Zur Kritik der kulturindustriellen Bewußtseins-, Stimmungs- und Meinungslagen
Streifzüge 3/1997
von Franz Schandl
Die wohl wichtigste Frage, warum die meisten Menschen sich den medialen Schwachsinn nicht nur einziehen, sondern auch ganz selbstverständlich ernstnehmen (anstatt etwa in befreiendes Lachen auszubrechen), ist bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet. Und doch kann und soll gesagt werden, daß dieser freiwillig-zwanghafte Konsum mit der sozialen Dimensionierung der Menschen als bürgerliche Gesellschaftsmitglieder zu tun haben muß. Ihre geistigen und ideellen Bestimmungen, ihre materiellen und zeitlichen Begrenzungen sind wohl der Schlüssel zu Analyse und Kritik.
Grundlage von Boulevard und Zeitgeist ist der Arbeits- und Lebensbereich der Menschen. Danach und daneben sind Unterhaltung und Entspannung, Benachrichtigung und Berieselung angesagt. Diese werden – nicht ausschließlich, aber primär – von den Medien industriell hergestellt und ausgeliefert. Horkheimer und Adorno sprachen daher auch treffend von der “Kulturindustrie”.
Die Kulturindustrie selbst manipuliert nur sehr bescheiden, sie findet die “Manipulierten” bereits vor. Medien verdoppeln die Prägeleistungen, sie erzeugen sie nicht. Sie sind Verstärker. Gerade ihre Lautstärke darf nicht dazu führen, sie als überdimensionale Kraft wahrzunehmen. Die Durchschnittsmenschen bewegen sich fast ausschließlich in diesem Kontinuum des gesunden Menschnenverstands genannten Alltagspositivismus, sie brauchen nicht erst verleitet zu werden.
Konzentration und Anstrengung werden im Arbeitsbereich eingefordert. Es wird eine zunehmende Unmenge an Wissen abverlangt, in der Produktion als auch in der Reproduktion. Aber dieses Wissen ist unmittelbar zweckorientiert, nicht auf Erkenntnis ausgerichtet. Es ist reflexionsarm, hat beschränkten Charakter. Von seiner Qualität her ist es bewußtloses Wissen. Die sinnliche Auffassung des Daseins schafft Bekanntschaft mit den Dingen, nicht a priori Begreifen derselben. “Das Bekannte ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt”, schrieb schon Hegel. Anspruchsvollere Medienprodukte können jedenfalls nur von Minderheiten aufgenommen werden, für die Mehrheit der Menschen liegen sie objektiv jenseits ihrer unmittelbaren Lebenslagen und Erkenntnismöglichkeiten.
Bild gegen Wort
Das vorherrschende Instrument der Rezeptionsvorgabe ist mehr denn je das Bild bzw. das Tonbild. Ungleich Texten, geschweige denn Kontexten, wo das Erfassen sich noch auf begriffliches Verstehen einlassen muß, zielt die Bildwahrnehmung vorrangig auf die sinnliche Gewißheit. Diese Bebilderungstechnik hat inzwischen auch die Sprache infiziert. Vor allem im Werbeslogan ist der Text durch das Plakative dem Bild analogisiert.
Die Zeichen der Sprache bringen Zusammenhänge, während das Bild eine Einheit unterstellt. Ein Text verlangt mehr als einen Blick, das Bild scheint mit einem Blick auszukommen. Man blättere in irgendeiner Zeitschrift, und wir alle wissen, wohin die erste Aufmerksamkeit fällt. Bevor wir in den Text gelangen, sind die Bilder schon in uns.
Bilder sind somit verführerischer als Texte, sie implizieren einen ungleich höheren Grad des Ausgeliefert-Sein als die textliche Wahrnehmung. Das Bild ist leichter faßbar. Auf der Ebene des Scheins heißt das: Das Bild kommt so daher, wie es ist, die Wörter müssen nacheinander und zueinander rezipiert werden. Das Bild erscheint als fiktive Totalität der Wirklichkeit, der Text bloß als willkürliches Exzerpt derselben. Bilder sind so verwechslungsfähiger mit der Wirklichkeit als Texte.
