Wer hat sich das ausgedacht?
von Reimer Gronemeyer
Der Drang, die Menschheit zu retten, ist fast immer
ein Vorwand für den Drang, sie zu beherrschen.
Henry Louis Mencken (1880-1956)
In den kleinen Gehöften im Norden Namibias gibt es eine nachbarschaftliche Selbstverständlichkeit. Wenn kein Saatgut da ist, um in der Regenzeit Hirse auszusäen, dann springen die Nachbarn ein. Manchmal ist das eigene Saatgut verschimmelt oder Tiere haben es gefressen – dann droht große Not, denn Hirse ist das Grundnahrungsmittel der Menschen in diesem Landstrich. Sie wird in einem Bottich gestampft und dann zu einem Brei verkocht: oshifima ist die Mahlzeit, die – wenn keine Not herrscht – zweimal am Tag gegessen wird, mit Spinat oder Bohnen oder an besonderen Tagen mit Fleisch. Die Gehöfte umfassen Rundhütten, die aus den Materialien der Landschaft erbaut sind, umgeben von einem Palisadenzaun, der die große Familie (und oft auch die Tiere) eint und schützt. Man wohnt nicht in Dörfern, sondern das nächste Gehöft ist meist in Sichtweite, aber doch entfernt gebaut. Die Hirsefelder umgeben den egumbo, so heißen diese Gehöfte in der Sprache der Donga. Die Hirse wird in geflochtenen Behältern sorgfältig aufbewahrt. Manchmal wird auch etwas von dem überlebenswichtigen Saatgut in einer Hütte aufbewahrt. Das Saatgut hängt dann von der Decke und ist so vor Feuchtigkeit und vor Nagern sicher. Aber es kommt vor, dass, wenn das Feld gepflügt und der Regen gekommen ist, das Saatgut fehlt. Und dann helfen die Nachbarn, wenn sie können, aus. Ist das eine Dienstleistung? Wir denken, wenn wir von Dienstleistung reden, vielleicht zuerst an den Klempner oder die Reinmachefrau. Aber das, was da gemeint ist, war in bäuerlichen Gesellschaften die persönliche Gabe, die nicht entgolten wurde, sie wurde nicht bezahlt, sie war nicht normiert, sie war nicht gemessen und nicht gewogen. Aber sie war mit der Erwartung der Gegenseitigkeit verbunden. Der Geber konnte davon ausgehen, dass ihm – sollte er in Not geraten und ohne Saatgut dasitzen – Hilfe zuteilwerden würde. Diese „Dienstleistung“ war nicht vertraglich geregelt und nicht einklagbar. In traditionellen Gesellschaften waren solche Dienstleistungen vielmehr das selbstverständliche Ferment der Gemeinschaft. Wer sich nicht daran hielt, musste mit der Ächtung der anderen Nachbarn rechnen. Krankheit, Hunger, Feuer waren Anlässe zu nachbarschaftlichen Dienstleistungen, die nicht immer funktionierten, aber doch den Kern subsistenter Gemeinschaften bildeten. Diesen nachbarschaftlich gestimmten Dienstleistungsgesellschaften droht heute die Vernichtung. Obwohl noch immer 80 % der Weltbevölkerung aus solchen kleinbäuerlichen Lebenswelten ihre Nahrung, ihre Kultur, ihre Bildung, ihre Heilung beziehen, werden solche „Dienstleistungsbetriebe“ systematisch stillgelegt. Die „Grüne Revolution“ hat damit in den 1960er Jahren begonnen, indem – vor allem in Asien – neue Technologien in die Landwirtschaft eingeführt wurden. Traditionelle Techniken und traditionelle Lebensformen wurden vernichtet, vor allem aber mündete die Grüne Revolution in der Verschuldung bäuerlicher Betriebe, die gedrängt wurden, neues Saatgut zu kaufen, das ohne Pestizide und Kunstdünger nicht gedeiht. Damit begann die Schuldenspirale sich zu drehen. Zwischen 2006 und 2016 haben in Indien mehr als 140.000 Bauern Selbstmord begangen. Es ist die Folge erbarmungsloser Modernisierungsstrategien. Der erzwungene „Fortschritt“ hat die indischen landwirtschaftlichen Kleinbetriebe von den großen Saatgut-, Pestizid- und Kunstdüngerkonzernen abhängig gemacht.
