Liebe und Sex in Zeiten ohne Sinnlichkeit

VORLAUF FETISCH Streifzüge 58/2013

von Maria Wölflingseder

Aus: Weg und Ziel 2 /1996

Über die Verdinglichung des Bewusstseins und die Mystifikation des Sexuellen an Hand von Marx’ Warenanalyse und Werttheorie

(Gekürzte Fassung: Auch als kleine Einführung in
Warenanalyse, Werttheorie und Fetischcharakter zu lesen.)

Der Arzt und Sexualforscher Volkmar Sigusch – er war bis zu seiner Emeritierung 2006 Vorstand der Abteilung für Sexualwissenschaft an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main – hat in seinem Buch „Die Mystifikation des Sexuellen“ (Frankfurt/M. 1984) als erster Sexualwissenschaftler den Versuch unternommen, Marx’ Warenanalyse und Werttheorie für eine Theorie der menschlichen Sexualität fruchtbar zu machen. Sein Ausgangspunkt ist die von Linken oftmals aufgestellte Behauptung, unsere Sexualität sei zur Ware geworden. Diese Aussage vereinfache und verzerre aber die Realität. Wäre dem tatsächlich so, dann „lebten die Menschen nicht in Verhältnissen des Scheins, nicht mit dem Schein und im Schein, sondern nur noch zum Schein. Sie wären nicht nur auf ihre Triebe und Grundvermögen herunterparzelliert, sondern auf dem Wege dinghafter Entfremdung in den Warendingen selber aufgegangen. Mensch und Ware wären identisch, Trieb und Phantasie ganz und gar zu käuflichen Dingen geworden. Das Sexuelle kann schon deshalb keine Ware sein, weil es nicht gebildet wird durch eine Tätigkeit, die einen bestimmten Naturstoff einem bestimmten Bedürfnis assimiliert, auf dass davon abstrahiert werde.“ (Ebd., S. 112f.)

Ohne das Sexuelle in der Art und Weise seiner gesellschaftlichen Fabrikation restlos aufgehen zu lassen, fragt Sigusch, wie Gesellschaft in das Sexuelle hineinkommt und aus ihm spricht. Zentral steht dabei die Kategorie des Fetischcharakters, in der Sein und Bewusstsein ineinander liegen, die Ökonomisches und Nichtökonomisches vermittelt. Isolation und Vergegenständlichung des Sexuellen sind im Kapitalverhältnis angelegt und wurden mit seiner Entfaltung verwirklicht. Jetzt konnte das Sexuelle handhabbar gemacht werden, an- und abgestellt werden. Als Verdinglichtes produziert es seine eigene Verdeckung. In der Welt der Ware scheint der Kern der Sexualität dem Diktat der gesellschaftlichen Wertform entzogen zu sein. Liebe imponiert als unmittelbar, Moral als ein Bollwerk gegen Versachlichung. Doch dieser Schein ist es gerade, der das Sexuelle in die Wertform zwingt. So wahr es ist, dass Trieb und Traum des Einzelnen keine Waren sind, dass sie der Wertform widersprechen und widerstehen, so wahr ist es, dass sich unser Liebesleben in gesellschaftlichen Formen bewegt, deren Mystifikation – vom hohen Lied der Liebe bis zum niederen Durchbruch des Triebes – diesem Sachverhalt ebenso entspringen wie sie ihn maskieren.

Ökonomie und Psychologie

Interessant und einzigartig an Siguschs Ansatz ist, dass er Marx’ Kategorien Warenfetischismus und verdinglichtes Bewusstsein, die in dessen Kritik der politischen Ökonomie zentral sind (vgl. vor allem Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867). MEW, Berlin/DDR S. 1956ff., Bd. 23), als solche sieht, die weder rein ökonomisch gefasst noch zum Psychologischen hin neutral sind, also weder allein solche der „Basis“ noch allein solche des „Überbaus“ sind. In ihnen sind wesentliche „Tat-sachen“ des allgemeinen Lebens, also ökonomische Fakten und wesentliche „Tat-sachen“ des allgemeinen Alltagsbewusstseins, also der Verdinglichung, der generellen Verblendung und des Scheins vermittelt. Marx’ vermeintlich reine ökonomische Schriften beinhalten laut Sigusch auch das, was als sogenannter subjektiver Faktor bezeichnet wurde. Dieser komme nicht erst an einer gewissen Stelle ins Spiel, genauso wenig die sogenannte sexuelle Frage.