Die Diskretion der Schrift steht gegen die Indiskretion vom Tonbild. Dieses ist aufdringlich, es macht einen an, es sitzt im Kopf, es wird registriert – ob man will oder nicht. Anders die Schrift, ihre Zeichen müssen individuell erobert werden. Die Aufnahme von Schriftstücken erfordert mehr Rezeptionsvermögen und Rezeptionsleistung als jene des Tonbildes. Die Schrift wirkt nicht selbstläufig, sie muß ge-, ja erlesen werden. Da reicht kein Blick zum Einblick, geschweige denn zum Durchblick. Der Ausdruck der Schrift ist durch den ersten Eindruck nicht her- und vorstellbar. Bild und Ton sind assoziativ, Schrift rezeptiv.
Die Schrift springt nicht ins Auge, sie ist gemächlich und zäh, was aber auch heißt, daß sie unter dem vorgegebenen Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung ins Hintertreffen gerät. Papier ist geduldig, Television ist ungeduldig. Die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung hat Geschwindigkeiten angenommen, die das Lesen immer mehr desavouiert. Wenn alles schneller gehen muß, muß auch das Lesen schneller gehen. Es soll sich im Schauen auflösen können. Angesagt ist: Fast labour, fast food, fast news. Das Tonbild ist den geistigen und gesellschaftlichen Regressionen jedenfalls kompatibler als die Schrift.
Mit dem Film wurden die Bilder schließlich beweglich und durch den Ton auch hörbar. Die modernen Massenmedien installieren mit der Verbreitung des Fernsehens, daß die bildliche Assoziation zum allmächtigen Modus der Weltwahrnehmung wird. Die bildfixierte Werbung tut ihr übriges. Der Philosoph Günther Anders sieht im Bild gar eine “Hauptkategorie” des heutigen Daseins: “Jedenfalls ist die Rolle der Bilder so ungeheuer, daß mir, wenn ich mir die Welt von ihren Milliarden Bildern: den Photos, Filmen, Fernsehphantomen und Plakaten entleert vorstelle, nur das reine Nichts übrigbleibt.”
Journalismus als Journaille
Als Generalist, der in vielen Gebieten der Tagesaktualität beheimatet sein muß, ist der Journalist — und das verbindet ihn mit dem Politiker — der durchgängige Internalisierer. Wie dieser muß er über vergegenständlichte gesellschaftliche Fragen sprechen, in denen er nicht sattelfest ist. Im Zeitalter der Spezialisierung ist der Journalist ein Prototyp des halb- oder gar viertelgebildeten Kosmopoliten. Er muß von allem etwas wissen, kann aber genau deswegen wenig begreifen. Als Mittler abstrakter Werte braucht er dies auch gar nicht, weil er ohnehin immer nur der Idealität den Vorzug vor ihrer schlechten Anreicherung in der Realität geben muß. Als Minimalist hat er überdies noch jedes übergreifende, komplexe Thema in linearer Tagesaktualität aufzulösen. Freilich muß er dabei fortwährend erkennen, daß das positiv Affirmierte der postulierten abstrakten Werte-Idealität nie und nimmer gerecht wird. Dann regt er sich auf, indem er die Norm einfordert.
Laufend muß der Journalist Zusammenhänge für das sinnliche Alltagsbewußtsein aufbereiten, Komplexitäten nivellieren, Zusammenhänge in Fakten zerstückeln. Die Medien müssen die Dinge aus ihrer Struktur reißen, um sie in der Berichterstattung aneinanderreihen zu können. An die Stelle gesellschaftlicher Verhältnisse in ihrer wechselseitigen Bezogenheit und Bestimmung treten entformierte Fakten, die als solche nicht einmal als begrenzte Ausschnitte der Realität aufgefaßt werden können. Um die Ereignisse für die Berichterstattung auffädeln zu können, müssen die Medien die Wirklichkeit zertrümmern, sie atomisieren. Qualitäten werden auf quantitative Kommensurabilität heruntergebracht.
