal auch mehr Lebensjahren, in denen die geistigen Grundlagen sowohl für die spätere Arbeit in der Produktionssphäre als auch für die freie Betätigung in der sogenannten »freien«, »disponiblen« oder »autonomen Zeit« gelegt werden. Dieser enorme »Zeitraum« läßt sich in der Tat weder einer Sphäre der »disponiblen« noch der »notwendigen Zeit« zurechnen. Zudem kann ein großer Teil des erworbenen Wissens später sowohl beruflich als auch außerberuflich eingesetzt werden. Während dieser ersten ausgedehnten Lernphase bewegt sich das Individuum in einer dritten abgetrennten Sphäre, die sich als Lernsphäre bezeichnen ließe. Weder ist es produktiv tätig, noch gestaltet es seine »Zeit« autonom.(42)
Wer bereits in die Erwerbstätigkeit eingetreten ist, muß zunehmend freie »Zeit« für eine Erweiterung seines Wissens nutzen. Diese Zusatzqualifikation läßt sich genausowenig nur in einem Bereich anwenden wie das schulische Wissen. In der »Freizeit« angeeignete Computerkenntnisse können ebenso zu »Hobby«-Zwecken, beispielsweise der Konstruktion eines Segelbootes, eingesetzt werden wie zur Herstellung von Werbeflugblättern für die Vermarktung irgendeines Produkts. Eine in Abendkursen erlernte Sprache kann dem privaten Dialog mit fremdsprachigen Freunden, aber auch zu Verhandlungen mit ausländischen Geschäftspartnern dienen. Der beständige Lernprozeß und der Einsatz der geistigen Potenzen läßt sich schon heute nicht mehr sphärenmäßig zurechnen. Wenn aber der heutige Zustand schon über die an sich antiquierte Sphärentrennung hinaustreibt, dann wäre es vollkommen unsinnig, sie ausgerechnet in einer postkapitalistischen Gesellschaft wieder restaurieren zu wollen, wie dies etwa bei Gorz recht deutlich aufscheint.(43) Würde sich in einer solchen Gesellschaft ein »frei assoziiertes Individuum« Gedanken über die phantasievolle Gestaltung eines neuen Wohngebäudes machen, Entwürfe dafür zeichnen, sie seinen Mitmenschen vorlegen und gemeinsam diskutieren; sich sodann an der Planung und Ausführung beteiligen; sich anschließend zurückziehen, Musik hören; dann ein Bild für das neue Gebäude malen und auf der Einweihungsfeier vorrappen: bei welcher dieser Tätigkeiten wurde »notwendige« – und bei welcher »fakultative Zeit« »verausgabt«? Was soll eine solche Zuordnung überhaupt bezwecken? Gewonnen wäre damit gar nichts. Alles was gedacht und getan wurde, diente untrennbar sowohl der angenehmen, kreativen individuellen als auch der gesellschaftlichen Entfaltung und Reproduktion. Solche Zuordnungen machen nur für ein bürgerliches Bewußtsein Sinn, das die einzelnen Tätigkeiten und deren Resultate doch wieder in ein Wertmaßstabskorsett zwängen möchte, um die individuelle Leistung bemessen zu können und Quanta »notwendiger« Zwangsarbeit für alle zu verteilen. Unter der Tischdecke lugt wieder das verinnerlichte, reaktionäre Tauschprinzip hervor, das eine Verteilung des kollektiven Gesamtprodukts nach Leistungs- und »Arbeitszeit«kriterien verlangt.
Fußnoten
1) Weshalb alle Zeitattribute in Anführungszeichen stehen, wird sich gleich im ersten Abschnitt klären.
2) Vgl. SPEX Nr. 10, Oktober 1996, »Revolution Incorporated« von Tom Frank, S. 48. Ein empfehlenswerter Artikel über die neuen Trends zur ultimativen Ausbeutung durch die postmoderne Corporate-Identity-Revolution in den USA.
3) Nach Aussagen der Krankenkassen erliegen pro Jahr ca. 200 000 Menschen allein in der Bundesrepublik streßbedingten Herzinfarkten!
4) Vgl. SPEX, ebenda.
5) In diesem Text greife ich immer wieder auf solche Zeitmetaphern und Attribute zurück, weil ich noch nicht über eine »neue Sprache« verfügen kann, die den Sachverhalt begrifflich auf den Punkt bringt. Bei allen Umschreibungsversuchen bleibt immer das Dilemma, daß viele Begriffe unserer Sprache bereits interpretativ sind und ein bürgerlich geprägtes Verständnis der Vergangenheit transportieren.