Sigusch hält es für verfehlt, Marx’ Ansichten über Psychologie gesondert, also jenseits des Fetischismus der Warenwelt, eruieren zu wollen, – sie sind in diesem enthalten. Als ein Missverständnis bezeichnet er die Sicht, dass es in Marx’ ökonomischen Schriften gar nicht um Individuum und Subjekt gehen würde; ansonsten Marx gar nicht hätte aufspüren können, inwiefern und inwieweit die Menschen unter kapitalistischen Lebensverhältnissen nicht zu sich selber kommen können.
Es geht nicht darum, die Theorie der Sexualität mit der Werttheorie von Marx zusammenfallen zu lassen. Jedoch mittels der Kategorie des Fetischcharakters kann eine Vermittlung von Ökonomischem und Nichtökonomischem erfolgen. Diese Kategorie ist in dem eminenten Sinn dialektisch, als in ihr Sein und Bewusstsein ineinander liegen. Wie gewisse Sozialpsychologen die Psychologiefrage an Marx’ wesentlicher Einsicht vorbeischiffen, indem sie am sogenannten Überbau ansetzen, so sehen gewisse Ökonomen vor lauter Ware, Geld und Kapital kein Bewusstsein und keine Menschen mehr, – womit jeder auf seine Weise der allgemeinen Verdrehung und Verblendung erlegen ist. Daraus erwachsen dann auch die von Sigusch kritisierten theoretischen Fetischisierungen: der Ökonomismus, der Soziologismus, der Psychologismus, der Biologismus etc. Für die einen ist nur die Ökonomie ausschlaggebend, für die anderen nur das falsche Bewusstsein, wieder andere pfropfen der Kritik der politischen Ökonomie eine psychologische Theorie auf, weil in dieser der sogenannte subjektive Faktor nicht enthalten sei.

Die Widersprüchlichkeit einer Theorie kann jedoch nicht von einer Theorie außer Kraft gesetzt werden, steht in ihr selber nicht still. Notwendig ist ein theoretisch begründetes und empirisch waches Vermittlungsbewusstsein, welches Sein und Bewusstsein nicht parallelisiert, ineinander abbildet oder überhaupt zusammenfallen lässt.

Sigusch betont, eine von Geschichts- und Gesellschaftstheorie getrennte Theorie der Sexualität des Menschen sei keine! „Sexualität als autonomes Feld bearbeiten, heißt, sie zu einem Objekt des Forschens und Behandelns machen nach der gesellschaftlichen Manier des Abstrahierens, des Trennens und des Bruchs.“ (Volkmar Sigusch, Vom Trieb und von der Liebe, Frankfurt/M. 1984, S. 72)

Diese „Ganzheitlichkeit“ – oder in der Diktion Lukács: Totalität – Siguschs Ansatz habe ich bisher in den meisten aktuellen wertkritischen Ansätzen vermisst. Sie ist jedoch unerlässlich für ein Erkennen der Verfasstheit unserer Gesellschaft, unerlässlich für das Verstehen des oft irrational und paradox erscheinenden Verhaltens der gegängelten Individuen. Gerade auch bezüglich der „Subjekt-Debatte“ in wertkritischen Ansätzen ist hier dargestellte Sichtweise von Belang; ganz zu schweigen von der Bedeutung für die Analyse des schier ausufernden Bereichs der sogenannten Sinnsuche in Esoterik-/New-Age-, Biologismus- und Bioregionalismus-Zusammenhängen. Siguschs Rezeption der Marx’schen Werttheorie ist eben auch eine der wenigen befriedigenden Erklärungen, warum es für das bürgerliche Individuum so schwer ist, sich zu emanzipieren, warum es alles über sich ergehen lässt, auch wenn die Repression immer stärker wird. Warum es kaum aufbegehrt, auch wenn ihm schon „das letzte Hemd genommen wird“.

Warenanalyse

Sigusch erläutert eingangs in den Kapiteln „Warenanalyse“ und „Fetischismus der Warenwelt“ Marx Begriffe Ware, Warenform, Warenwert, Gebrauchswert, Wert, Tauschwert, Wertform, Arbeit, Geld sowie den Fetisch-Begriff als conditio sine qua non (als unabdingbare Voraussetzung) für das Verständnis des verdinglichten Bewusstseins und der Mystifikation des Sexuellen. Wobei anzumerken ist, dass Marx vor allem angesichts des Denkens seiner Zeit nicht von Begriffen ausgeht und auch nicht von dem Menschen. „Wovon ich ausgehe ist die einfachste gesellschaftliche Form, worin sich das Arbeitsprodukt in der jetzigen Gesellschaft darstellt, und dies ist als ,Ware‘.“ (Karl Marx, Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“ (1879/80). MEW, Bd.19, S. 369, zit. nach Volkmar Sigusch, Mystifikation, S. 33) „Seine Methode habe ,mit der professoraldeutschen Begriffsanknüpfungs-Methode nichts gemein‘. Ganz offensichtlich will der Untersucher einen Einstieg wählen, den der Leser ohne weiters nachvollziehen kann, der jedermann bekannt ist (…) Jedermann weiß, (…) dass in der hiesigen Gesellschaft praktisch alle Arbeitsprodukte ausgestellt werden, und zwar zum Verkauf. Der Untersucher blickt also in das gesellschaftliche Leben wie wir alle jeden Tag.“ (Sigusch, ebd.)