Landgrabbing, das heute in Osteuropa, Asien, Lateinamerika und Afrika in großem Stil stattfindet, wird ja oft mit der Behauptung verteidigt, nur landwirtschaftliche Großbetriebe könnten die Menschheit vor Hungerkatastrophen retten. Tatsächlich behaupten die Konzerne, sie würden mit ihren Dienstleistungen die Welt retten, während sie in Wirklichkeit die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die noch immer die meisten Menschen auf dem Planeten ernährt, zerstören, um ihre Gewinne zu steigern. In Äthiopien, wo seit Längerem Landgrabbing in großem Stil und staatlich gebilligt stattfindet, wird diese Enteignung erbarmungslos vorangetrieben. Agenten überreden Jugendliche, ihnen die bäuerlichen Flächen der Eltern zu überschreiben. Das geschieht, die eingeschüchterten Alten wagen nicht dagegen zu klagen, sie hätten auch nicht das Geld oder die Möglichkeit, sich vor Gericht zur Wehr zu setzen. Ihnen bleiben kleinste Flächen, auf denen Viehhaltung nicht mehr möglich ist. Die Jungen lassen sich von den kleinen Geldsummen blenden, die ihnen versprochen werden. (Michaela Fink: Labor Turnover in Ethiopia’s Textile Industry. A hotspot of Social Transformation, Bielefeld 2024) So wird aus der subsistenten, geldfreien und familialen Dienstleistung, die das Überleben sichert, eine konzerngestützte oder von Großgrundbesitzern marktgängig gemachte Dienstleistung, die zu Elend, Hunger, Verschuldung und Abhängigkeit führt. Und diese Dienstleistung gibt sich als modern, fortschrittlich, zukunftsfähig. Tatsächlich vernichtet sie die Fähigkeit, sich selbst zu ernähren, Nahrung muss gekauft werden. Im Grunde ist dieser Prozess der Zerstörung des subsistenten Lebens zugunsten konzerngestützter Unterwerfung das Geheimnis aller erfolgreichen Dienstleistung in unserer Gegenwart. Sie beginnt fast immer als ein Projekt der Zerstörung des Kleinen, des Sozialen, des Eigenen zugunsten der schwer durchschaubaren Großstrukturen. Das wird dann lebensbedrohlich, wenn diese Dienstleistungsindustrie in eine Krise gerät – die heute dabei ist zur Dauerkrise zu werden. Die industrialisierten Dienstleistungen haben es vermocht, die Gegenwart zu kapern, sodass unsere heutige Gesellschaft nun tatsächlich makabrer Weise als Dienstleistungsgesellschaft bezeichnet werden kann. Und dahinter verbirgt sich ein Prozess umfassender Entmündigung. Die Allmende war im Mittelalter nutzbares Land, das zu einem Dorf gehört. Es durfte von den Bauern des Dorfes als Gemeinschaftseigentum genutzt werden, man durfte dort zum Beispiel seine Kühe grasen lassen. Es gab aber auch eine nicht klar abgegrenzte und definierte soziale Allmende. Dazu gehörte zum Beispiel die Gabe von Saatgut in Notzeiten – siehe oben. Die Menschen lebten aus einer sozialen Allmende, die eine Art soziale Absicherung in Notzeiten war. Es war eine persönliche, lokale und nicht geldorientierte Dienstleistung. So wie die natürliche Allmende (Wiesen, Holz, Teiche) zum Verschwinden gebracht wurde, so hat die industrialisierte Dienstleistung diese soziale Allmende getötet.
Vom Dienst an anderen zum Dienst als Ware
Das Wort Dienstleistung, das man geneigt sein könnte als ein sehr modernes Wort zu betrachten, hat alte Wurzeln, ist aber im Grunde ein modernes Plastikwort geworden. Ein kurzer Blick zurück: Das Grimm’sche Wörterbuch verzeichnet den Begriff schon für das 17. Jahrhundert. Dienstleistungen sind „dienste wozu man verpflichtet ist, oder die man freiwillig leistet“. Auf der Zittauischen Bühne wird 1682 ein Theaterstück aufgeführt, das Christian Weise geschrieben hat. Das Stück trägt den Titel: „Das Ebenbild eines gehorsamen Glaubens, welches Abraham in der vermeinten Opferung seines Isaacs beständig erwiesen …“ In dem Stück tritt ein Hofmeister auf und spricht zu Sara (der Frau Abrahams): „Meine Frau macht mich glückselig, daß meine geringe Dienstleistung nicht verworffen wird.