6) Kant gilt heute fälschlicherweise vielen als Begründer einer Theorie von der realen Existenz eines Raum-Zeit-Universums. Er vertrat hingegen die Auffassung, daß man über die Realität an sich nichts aussagen könne. Die Begriffe der Dinge seien bloß Gedachte – Begriffe ohne Gegenstand (Noumena). Kants Empiriebegriff weicht von dem heute üblichen ab. Für Kant hatten Raum und Zeit »empirische Realität«, womit gemeint war, daß sie uns lediglich als Realität erscheinen. Tatsächlich aber existieren sie nur »für uns«.
7) G. J. Whitrow, »Die Erfindung der Zeit«, Hamburg 1991, S. 20/21.
8) Vgl. ebenda, S. 21. Whitrow beschreibt detailliert die historisch unterschiedlichen Arten des Zeitsinns. Er spricht indes unterschiedslos von Reflexion, ohne zwischen verschiedenen Denkformen zu unterscheiden. Eine warenformkritische Position kann sich damit aber nicht begnügen. Sie muß die vornehmlich von Psychologen und Ethnologen angestoßene Debatte über Denkformen mitaufgreifen und die Genesis des abstrakt-logischen und theoretischen Denkens mit zum Gegenstand machen. Eine anschauliche Zusammenfassung des derzeitigen Forschungsstandes auf diesem Gebiet bietet Isolde Demele in »Abstraktes Denken und Entwicklung – Der unvermeidliche Bruch mit der Tradition«, Frankfurt 1988.
9) »Insbesondere Drogen oder längere Aufenthalte in einer kalten, dunklen Umgebung, in der keine Uhr zur Verfügung steht, können diese Wahrnehmung empfindlich verzerren« (Whitrow, ebenda, S. 20).
10) Ebenda
11) Ebenda
12) Elias, Norbert: Über die Zeit, Frankfurt 1984, S. B.
13) Ebenda, S. 5. Norbert Elias scheint die Thesen seines Zeitgenossen Sohn-Rethel über den Zusammenhang von Warenform und Denkform entweder nicht gekannt oder sie verworfen zu haben, was insofern nicht verwunderlich wäre, als er sich in seinen Werken immer schon vorwiegend auf der phänomenologischen Ebene bewegte (siehe dazu weiter unten R. W. Müller).
14) Whitrow, The Natural Philosophy of Time, 2. Aufl., Oxford 1980, S. 174 ff.
15) R. W. Müller: Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt (Main)/New York, 1981.
16) Ebenda; Kurzdarstellung vor dem Vorwort.
17) Vgl. ebenda, 5.134 ff.
18) Im Gegensatz zu rudimentären Mengenbestimmungen über konkret-sinnliche Verknüpfungen. Siehe dazu die übemächste Fußnote.
19) Anders ausgedrückt: Der Wert muß noch nicht »zu sich selbst gefunden« haben, was bekanntlich erst mit der kapitalistischen Warenproduktion der Fall ist. Die hier dargestellten Thesen werden vielfach von marxistischer Seite verworfen, weil die genannten gesellschaftlichen Ausdrucksformen, die sogenannten bürgerlichen, erst der kapitalistischen Ökonomie zugeschrieben werden. Demnach muß das abstrakt-logische und theoretische Denken seinen Ursprung anderen Ereignissen oder eigenständigen Gehirnleistungen zu verdanken haben. Besonders interessant ist an Müllers Analyse gerade die gelungene Darstellung der Gemeinsamkeiten und Differenzen, die sich aus der Tauschökonomie und deren besonderen historischen Ausprägungen ergeben.
20) Mengenangaben wurden in vorbürgerlichen Gemeinwesen, soweit bekannt, in sinnlich erfahrbaren Gegenständen angegeben, häufig mittels der Behältnisse oder Körperteile, die sie bargen: »Handvoll«, »Karaffe«, »Sack«, »Amphore«, »Schiffsladung«, »Faß« (barrel, barrel), »Schürze«, »Beutel« etc. Bei manchen (teilweise) entzifferten symbolischen Schriften konnte festgestellt werden, daß Mengenangaben gemeinsam mit dem Bezugsgegenstand jeweils durch ein eigenes Symbol dargestellt wurden. Es bedurfte daher sehr vieler verschiedenartiger Symbole, um Mengen unterschiedlicher Natur ausdrucken zu können.
21) Vgl. Whitrow, ebenda, S. 170.