Arbeitsprodukte, deren Bestimmung es ist, verkauft zu werden, nennen wir Ware. Die Verwandlung von Arbeitsprodukten in Waren und daher ein Dasein von Menschen als WarenproduzentInnen hat es auch in vorkapitalistischen Zeiten bereits gegeben. Gesetzmäßig und allgemein nehmen die Gebrauchsgegenstände erst dann Waren- und Wertform an, wenn sie in gesellschaftlichem Maßstab arbeitsteilig und privatplanlos produziert werden. Dann treten die Gesellschaftsmitglieder erst dadurch in gesellschaftlichen Kontakt, dass sie ihre Produkte austauschen. Dadurch erhalten sie alle Mittel, die sie zum Leben brauchen. Die warenproduzierende Tauschgesellschaft, also der Kapitalismus, hat viel in die Welt gebracht, nicht zuletzt die Idee vom freien und gleichen Individuum. In der Tat schafft die Sphäre der Zirkulation, schafft der Warenaustausch Gleichheit unter allen Käufern und Verkäufern (auch der Arbeitskraft). Sie stehen einander als freie, rechtlich ebenbürtige Personen – im Gegensatz zu den Verhältnissen im Feudalismus – gegenüber.

Gebrauchswert, Wert, Tauschwert

Was ist nun eine Ware? Sie ist ein Gegenstand, der menschliche Bedürfnisse befriedigt, etwa Hunger stillt, uns kleidet oder auch geistigen und gefühlsmäßigen Ansprüchen gerecht wird. Sie hat also einen Gebrauchswert. In unserer Gesellschaftsform hat sie jedoch auch Wert und Tauschwert. (Sigusch kritisiert, dass diese Unterscheidung von Marxologen meist „übersehen“ wird. Sie benennen nur den Tauschwert. Sigusch kritisiert weiters die Ignoranz von orthodoxen Marxisten gegenüber dem, was Marx Fetischcharakter der Ware nennt. Was für ihre makellose Weltanschauung gewiss von Vorteil ist.)

Die Wertform der Ware lässt diese gar nicht mehr als ein selbstverständliches, triviales Ding erscheinen. Ihre Analyse ergibt vielmehr, dass die Ware „ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken“ (Marx) ist. Den Wert einer Ware erhält man, durch die Abstraktion von ihrem Gebrauchswert. Zieht man von einer Ware den Gebrauchswert ab, bleibt nur mehr die Eigenschaft, Arbeitsprodukt zu sein. Sie ist dann nicht mehr länger ein nützliches Ding, die sinnliche Beschaffenheit eines Messers, eines Hauses, ihr Gebrauchswert ist ausgelöscht. Sie ist dann reduziert auf die Arbeit, die in ihr steckt. Um verschiedene Waren vergleichen zu können, muss es etwas geben, das allen gleich ist; das Gleiche ist die menschliche Arbeit, die in ihnen steckt. Sie sind „reduziert auf gleiche menschliche Arbeit“, die Marx „abstrakte menschliche Arbeit“ nennt, weil im Tauschwert die Individualität der Arbeitenden nicht mehr zu erkennen und irrelevant ist. Sie haben eine „gespenstige Gegenständlichkeit“, einen „sinnlich übersinnlichen“ Charakter angenommen, sie sind nichts als „eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit“. „Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte.“ (Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, a.a.O., S. 52, S. 85, zit. nach Sigusch, ebd., S. 39) Konkrete Arbeit schafft Gebrauchswert, sie vergegenständlicht sich in einem Gebrauchsgegenstand. Abstrakte Arbeit schafft Tauschwert, sie arbeitet für einen gesellschaftlichen Markt. Das Abstrakte ist somit eine Komponente, die nur der Warenwirtschaft eigen ist, – das Konkrete hingegen eine Wesensbedingung menschlicher Reproduktion. Der Wert ist die Folge der Produktion, Resultat abstrakter Arbeit, also eine Kategorie der Produktion. Der Wert ist aber an der Ware selber, an ihrer dinglichen Existenz überhaupt nicht festzumachen. Er „erscheint“ erst beim Tausch. Der Tauschwert ist die in der Zirkulation verwirklichte Form des Werts, also eine Kategorie der Zirkulation. Und Geld ist die kulturelle Form des Tauschwerts, also eine Form der Form. Und Preis ist das Maß des Geldes. Geld ist der Schlusspunkt der Kette, die da lautet: Abstrakte Arbeit – Wert – Tauschwert – Geld. (Vgl. Franz Schandl, Die Grünen in Österreich, Wien 1996, S. 17f.)

Der „mystische Charakter der Ware“

Arbeit hat einen Doppelcharakter: Einerseits Gebrauchswert produzierende Arbeit, sie gilt als qualitativ, konkret, besonders, und andererseits die Warenwert bildende Arbeit, sie ist nur quantitativ, gleiche Verausgabung menschlicher Arbeitkraft. Der „mystische Charakter der Ware“ (Marx) entspringt also nicht aus der „Tat-sache“, dass sie Gebrauchswert ist, und auch nicht aus dem Inhalt der Wertbestimmung, sondern aus der Warenform selber, die jetzt mit der Wertform gleichgesetzt werden kann.