“ Dabei ist „Meine Frau“ wohl die ehrerbietige Anrede des Hofmeisters für Sara. Die Dienstleistung ist hier offenbar eine persönliche Tätigkeit, die der Hofmeister erbringt. Das Wort Dienst ist mit der „Demut“, der „dienenden Gesinnung“ verwandt. Das Wort spielt aber bis in die Neuzeit keine große Rolle, es wird bisweilen in Lexika im militärischen Kontext erwähnt: Dienstleistung ist „die Einstellung eines Offiziers in einen Truppenteil zur zeitweiligen Ausübung des Dienstes, z.B. Dienstleistung bei andern Waffen, Militärbehörden etc. Erst in jüngster Zeit wird der Begriff Dienstleistungsgesellschaft zu einem Wort, mit dem Gesellschaften bezeichnet werden, in denen Dienstleistungen mehr Arbeitskräfte binden als Landwirtschaft und Industrie zusammen. Nun bläht sich der Begriff und wird allmählich ganz aus dem Kontext des persönlichen und unbezahlten Nachbarschaftskontext herausgenommen. Nun heißt es: „Eine Dienstleistung ist eine Tätigkeit, die ein Unternehmen oder eine Privatperson gegen Entgelt für andere ausübt. Im Gegensatz zu Gütern und Produkten handelt es sich bei der
Dienstleistung wirtschaftswissenschaftlich betrachtet um ein immaterielles Gut.“ (www.weclapp.de) So verstanden bieten Dienstleistungsunternehmen mehr und mehr bezahlte Leistungen an. Dazu gehören dann „beispielsweise Banken, Krankenhäuser, Telekommunikationsunternehmen, Versicherungen, Agenturen, Reiseveranstalter, Speditionen, Wäschereien, Abschleppdienste, Reinigungsunternehmen, Friseure oder Schlüsseldienste.“ (www.Juraforum.de)
Das ist nun offensichtlich eine wirtschaftswissenschaftlich verengte Auffassung von Dienstleistungen, in der die subsistenten und persönlichen Dienstleistungen verschwunden sind. In der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger werden alle diese Vorgänge, die früher durch ihr selbstverständliches Funktionieren charakterisiert waren, ob es die Post, die Bahn, das Telefon, der Kindergarten, der Hausarzt oder der Klempner war, kriselnde Angelegenheiten. Das funktionierte einmal im Wesentlichen. Heute ist das Grundgefühl: „Nichts funktioniert mehr.“ „Niemand macht noch seinen Job.“ „Wer arbeitet ist dumm.“ Und manchen beschleicht der Eindruck, dass wir uns damit dem Ende einer funktionierenden Gesellschaft nähern. Christian Girschner spitzt das in seinem Buch über die Dienstleistungsgesellschaft („eine fixe Idee“) noch zu. Die Forderung nach Ausbau des Dienstleistungssektors sei ein Grundpfeiler der neoliberalen Politikoffensive. Keiner wisse wirklich zu sagen, was Dienstleistungen eigentlich seien, es sei im Grunde eine sozialwissenschaftliche Fiktion. Und er resümiert: Der Dienstleistungssektor sei im Kontext der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft nicht gewachsen, sondern geschrumpft. Das stimmt, wenn man an die personengebundenen Dienste am anderen und für andere denkt. (Christian Girschner: Die Dienstleistungsgesellschaft. Zur Kritik einer fixen Idee. Köln 2003)
Man erinnere sich an die Diskussion der 1970er und -80er Jahre. Da hieß es: Deutschland haben keine Bodenschätze, deshalb liege die Zukunft Deutschlands im Ausbau des Dienstleistungssektors. Tatsächlich hat Girschner in bestimmter Hinsicht recht. Gemeinschaftsorientierte Tätigkeiten, also Dienste am Nächsten, am Nachbarn, am Freund, an der Familie sind vielfach verschwunden. In der Tendenz ist fast alles, was da war, verdorrt. Alles wurde Schritt für Schritt ersetzbar durch die bezahlte professionelle Dienstleistung. Die Nachbarin braucht Unterstützung? Da kommt der Pflegedienst. Der Sohn kommt in der Schule nicht mit? Nachhilfedienste helfen bei Schulproblemen. Die Gartenarbeit ist eingestellt, weil im Supermarkt alles einfacher zu haben ist. Die Schuhe werden nicht zum Schuster gebracht, sondern es werden neue gekauft. Bei dem Wort „Dienstleistungen“ darf man an den Amazonasurwald denken: Die Vielzahl der menschlichen, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen und familialen Dienste verschwindet.
Es gab einmal – so muss man resümieren – eine lebendige vielfältige Dienstleistungsgesellschaft, die durch die Monokultur der bezahlten Dienstleistungen ersetzt worden ist. Und Girschner hat weiterhin recht, weil die Industrialisierung der Dienste am Anderen an ihre Grenzen geraten ist: Diese Industrialisierung der Nächstenliebe (um es mal ganz konventionell auszudrücken) scheitert gerade.