22) Vgl. ebenda, S. 169
23) Arnold Wagemann, zit. in Isolde Demele: Abstraktes Denken und Entwicklung. Der unvermeidliche Bruch mit der Tradition, Frankfurt/M., S. 7 f.
24) Ebenda
25) Für die »verspäteten« Staaten, die mit Brachialgewalt den Anschluß an die westlichen Industrienationen schaffen wollten oder zu müssen meinten, wurde die Zeitdisziplinierung zu einer existenziellen Frage. Daher lesen sich die Berichte über entsprechende Maßnahmen wie schauerliche Gruselromane. Selbst vor der Todesstrafe für »Zuspätkommen« schreckte man zeitweise unter dem »Licht der Welt«, J. W. Stalin, in der Sowjetunion nicht zurück.
26) Stefanie Böge: Die Auswirkungen des Straßengüterverkehrs auf den Raum – Die Erfassung und Bewegung von Transportvorgängen in einem Produktlebenszyklus. Diplomarbeit am Fachbereich Raumplanung der Universität Dortmund, Juni 1992. Auszug in Psychologie Heute, Mai 1994, S. 30. In der Zeitschrift Stern erschien hierzu ebenfalls eine spektakulär aufgemachte Reportage.
27) Sascha Kranendonk, Stefan Bringezu: Major material flows associated with orange juice consumption in Germany. Fresenius Environmental Bulletin, Vol. 2 No. 8, August 1993. Abdruck in Friedrich Schmidt -Bleek »Wieviel Umwelt braucht der Mensch. MIPS – Das Maß für ökologisches Wirtschaften. Auszug in Psychologie Heute, Mai 1994, S. 25. In den zugrundeliegenden Aufsätzen geht es nicht nur um eine Kritik an den zurückgelegten Strecken, sie enthalten auch eine Bewertung dessen, was nützlich, verträglich oder eben schädlich sei. Ich möchte nicht unbedingt auf Orangensaft verzichten müssen, plädiere aber für eine möglichst ökorationale Produktion und Distribution.
28) vgl. Der Spiegel 2/1993, S. 107
29) Winfried Wolf, »Clockwork Orange – Die Schranke Kapital – Zwei Arten moderner Zeiten«, Sozialismus, 22.4.93 »Thema«.
30) ebenda
31) Die Argumente der von Wolf kritisierten Konservativen sind im Grunde nicht falsch. Sie entsprechen der Kapitallogik, die nicht einfach per idealistischem Willensentscheid außer Kraft gesetzt werden kann. Wolfs alternatives »Zahlenwerk« ist in sich nicht schlüssig, was hier aber nicht weiter aufgerollt werden soll. Nur soviel: Würde man die 3 Billionen DM auf 80 Mio. Deutsche aufteilen, dann stünden jedem Bürger 37.500 DM zu. Das reicht einer Familie gerade mal knapp, um ein Jahr zu überstehen. Würde im übrigen das jetzt weitgehend spekulativ angelegte Geld wirklich anders verteilt und dadurch ausgeben, käme es stante pede zu einer Hyperinflation und die ganze schöne Kaufkraft wäre dahin. Wie gewonnen, so zerronnen.
32) Experimente dieser Art hat es sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene in den Krisenzeiten der 20er und 30er Jahre in den kapitalistischen Ländern gegeben. Ähnliches trifft auf die Anfangsphase der Sowjetunion zu. Sie alle entpuppten sich als kurzlebige Krisenlösungsversuche, die schnell wieder im Geld mündeten. Die heutigen LET-Systeme, wie sie insbesondere in England praktiziert werden, erfassen nur reduzierte Bereiche der Reproduktion und alimentieren sich immer noch existentiell mittels individuellem Gelderwerb.
33) Wolfgang Sauer, im Arbeitsheft »Entwicklung braucht Entschuldung« des Diözesanrates der Katholiken im Erzbistum Freiburg, 1994.
34) Die Schreibweise von Re-Produktion mit Bindestrich soll deutlich machen, daß hier nicht nur der Lebenserhalt durch Konsum angesprochen ist, wie der Begriff Reproduktion häufig meint, sondern die Totalität aller Lebensäußerungen einer Gesellschaft, also auch die Produktion und andere Sphären.