Geld erscheint als quasi-natürlich

Bei der Analyse der Ware stoßen wir auf eine schier endlose Kette von Gegensätzen, Widersprüchen, Merkwürdigkeiten, Zwiespältigkeiten und Verschleierungen. Der Gegensatz von Gebrauchswert und Tauschwert im Inneren der Ware ist ebenso extrem wie unauslösbar. Gebrauchswert und Tauschwert sind gedanklich getrennt zu halten, kommen aber in der Warenwelt nicht als getrennte vor. Wird von den Waren ihr Tauschwert abgezogen, sind sie als Waren ausgelöscht, pure Gebrauchsdinge wie momentan noch Luft, die aber bald auch einen Tauschwert erhalten könnte und damit in die Welt der Waren einginge, wie schon fast alles eingegangen ist. Zieht man umgekehrt von den Waren ihren Gebrauchswert ab, ist ihr Tauschwert verschwunden.
All diese Verhältnisse sind für die Menschen quasi-natürlich geworden. Sie nehmen sie unhinterfragt hin. Wir können uns nicht aussuchen, ob wir Geld haben wollen oder nicht – ohne es keine Existenzmöglichkeit. „Es gibt keine Freiheit vom Geld, vom Tauschwert, vom Wert, von abstrakter Arbeit. An dieser Kette hängt das bürgerliche Individuum, ohne sie eigentlich wahrzunehmen. Sie ist ihm Fleisch und Blut geworden.“ (Ebd., S. 19)

Und noch einmal bezüglich des Wertverhältnisses: „,Der Wert ist kein krudes wirtschaftliches Ding, sondern totale gesellschaftliche Form, also auch Subjekt- und Denkform.‘ Sich etwas anderes auch nur vorzustellen, übersteigt sein Vorstellungsvermögen bei weitem.“ (Robert Kurz, zit. nach Franz Schandl, ebd., S. 15) Dies führt uns bereits zu dem, was Marx Warenfetischismus nannte. Formen wie die Tauschform, die Geldwirtschaft überhaupt, sind eben nicht nur eine wirtschaftliche Angelegenheit, keine Denkform, sondern gesellschaftliche Praxis, Verkehrs- und Verhaltensformen, die den ökonomischen Formen entspringen und sich beständig im Bewusstsein reproduzieren, quasi als Naturform.

Fetischismus der Warenwelt

Die Ausdrücke Fetischismus, Magie, Schleier, Mystifikation oder Rätsel verwendet Marx, um ein Verstehen zu beleben, welchem Brüche, Sprünge und doppelte Realitäten zum menschlichen Leben gehören. Der Halt in diesen Begriffen bleibt sinnvoller weise etwas wackelig. „Diese oder ähnliche Ausdrücke tauchen nicht nur in jener Passage auf, in der schon in der Überschrift von ,Fetischcharakter‘ die Rede ist, sondern auf allen Entwicklungsstufen der Kritik der politischen Ökonomie, wenn und wo das verborgene Wesen, die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise gefasst werden soll.“ (Volkmar Sigusch, Mystifikation, S. 49)
Fetischismus der Warenwelt bezeichnet die Verschleierung und Verkehrung bestimmter historisch entstandener gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Resultat ist eine Verfassung lebendiger Prozesse und gesellschaftlicher Bewegung, die Verdinglichung, Versachlichung, Entsubjektivierung genannt werden kann. Die gesellschaftlichen Beziehungen der ProduzentInnen stellen sich als Beziehungen ihrer eigenen Produkte her, die sie nicht kontrollieren können, die Gewalt über sie haben. Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen in dinglicher Gestalt, dingliche in gesellschaftlicher. Die Machenden stehen unter der Macht ihrer eigenen Machwerke. Der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang bleibt dem Alltagsbewusstsein, dem „Gesunden Menschenverstand“ (Marx) verborgen. Er setzt sich hinterrücks, blind und zwanghaft durch. Das Bewusstsein ist verdinglicht. Die Mechanismen, die dazu führen, existieren ebenso objektiv und damit unabhängig vom einzelnen Menschen. Sie sind aber im Bewusstsein und Gefühl jedes Einzelnen verankert. (Vgl. ebd., S. 51f.)

Fetisch heißt Zauber, Machwerk/Machtwerk

Das Wort „Fetisch“ kommt aus dem Portugiesischen. Feitico heißt Zauber. Die Abstammung aus dem Lateinischen – facere, facticium – oszilliert zwischen Machwerk und Machtwerk. In Afrika haben portugiesische Missionare die Worthülse Fetisch zum ersten Mal mit Inhalt gefüllt, bevor sie ihre schier rastlose Wanderung durch die Wissenschaften vom Menschen, von der Religionstheorie bis zur Warenanalyse, von der Ethnologie über die Sexualwissenschaften bis zur Psychoanalyse, antrat, bevor es zu bemerkenswerten Begegnungen rund um diese Chiffre kam. Vom Standpunkt der Kolonisatoren bezeichnet „Fetisch“ ein Ding, um das ein Kultus gemacht wird, weil es im Denken der „Wilden“ mit besonderer Macht begabt ist.