Nicht Erkenntnis und Information stehen im Mittelpunkt journalistischer Tätigkeit, sondern Zurichtung und Formatierung. Daher liest sich auch alles so gleich, geht so gleich hinein und so gleich wieder hinaus. Man braucht sich nichts zu merken, in der nächsten Sendung, in der nächsten Ausgabe, läuft und steht sogleich das Gleiche. Was bleibt und sich in den aufgestapelten Zeitschriften, Ton- und Bildträgern konserviert, ist letztendlich so pluralistisch, wie die Verwertungsoptionen des Kapitals erlauben. Wo alles Ware wird, hat alles seinen Tauschwert in Form des Preises. Insofern kann der Kapitalismus keinen Unterschied machen zwischen Artikeln, die in Zeitschriften erscheinen, und Artikeln, die in Lebensmittelregalen stehen.
Im Journalismus dimensioniert sich Nachricht als Ware, nicht als Gut. Die Frage nach der Story ist eine nach der Verkäuflichkeit, nicht eine nach den Inhalten. An einer Geschichte interessiert nicht das sie wesensmäßig Beinhaltende, sondern das an ihr Verwertbare. Der Keim marktschreierischer Skandalisierung und Sensationierung ist hier schon angelegt.
Auch die Pressefreiheit ist zuvorderst eine kapitalistische Freiheit, die sich an den gegebenen Verwertungsbedingungen konkretisiert. Wer sie überhöht, ist ein Lügner oder Dummkopf. Wer sie idealisiert, verhindert die notwendige Diskussion über ihren gesellschaftlichen Charakter und ihre objektiven Grenzen. Ein Presseerzeugnis ist nur insoweit frei, soweit seine finanzielle Kapazität reicht. Entspricht es nicht den Marktgesetzen, läuft es dem Anzeigenmarkt zuwider, dann hat es einen schweren Stand. Mediale Freiheit meint die Notwendigkeit, dem Markt angepaßt zu sein.
Meinung als Stimmung
Nicht Information wird geboten, sondern Entformierung. Zur Begrifflichkeit: Informierung ist etwas sich Zusammenfügendes, Information etwas Festgefügtes. Entformierung ist die Auflösung und Zerstückelung des sich potentiell Zusammenfügenden, Entformation ist das festgefügte Aufgelöste, die erstarrte Zersplitterung.
Das Bewußtsein kann sich durch die Entformierung nicht formen, sondern wird in Stimmungslagen deformiert. Die Realität wird dabei aber nicht primär umgelogen, sondern in Tatsachen entmischt. Die meisten Meldungen sind daher, wenn auch inhaltlich falsch, so doch sachlich richtig, weil keiner Lüge überführbar und einzeln auch nicht widerlegbar. Nur der gesellschaftliche Kontext erlaubt es, die Lüge in der Wahrheit zu erkennen. Falsche Eindrücke können also aus sachlichen Richtigkeiten herrühren. Die intelligentesten Lügen bestehen zweifellos aus lauter Wahrheiten.
Stimmung statt Bewußtsein prägt den heutigen Medienkonsumenten. Das bringen selbst die Meinungsumfragen deutlich zum Ausdruck. Nur so sind die eklatanten und doch nicht essentiellen Schwankungen in diesen und jenen Fragen überhaupt erklärbar. Meinungen werden zusehends beliebiger, richten sich nach Zufälligkeiten, denen sie in ihrer Dimensionierung hilflos ausgeliefert sind. Die Menschen wissen immer weniger, was sie eigentlich wollen. Ihre Bewußtseinslagen sind äußerst labil, eben weil sie bloß Stimmungslagen sind. Sie reagieren oftmals nur noch wie stupide Durchlaufreaktoren: Emissionen und Imissionen sind in ihren Missionen substantiell gleich.