35) Daß die Menschen sich ernähren und durch angemessene Kleidung und Überdachung vor widrigen Umwelteinflüssen schützen müssen, kann als natürliche Konstante angenommen werden. Wie dies jeweils bewerkstelligt wird, hängt ausschließlich von der gesellschaflichen Form ab. Insofern schließt eine Kritik der Warengesellschaft auch die Kritik der heute herrschenden Bedürfnisse ein. Über die Bedürfnisse einer zukünftigen, nicht warenförmig gestalteten Gesellschaft läßt sich in der Hauptsache nur sagen, daß sie einerseits noch aus der vorhergehenden Gesellschaft »ererbte« Komponenten aufweisen und andererseits zunehmend durch die Möglichkeiten einer bewußt und gemeinsam gestalteten Re-Produktion bestimmt sein werden. Eine kommunistische Gesellschaft läßt sich erst realisieren, wenn ein großer Teil der Menschen die eigene Bedürfnisstruktur und -befriedigung in Frage gestellt hat. Bedürfnissen Attribute wie »sinnvoll« oder »falsch« beizumessen, bleibt heute ein schweres Unterfangen, da es sich dabei in erheblichem Maße auch um individuelle, subjektiv-moralische Anschauungen handelt.
36) Aus dieser Darstellung möge man bitte nicht schließen, ich sei ein Apologet der Großfamilie oder des Gemeinschaftssuhlens in kollektiven Kommunardenräumen. Sicher wünsche ich mir neue Gemeinschaftsformen, bestehe aber auf der Möglichkeit zur Privatheit.
37) Die gnadenlos naiven Forderungen manch ethisch und ökologisch rnotivierter KritikerInnen, die die Natur durch ihre »Ökonomisierung« retten wollen, treiben einem die Tränen in die Augen. Als wäre die Marktwirtschaft nicht unablässig dabei, eben dies zu tun. Die heutige Naturzerstörung resultiert ja gerade aus der Ökonomisierung aller gesellschaftlichen und natürlichen Gegebenheiten.
38) Dort wo moderne Technologie eingesetzt wird, muß sich natürlich auch der Rhythmus einer zukünftigen Gesellschaft in begrenztem Maße auf deren Geschwindigkeit einstellen. Doch dies wäre etwas anders, als die ständige Unterwerfung unter das Diktat der Beschleunigung. Handlungsdruck geht auch von der tickenden Zeitbombe enormer ökologischer Erblast aus, deren Entschärfung keinen »Zeitaufschub« duldet. Insofern wird es so schnell keinen vollständig selbstbestimmten Lebensrhythmus geben können. Daß der Lebensrhythmus auch durch die natürliche Umwelt mitgeprägt wird, versteht sich von selbst.
39) Dies mag ein wenig nach abgestandener realsozialistischer Propaganda klingen, doch darum geht es natürlich nicht. Wenn es der »realsozialistische Mensch« nur zur Karikatur eines »umfassenden neuen Menschen« gebracht hat, sich also nicht wesentlich von seinen westlichen Mitbürgern unterschied, dann liegt das in erster Linie daran, daß der Realsozialismus eine Variante bürgerlicher Warenökonomie war, und er deshalb strukturell mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte wie der Westen; dies allerdings auch noch auf weitaus niedrigerem Produktivkraftniveau.
40) Es gehört zu den Schauerlichkeiten der Marktwirtschaft, auch dem Gedankengut durch Patentierung einen Preis zu verpassen, um seine Verbreitung an nicht zahlungskräftige Interessenten zu verhindern. So blockiert man mitunter auch die Einführung naturverträglicher Technologien, sollten sie ein ernste Gefahr für den Absatz schädlicher Produkte darstellen.
41) Marx scheint sich selbst nicht ganz schlüssig gewesen zu sein. Er identifizierte zwar meines Wissens nicht explizit die »notwendige Zeit« mit der bürgerlichen Sphäre der »Arbeit«, also mit der besonderen historischen Form gesellschaftlicher »Zeitverausgabung« im Kapitalismus, und die »disponible Zeit« mit »Freizeit«, wie viele nach ihm verfahren sind. Die Ambivalenz der Marxschen Behandlung dieses Problems läßt durchaus andere Interpretationen zu, als sie etwa Engels, Lenin oder Gorz herauslesen, die von der Unaufhebbarkeit der Dichotomie von »notwendiger« und »disponibler Zeit« ausgehen.
42) Das notwendige Universalisieren der geistigen Potenzen bringt der kapitalistischen Wirtschaftsweise erhebliche Reproduktionsprobleme. Diese »Lernsphäre« muß finanziert werden, während zugleich die produzierte Wertmasse schrumpft und mit ihr die Finanzierungsquelle versiegt.
43) Vgl. Andre Gorz: Wege ins Paradies, Berlin 1986; Kapitel »Das Notwendige und das Fakultative«, S. 89 ff.