Marx benutzt das Wort „Fetisch“ bereits als er sich zum ersten Mal – 1842 – mit ökonomischen Fragen beschäftigte. Er schrieb als Redakteur der Rheinischen Zeitung in einer Glosse über die „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz: „Die Wilden von Kuba hielten das Gold für den Fetisch der Spanier. Sie feierten ihm ein Fest und sangen um ihn und warfen es dann ins Meer. Die Wilden von Kuba, wenn sie der Sitzung der rheinischen Landstände beigewohnt, würden sie nicht das Holz für den Fetisch der Rheinländer gehalten haben? Aber eine folgende Sitzung hätte sie belehrt, dass man mit dem Fetischismus den Tierdienst verbindet, und die Wilden von Kuba hätten Hasen ins Meer geworfen, um die Menschen zu retten.“ Letzteres ist eine Anspielung auf einen anderen Gesetzesentwurf, nach dem die Bauern nicht mehr das Recht haben sollten, auf ihrem eigenen Grundstück Hasen zu jagen. (Karl Marx, Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags. Dritter Artikel. Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz (1842), MEW, Bd. 1. S. 147, zit. nach Sigusch, ebd., S. 52)

Verdinglichtes Bewusstsein

Der Kategorie des Warenfetischismus entspricht die des verschleierten, verkehrten, verdinglichten Bewusstseins. Sigusch betont die Unerlässlichkeit der Kenntnis des verdinglichten Bewusstseins (das sich im Alltagsbewusstsein, im Gesunden Menschenverstand manifestiert) für das, was die Sexualwissenschaft erforschen will: die je aktuelle oder historische Sexualmoral und Sexualideologie. Ohne eine Vorstellung vom verdinglichten Bewusstsein bleiben alle Sexualforschungen schwerelos, blind und blindwütig.

Wie bereits oben angeschnitten, sieht Sigusch in der Kategorie des Fetischcharakters eine Vermittlungsmöglichkeit zwischen Ökonomischem und Nichtökonomischem. Diese Kategorie ist höchst dialektisch, weil in ihr Sein und Bewusstsein ineinander liegen. „Das Sein der Menschen bestimmt ihr Bewusstsein, weil es nicht jenseits von Geschichte und praktischem Leben gebildet wird. Das Bewusstsein spiegelt das Sein aber nicht einfach passiv wieder, sondern ist ein aktives Moment der Totalität des Seins. Beide Pole müssen zusammen gedacht werden, weil sonst das Denken der Menschen nur Widerspiegelung wäre…“ (Sigusch, Mystifikation, S. 68f.)
Es muss von der ökonomischen Bestimmtheit her und gleichzeitig von der politischen Aktion her gedacht werden. Die Menschen machen zwar ihre eigene Geschichte, aber „nicht aus freien Stücken unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. (Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). MEW, Bd. 8, S. 115, zit. nach Sigusch, ebd., S. 69)

Warenfetischismus bedeutet nicht einen besonderen Inhalt oder gar „eine Grille“ des Bewusstseins, sondern die „automatische“ Bildung des Alltagsbewusstseins aufgrund der beschriebenen gegebenen ökonomischen Verhältnisse. Dieses Alltagsbewusstsein, der Gesunde Menschenverstand sind notwendig falsch. Verdinglichung des Bewusstseins bedeutet keinen speziellen psychischen Zustand, sondern den gesellschaftlichen Lebensprozess selbst. „Insofern sind diese Kategorien metaökonomische und metapsychologische (…), gleichwohl und gerade deshalb aber für eine ökonomische Theorie ebenso fundamental wie für eine materialistische Theorie des Subjekts einschließlich der Sexualtheorie.“ (Sigusch, ebd., S. 71)

Für eine Überwindung von Antinomien

Herausstreichen möchte ich Siguschs Pochen auf die Notwendigkeit der Überwindung der Antinomien (Widerspruch eines Satzes in sich oder zweier Sätze, von denen jeder Gültigkeit beanspruchen kann) des bürgerlichen Denkens. Sie ignorieren die Essenz der Marxschen Warenanalyse. Sein und Bewusstsein, Theorie und Praxis, Subjekt und Objekt, Basis und Überbau, Gesellschaft und Individuum, Form und Inhalt, Wesen und Erscheinung, Notwendigkeit und Freiheit werden als Separierte ins Feld geführt. Sie beeinflussen einander zwar, sind aber im bürgerlichen Denken nicht vermittelt. Dies führt zu den bereits erwähnten theoretischen Fetischisierungen: zu Ökonomismus, zu Soziologismus, zu Psychologismus etc.

Weiter oben habe ich bereits Siguschs Begründung der „Ganzheitlichkeit“, der Totalität Marx’ Wertkritik und Warenanalyse erläutert. Hier noch einmal: „Wie gesagt worden ist, das berühmte Kapitel der Hegelschen Logik über Sein, Nichtsein und Werden enthalte dessen ganze Philosophie, so kann vielleicht mit ebensoviel Treffsicherheit gesagt werden, das berühmte Kapitel der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie über den Fetischcharakter der Ware enthalte dessen ganzen Materialismus, also auch seine ganze Psychologie.“ (Ebd., S. 71f.)
Fetischcharakter der Ware, Geldschleier, Kapital-Mystifikation etc. bedeutet eine basale und generelle Verblendung. Diese ist nicht mit psychologischen Kategorien erklärbar, sie unterscheidet sich auch von Ideologien und Religionen. Diese Verblendung wird nicht von außen in die Gesellschaft, in die Menschen hineingelegt, sondern sie ist ihr Wesen. So wie die Freudsche Seelenanalyse hinter dem individuellen Bewussten das Unbewusste zu fassen vermochte, legt die Marxsche Warenanalyse hinter dem Alltagsdenken einen gesellschaftlichen Zusammenhang frei, der diesem verborgen bleibt – etwa die Vorstellung von Natürlichkeit, Freiheit und Recht im Wirtschafts- und Liebesleben. Ideengeschichtlich haben Freud und Marx der von der klassischen deutschen Philosophie auf die Spitze getriebenen Annahme den Garaus gemacht, es gehe vernünftig zu im bürgerlichen Leben. Soll das erkannt werden, muss vom Fetischismus der Warenwelt aus gedacht werden. Freud und Marx gehören zu jenen Aufklärern der Neuzeit, die den Oberflächencharakter des Bewusstseins durchschauen und mit der cartesianischen Tradition (Dualismus von Geist und Materie) brechen, ohne in einen geistfeindlichen Irrationalismus zu verfallen. (Vgl. ebd., S. 72, sowie Sigusch, Vom Trieb, S. 31)