Die scheiternde professionelle und bezahlte Dienstleistung lässt Hoffnungen sprießen: Die Mauern der Hochrüstungs-Dienstleistung zerfallen zu Staub wie die Mauern Jerichos in sich zusammenbrachen. Es waren die Trompeten von Jericho, wie es im alttestamentlichen Buch Josua, Kap. 6, 4-20 heißt, deren Klang den Einsturz der Mauern Jerichos zur Folge hatte. „Am siebenten Tage aber sollt ihr siebenmal um die Stadt herumziehen, und die Priester sollen in die Posaunen stoßen. Und wenn man das Widderhorn bläst und ihr den Schall der Posaunen hört, so soll das ganze Volk ein lautes Feldgeschrei erheben; dann wird die Stadtmauer in sich zusammenstürzen.“ Ein verlockender Gedanke: Siebenmal ziehen die empörten Bürger um den BahnTower am Potsdamer Platz in Berlin und lassen die Posaunen erschallen; siebenmal ziehen die inflationsgeplagten Bürgerinnen um den Skytower der Europäischen Zentralbank und die Trompeten sind zu hören. Und siebenmal ziehen die Jungen um die Konzernzentrale der Vonovia SE, um nach bezahlbaren Wohnungen zu rufen: Das Feldgeschrei und die Posaunen würden natürlich nichts zum Einsturz bringen, aber sie würden die Aufmerksamkeit auf das Versagen der Konzerne im Angesicht der dringenden Wünsche des Volkes lenken.
Expertokratie
„Die Experten“, so analysierte Ivan Illich schon vor Jahrzehnten, „konnten erst dann ihre dominierende Stellung erreichen und ihre entmündigende Funktion ausüben, als die Menschen bereit waren, tatsächlich als Mangel zu empfinden, was der Experte ihnen als Bedürfnis dekretiert.“ Es lassen sich immer neue Bedürfnisse diagnostizieren, die dann nur durch spezialisierte Dienstleistungen befriedigt werden können. Erst entdecken die Spezialisten „Missstände“, die sie als „Problem“ erkennen, um dann eine neue Dienstleistungsware auf den Markt zu bringen, die Abhilfe schafft. Konstitutiv dafür ist, dass sie nur von Experten erbracht werden kann und dass sie kostet. „Die neuen Spezialisten kommen gern im Namen der Liebe daher und bieten irgendeine Form der Fürsorge an … Die Erzieher zum Beispiel schreiben der Gesellschaft heute vor, was gelernt werden soll, und erklären das, was früher außerhalb der Schule gelernt wurde als nichtig. Der Ernährungswissenschaftler schreibt die ‚richtige‘ Kost für den Säugling vor, der Psychiater verschreibt das ‚richtige‘ Antidepressivum, und der Schulmeister – mit inzwischen unumschränkter Erziehungsgewalt – fühlt sich berechtigt, seine Methode zwischen dich und alles, was du lernen willst, zu schieben … Die Ärzte hatten zwar immer bestimmt, was Krankheit ist und was nicht; heute aber bestimmt die dominierende Medizinzunft, welche Krankheiten die Gesellschaft tolerieren darf und welche nicht.“ (Ivan Illich: Entmündigende Expertenherrschaft, in: Ders. e.a.: Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek 1979, S. 15 ff.)
Die Dienstleistungsgesellschaft verleiht dem Experten eine geradezu hohepriesterliche Aura. Experten definieren Menschen zu Patienten oder Klienten, sie bestimmen die Bedürfnisse eines Menschen und versehen ihn mit einer Diagnose und dem dazugehörigen Rezept. Im Kern ruht die Dienstleistungsgesellschaft auf diesem Doppelschritt: Auf der entmündigenden Diagnose einerseits und dem damit freigesetzten unersättlichen Wachstum andererseits. Verschwunden ist die Gabe, in der sich ein Mensch „umsonst“ einem anderen zuwendet und ihm zu Diensten ist. Ich höre gerade von einer jungen Mutter, die jeden Schritt im Umgang mit ihrem Baby bei Instagram in den einschlägigen Chatgruppen klärt. Offenbar traut sie ihren Gefühlen nicht und nicht den Erfahrungen der Mütter und Großmütter vor ihr. Die Dienstleistungsgesellschaft hat einen Prozess der kulturellen Verarmung in Gang gesetzt, der den finalen Triumph des Expertentums einläutet. André Gorz erzählt von einem Schuhputzer, „der eine Dienstleistung verkauft, die seine Kunden ebenso in weniger Zeit selbst hätten verrichten können als in der Zeit, die sie auf ihrem Thron gegenüber einem zu ihren Füßen zusammengekrümmten Menschen verbringen. Sie bezahlen ihn nicht für den Nutzen seiner Arbeit, sondern für das Vergnügen, dass sie dabei empfinden, sich bedienen zu lassen.“
Auszug aus: Reimer Gronemeyer, Nichts funktioniert mehr. Welche Chance! Vom Ende der Dienstleistungsgesellschaft