Die freie Meinung ist daher auch völlig anders zu interpretieren. Die meisten Menschen haben überhaupt keine Chance auf eine freie Meinung, wenn wir darunter ein im Individuum sich selbst formendes doppelt-reflexives Bewußtsein verstehen. “Statt zu sagen ‘Der Meinende hat eine Meinung’, sollten wir sagen: ‘Die Meinung hat den Meinenden’”, schreibt Günther Anders. Freiheit der Meinung heißt Freiheit von der Meinung, somit Meinungslosigkeit.
Mit dem Pluralismus der Medien ist es also nicht weit her. Aber nicht weil sie in ähnlichen Eigentumsverhältnissen (Medienkonzernen) stehen, sondern weil die Information durch ihre serielle Zurichtung, ihre Normierung und fetzenhafte Aufbereitung Folge des sachlichen Denkens sind. Medien entdialektisieren, die Kulturindustrie gestaltet sich als einzigartige Faktizitätsfiktionsmaschine. Mit den hingeworfenen Rest ist eigentlich nicht mehr viel anzufangen. Robert Musil bringt dies treffend zum Ausdruck, wenn er schreibt: “Jeder Tag hatte seine Erregungen gehabt, und trotzdem ließ sich nur noch schwach oder gar nicht erinnern, was damals eigentlich los gewesen war.” Das Geschehen wird nicht in seiner inhaltlichen Totalität erfaßt, sondern als sachliches Ereignis aufgedrängt. Der Konsument ist nicht medialer Aktivist, sondern ein von der Kulturindustrie Belieferter.
Wahrheit gegen Wirklichkeit
In der monotonen eindimensionalen Gesellschaft geht es um das Hervorrufen und Zelebrieren öffentlicher Erregung. Nicht um Erklärung oder gar um Aufklärung, sondern um Aufmachen und Einklagen. Und da das Publikum ob des Getöses immer mehr abstumpft, muß die Inszenierung zulegen, um die nötige Beachtung erzeugen zu können. Die Kapriolen der Zuspitzung von Nichtigkeiten werden ja immer unverschämter und unerträglicher. “Unproduktive Empörung” (Karl Kraus) ist das Mittel, Steigerung der Quoten das Ziel.
“Journalismus. Das heißt: aufdecken, enthüllen”, sagt etwa Josef Votzi, der Herausgeber des Profils, Österreichs renommiertestem Wochenmagazin. “Schreibe, was ist”, lautet die dazugehörige Maxime. Damit ist die Differenz der sachlichen zur gesellschaftskritischen Sicht auf den Punkt gebracht. “Schreibe, was warum ist” wäre deren Motto. Diese kann also unmöglich bei den Tatsachen stehen bleiben. “Halte dich an die Tatsachen” ist nicht haltbar, weil die Tatsachen nicht halten. Gerade wenn man Wirklichkeit erfassen und begreifbar machen will, muß die Betrachtung über jene hinausgehen, sie zum Tanzen bringen, nicht erstarren vor der scheinbaren Unbeweglichkeit. Die Journaille allerdings tümpelt im Gatsch der sinnlichen Gewißheiten des gesunden Menschenverstandes.
Die Krux des bürgerlichen Journalismus liegt genau darin, daß er eben der christlich-bürgerlichen Wahrheit und nicht der sozialen Wirklichkeit verpflichtet ist. Metaphysik erschlägt Dialektik. Wer nichts als die Wahrheit berichten will, richtet die Wirklichkeit hin. Wirklichkeit wird serviert in nicht zutreffenden Happen, so wahr sie einzeln auch sein mögen. In dieser Realitätssüchtigkeit geht der Wirklichkeitssinn verloren. Der bürgerliche Journalismus muß die einzelnen Daten, Zahlen und Fakten loslösen, ja loseisen, anstatt sie im Allgemeinen integriert zu erhalten. Er zerstört also den Blick aufs Ganze, indem er bestimmte Details bis zur Unkenntlichkeit ausleuchtet. Aber vielleicht ist gerade das seine Aufgabe.