Wie kann Verblendung erkannt werden

Sigusch sieht in einem theoretisch begründeten und empirisch wachen Vermittlungsbewusstsein, welches Sein und Schein nicht parallelisiert, die Möglichkeit, Menschen und Dinge aus ihrer Fetisch-Isolation so weit heraus zu denken, dass das Positive im Negativen zutage tritt: „Das Platzen der Verdinglichungskruste durch Leere und Menschenfeindlichkeit, die Verstofflichung (damit bezeichnet Sigusch eine Steigerungsstufe von Verdinglichung, M.W.) der Menschen und Dinge wird womöglich ein Bewusstsein der Widersprüche und Fatalitäten im Alltag bilden. Das Gefühl dafür scheint schon da zu sein. Je mehr die Menschen der äußeren Natur zugeschlagen wurden, desto mehr besannen sie sich auf sie. Je mehr die Menschen vergegenständlicht wurden, desto mehr hörten sie auf ihre Seele. Je belangloser die Einzelmenschen im Wertgetriebe wurden, desto lauter riefen sie nach Subjektivität und Autonomie und Identität. Je mehr ihr lebendiges Arbeitvermögen zum Nichtgegenständlichen in objektiver Form, zum fetischisierten Tauschwert wurde, desto mehr wurden Verliebtheit und Liebe, ja selbst Geschlechtsverkehr und Onanie zum Zeichen des Lebens.“ (Sigusch, Mystifikation, S. 87f.)

Das Sexuelle ist von der Warenstruktur durchdrungen und gestaltet
Soweit also das, was Sigusch für das Verständnis des Sexuellen und der Sexualität – soll dieses ein „ganzheitliches“ sein, eben jenseits von Psychologismus oder Soziologismus – für unerlässlich hält. Er meint, höchst bemerkenswert wäre es, wenn sich ausgerechnet das Sexuelle angesichts des Vergesellschaftungsgrades der Warengesellschaft in einer uneingenommenen Festung einen dornigen Röschenschlaf hätte bewahren können. Ebenso bemerkenswert wäre es jedoch, wenn sich im sexuellen Leben die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten so bruchlos durchgesetzt hätten wie in den Sphären der Produktion und Zirkulation. Sigusch formuliert seine Ausgangsthese folgendermaßen: Das Sexuelle steht der gesellschaftlichen Warenstruktur weder gegenüber wie Gold der Luft noch wie Wachs dem Feuer, sondern es ist vielmehr von dieser durchdrungen und gestaltet. (Vgl. ebd. S. 87f.) „Tatsächlich ist das bürgerliche Individuum, dessen Prozess des Entstehens schon einer des Zerfalls war, nie zu sich gekommen und folglich auch nicht die Liebe.

Gesellschaftlich war die Liebe immer tot, aber sie lebt seit einigen Generationen in den Menschen – als Idee und Möglichkeit.“ (Sigusch, Vom Trieb, S. 14) Aber „in der Tat: Nur wer die Verdinglichung und Verdrehung aller Beziehungen durch Liebe oder (…) Verliebtheit, also mehr oder weniger mit den Mitteln des Rausches, der Sucht, des Wahnsinns außer Kraft zu setzen sucht, kann die Wirklichkeit ein wenig zum Tanzen bringen und überleben. Wer nicht illusionär verkennt, wer nicht liebt, wird krank.“ (Ebd., S. 16)

„Wie die Formen, in denen sich das gesellschaftliche Leben bewegt, nicht nur Lug und Trug sind, sondern von großer pragmatischer Bedeutung, weil alltäglich real und lebenserhaltend, so sind es auch die sexuellen Formen. Die alltägliche Liebe ist nicht nur ein Fetisch, der verkehrt und maskiert, sie ist auch ein allgemeines Erfordernis in der gesellschaftlichen Kälte, Distanz, Leere und Abstraktion. Wo sonst auch könnten sich die Menschen verstanden, geborgen und nahe fühlen, wenn nicht in ihren Liebesbeziehungen. Ist dem Sexuellen insgesamt sozial und seelisch die Funktion zugewiesen, gesellschaftliche Leere zu überbrücken, Lücken aufzufüllen, Sinn vorzutäuschen, Lebendigkeit einzublasen, die Menschen überhaupt noch etwas Menschliches spüren zu lassen, so tut das Sexuelle eben dies alles. In der Emphase (Nachdruck, Eindringlichkeit, M.W.) der Partnerschaft und dem Lob aufs Paar hallen zwar die Ideologien von der Sozialpartnerschaft und von der Tarifautonomie wider. Sie enthüllen aber zugleich Ohnmacht und Depravation (Verzerrung, Entstellung, M.W.), die die Menschen im gesellschaftlichen Leben dazu bringen, sich mit ihren Produkten zu identifizieren. Jeder ahnt, dass Paarbildung, in welcher Form auch immer, keinen sicheren Unterschlupf garantiert. Umso verbissener und verzweifelter wird es versucht.“ (Ebd., S. 21)

Die Mystifikation des Sexuellen

Verdinglichtes Bewusstsein heißt auch, der Vorstellung zu erliegen, dass alle sexuellen Erscheinungen der Privatsphäre angehören, dass sie Angelegenheit der Individuen seien. In der Warenwelt scheint der Kern der Sexualität dem Diktat der gesellschaftlichen Wertform entzogen zu sein. Sexualität wird als Kontrapunkt gegen die allgemeine Versachlichung missverstanden. Doch gerade durch diesen Schein, wird das Sexuelle in die Wertform gezwungen. Das ist der spezifische Fetischcharakter des Sexuellen. Das macht das Sexuelle zur Sexualität. In dieser Mystifikation von Liebe und Sex produziert die Verdinglichung ihre eigene Verdeckung. Sigusch kritisiert, dass selbst in den aufgeklärtesten Kreisen das individualisiert wird, ins Psychologische projiziert wird, was gesellschaftlicher Natur ist. Diese Verkehrung wird noch einmal verkehrt: Intimes erscheint erst dadurch intim, dass es als Intimes öffentlich verhandelt wird. Die gedoppelte Fiktion von Privatheit, Intimität und individueller Einzigartigkeit des Sexuellen ist ein Element des sexuellen Fetischismus.

Wie die Medizin den Wahnsinn dingfest und handhabbar machte, so systematisierte sie auch das Sexuelle. Jetzt stand fest, wann jemand sexuell gestört war und wann nicht. Normal und abnormal, das sind die Parolen, auf die der Sexualfetischismus hört. Das effektive Aufziehen des Sexuellen auf Normalität, sein Handhabbarkeitscharakter, das An- und Abstellen der Sinnlichkeit, der Fetischcharakter des Genusses haben eine historisch einzigartige Voraussetzung: die Vergegenständlichung des Sexuellen. Diese Voraussetzung ist im Kapitalverhältnis angelegt und wurde mit seiner Entfaltung verwirklicht. (Sigusch, Die Mystifikation, S. 90ff.)

Es sei hier noch einmal an Siguschs Ausgangspunkt erinnert, an seine Kritik am weit verbreiteten linken Glaubenssatz, Sexualität schlechthin sei zur Ware geworden. Warum dem nicht so ist, dürfte nun verständlich gemacht worden sein.

Sexualität und Gesellschaft

Um diese Sichtweise noch eingehender zu erläutern, seien auch Siguschs Ausführungen bezüglich „Natur und Sexualität“, bezüglich „Sexualität und Gesellschaft“ wie folgt zusammengefasst:

1. Der Mensch ist von Natur aus gesellschaftlich und seine Sexualität ist es auch. Sexualität ist eine gesellschaftliche Kategorie. Menschensexualität schlechthin, „reine“ Sexualität ist reine Gedankenschöpfung. Der natürliche Moment am Sexuellen lässt sich vom gesellschaftlichen prinzipiell nicht abschneiden – im Sinne von primär und sekundär, von voraus gegeben und gemacht. In jedem Trieb, in jedem Bedürfnis des Menschen ist seine ganze Gattungsgeschichte reflektiert.

2. Zu interessieren hat uns der geschichtlich-gesellschaftliche Charakter des Sexuellen. Das ist philosophisch wie politisch geboten. Nur so erkennen wir, was für die Menschen konkret und bedeutsam ist. Nur bei dieser Blickrichtung können wir etwa Pornographie oder Prostitution als das begreifen, was sie sind: Ausfluss hingerichteter Begierde. Aber Prostitution etc. ist nicht un-natürlicher als Ehe und Treue. Nur diese Optik erlaubt uns, eine menschliche Sichtweise des gegenwärtigen Liebes- und Sexualverhältnisses und bewahrt uns vor Zynismus gegenüber massenhaftem Erleben, vor Abscheu und Resignation.

3. Wenn der natürliche Anteil der Sexualität nie unmittelbar, sondern stets nur als historisch Gewordener und gesellschaftlich Produzierter in Erscheinung tritt, ist das Sich-Berufen auf die Natur der Sexualität Ausdruck der allgemeinen Verblendung und Ratlosigkeit, von rechts und links. Wer von natürlicher Sexualität als biologisch vorgegebener, gesunder, normaler, richtiger, als nur gesellschaftlich überlagerter oder als der ungebrochenen, ungehemmten des „einfachen“ Menschen redet, leugnet die gattungsspezifische Natürlichkeit des Menschen, die in seiner gesellschaftlichen Geschichtlichkeit besteht.

4. Ohne den gesellschaftlichen Lebensprozess gibt es kein biologisches Leben der Gattung Mensch.

5. Es ist nicht zulässig, am Sexuellen einen konstanten und einen variablen Anteil zu trennen. Selbst das, was wir gelegentlich „Naturbasis“ des Sexuellen genannt haben, ist zur historisch-gesellschaftlichen Seite hin nicht blind.

Keine Trennung zwischen Gesellschafts- und Sexualtheorie möglich
6. Eine von Geschichts- und Gesellschaftstheorie getrennte Theorie der Sexualität des Menschen ist keine. Die Arbeit ist die erste Kategorie der Sexualwissenschaft. Während das noch weitgehend bestritten wird, ist es bereits allgemeine Überzeugung, dass es keine Sexualtheorie außerhalb einer umfassenden Persönlichkeitstheorie geben kann.

7. Alles Natürliche ist im Laufe der Menschheitsgeschichte immer mehr zu einem „Gemachten“ geworden und immer weniger ein „Vorausgegebenes“ geblieben. Das Objektive ist dabei subjektiviert, das Subjektive objektiviert worden. Hier muss, erkenntnistheoretisch, auch die Sexualwissenschaft ansetzen. Heute sind die Menschen vollends unter sachliche Bedingungen gestellt, die ihnen als unkontrollierte wie eine Naturgewalt, als künstliche, „zweite“ Natur entgegentreten und erscheinen. Unter der Diktatur des Warenfetischs imponiert das als natürlich, was gesellschaftlich ist, und das als gesellschaftlich, was natürlich. Individuum und Gesellschaft sind prinzipiell entzweit. Das macht das theoretische Dilemma jeder Subjektwissenschaft und auch der Sexualforschung aus. Solange den Menschen ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse als fremde, von ihnen nicht beherrschte Gewalt entgegenstehen, solange sind sie, in diesem Sinne, aus der Naturgeschichte noch gar nicht herausgetreten, so lange hat die wirkliche Menschheitsgeschichte noch gar nicht begonnen. Standortblind muss uns das nicht machen, aber oft ratlos. (Sigusch, Vom Trieb, S. 70ff.)

Denk- und Triebdurchbruch

In Richtung von Sexualwissenschaftlern wie Gunter Schmidt, die Trieb durch Motiv ersetzen, die Sexualität empirisch dingfest machen wollen, bei denen Trieb (in ihrer Diktion Motiv) und (falsches, verdinglichtes) Bewusstsein zusammenfallen, identisch sind, meint Sigusch: „Denk- und Triebdurchbruch werden gleichermaßen als Irrsinn verfolgt, auf dass die herrschende Idiotie ihrer Armseligkeit ja nicht inne werde.“ (Ebd., S. 40)

„Droht in dieser Kultur seit jeher allem Abweichenden die Vernichtung, wird alles Sinnliche und Geschlechtliche auf Schablonen gezogen, mutet es wie eine Segen an: dass kein Sexualwissenschaftler eine verbindliche Antwort auf die sexuelle Frage zu geben vermag. So wie das Sexuelle historisch fabriziert wurde und gesellschaftlich am Vegetieren gehalten wird, kann unsere allgemeine Antwort auf die sexuelle Frage nur lauten: Das Sexualleben ist falsch, weil das Leben, das wir leben, falsch ist.“ (Ebd., S. 189) Geboten ist, den Widersprüchen zu widerstehen, „solange die Einsicht in die Notwendigkeit der einschneidenden Veränderungen der gesellschaftliche Verhältnisse nicht mit der realen Möglichkeit ihrer Durchsetzung zusammentrifft.

Wider die psychosozialen Phrasen und den ebenso kursierenden Kulturpessimismus sollten (wir uns) wesentlicher Qualitäten der Gattung Mensch bewusst bleiben: der Fähigkeit, die Welt gedanklich erfassen und tätig verändern zu können. Keine Verblendung, keine Verdinglichung schafft sie total aus der Welt.“ (Ebd., S. 172f.)

Ein Nachsatz des ebenso großen Dialektikers wie Romanciers Robert Musil:
Aber ich liebe Dich:
„Was ist eigentlich? Und“
„Ach, das ist umständlich.“
„Und?“
„Ich weiß es nicht mehr, ich habe es vergessen. Aber ich liebe Dich!“
Mit diesem einfachen Dialog ist die Welt in Ordnung gebracht. Er wird in ungezählten Exemplaren täglich geführt. Und aus ihm ist der Schluss zu ziehen, dass es für die Seele, für die Zufriedenheit, für das Selbstbewusstsein und für die „Geschlossenheit“ der Welt um den Menschen auf das Wissen nicht ankommt. (…)
Auf längere Zeit ist aber auch das „Ich liebe Dich“ unerträglich. So fängt dann wieder die Erkenntnis an. (Robert Musil, S. 76)

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Literatur

Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867). MEW, Berlin/DDR S. 1956ff., Bd. 23.
Robert Musil, Allerhand Fragliches, (aus seinem Nachlass), Reinbek bei Hamburg 1996.
Franz Schandl, Die Grünen in Österreich, Wien 1996.
Volkmar Sigusch, Die Mystifikation des Sexuellen, Frankfurt/M. 1984.
Volkmar Sigusch, Vom Trieb und von der Liebe, Frankfurt/M. 1984.

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