Schriftsteller, Theatermann, Politiker
von Hermann Engster
Der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson hat vor 25 Jahren mit seinem Buch „Das Goethe-Tabu“ die Goethe-Gemeinde aufgestört. Das Herzogtum Weimar mit seinem „aufgeklärten Absolutismus“ unter Carl August galt als liberal, allerdings auch nur im Vergleich zu den übrigen Fürstentümern, denn auch hier gab es Unterdrückung, Soldatenhandel, Spitzelwesen, Zensur. Goethe, Dichter der Humanität, aber auch Staatsbeamter und Mitglied des vierköpfigen „Geheimen Consiliums“, faktisch der Regierung, spielte dabei eine zwielichtige Rolle, wie Wilson anhand umfänglicher Archivstudien zeigte.
Mit solchem Forschungsinteresse widmet er sich in seinem neuen Buch der Frage, frei nach Margarete: „Nun sag’, wie hast du’s mit den Juden?“ So wie sich Faust um eine klare Antwort herumwindet, so auch Goethe selbst. Und ebenso die Zunft der Germanisten insgesamt, die um das heikle Thema bislang einen weiten Bogen gemacht hat. Goethes Haltung ist, wie der Untertitel formuliert, ambivalent, schwankend zwischen „Faszination und Feindschaft“.
Wilson zeigt Goethe als Schriftsteller, Theatermann und Politiker und zieht bislang ungenutzte Quellen heran. Der junge Goethe ist einerseits vom exotisch wirkenden Judentum angezogen, später pflegt er auch freundschaftliche Beziehungen zu gebildeten Juden, darunter auch zu den vielen jüdischen Verehrerinnen und Verehrern, so die intellektuellen Frauen der Berliner Salons wie Rahel Varnhagen und Henriette Herz. Diese sind freilich zum Christentum konvertiert, und es sind hauptsächlich Konvertierte, mit denen er vertieften persönlichen Umgang pflegt, mit Nicht-Konvertierten nur, wenn sie ihm nützen können, vor allem als Verbreiter seines Ruhms. Man nennt das heute Marketing. Er geht da sehr gezielt vor, denn er steht unter Konkurrenzdruck durch die Mitte der 90-Jahre aufstrebenden Romantiker, die als moderner gelten, während seine Werke bleischwer in den Regalen der Buchhändler liegen. Es sind allesamt Angehörige der Oberschicht, denen er schmeichelt, die sozial darunter Platzierten verachtet er weiterhin als Schacher- und Wucherjuden. Der von der französischen Nationalversammlung 1791 beschlossenen – und uneingeschränkten! – Emanzipation der Juden, die zunehmend, wenn auch nur vereinzelt, nun auch in Deutschland gefordert wird, steht er mit entschiedener Ablehnung gegenüber, einer Ablehnung, die sich ab 1797 bis zur Feindseligkeit steigert und sich, gänzlich unolympisch, mit Häme, Gehässigkeit und Wut Luft macht.
Wilson zeigt, wie tief die Judenfeindschaft im Boden der deutschen Kultur wurzelt. Goethe ist durchaus nicht, wie oft gemeint, die „große Ausnahme“ in der Geschichte dieser Feindschaft, die zu Goethes Zeit allerdings noch nicht (oder allenfalls in ersten Ansätzen) rassistisch vergiftet ist, weshalb Wilson den Ausdruck Antisemitismus vermeidet. Er zeigt aber an einer Fülle von Belegen, wie Goethe die gängigen Stereotype von der jüdischen Geldgier, Lügenhaftigkeit und Rachsucht mobilisiert. Er zeigt es an literarischen Beispielen wie auch an der Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“, in der Goethe seine Judenfeindschaft sorgsam bemäntelt.
Goethes Position gegenüber den Juden ist: Erst müssen sie sich kulturell verbessern, bevor sie rechtlich emanzipiert werden können. Die einzige realistische Möglichkeit zur „Verbesserung des jüdischen Charakters“ bestehe, so die herrschende Auffassung, im Übertritt zum Christentum: Verlangt wird Assimilation. Zudem betrachtet Goethe die mit der Französischen Revolution einhergehende Judenemanzipation als jakobinisches Teufelswerk. Einzig im Königreich Westphalen, wo Napoleons Bruder Jérômeals König herrscht, wird mit dem „Emanzipationsdekret“ von 1808 die volle Gleichstellung der Juden verwirklicht. Mit dem Sieg über Napoleon und dem Ende von Jérômes Herrschaft 1815 wird auch das kassiert.
Goethe fährt eine Doppelstrategie: Gesellschaftlich und literarisch ist er zurückhaltend, privat und politisch kennt er keine Scheu. Die Maßnahmen zur Besserstellung der Juden im angeblich liberalen Weimar sind minimal, denn viele rechtliche Diskriminierungen und wirtschaftliche Schikanen bleiben bestehen. Mit Genugtuung schreibt Goethe 1816 in einem Brief an einen Freund: „In Jena darf nach alten Gesetzen kein Jude übernachten. Diese löbliche Anordnung dürfte gewiss künftig hin besser als bisher aufrecht erhalten werden.“ Zwar gilt dieses Gesetz „nur“ für Händler, aber er hat daran mitgearbeitet. Scharf wird die Begrenzung des Zuzugs von Juden gehandhabt, geradezu schändlich die Verfügung, dass nur ein einziger Sohn heiraten darf. Die Alternative für die übrigen Söhne: ehelos leben oder auswandern. Der Grund ist die Furcht, dass die Juden wegen ihres Kinderreichtums die christliche Bevölkerung überformen könnten. Heute firmiert das unter den Kampfbegriffen „Umvolkung“ und „großer Austausch“. Derlei Bedenken teilt auch Goethe. Er drückt ferner, wie er in einem Brief schreibt, seinen „leidenschaftlichsten Zorn“ aus gegen die Zulassung christlich-jüdischer Mischehen in der neuen weimarischen „Juden-Ordnung“ und äußert dabei auch (damals schon aufkommende) Verschwörungslegenden über jüdische Drahtzieher wie Rothschild.
Israel Jakobsohn, Geheimer Finanzrat in Braunschweig, Repräsentant der jüdischen Aufklärung Haskala und Vorkämpfer der Judenemanzipation, analysiert 1806 in einer Schrift die sozialen Ursachen der den Juden nachgesagten negativen Eigenschaften wie Schachern und Lügen und erklärt: Wenn Christen ebenfalls unter den ärmlichen und bedrückenden Verhältnissen leben müssten, wie sie in den überfüllten Ghettos herrschten, würden sie dieselben Eigenschaften hervorbringen – ein Vorgriff auf die Milieutheorie von Hippolyte Taine. Die Lösung des sog. Judenproblems sieht er in der Herstellung von Freiheit und Gleichheit, schlicht zunächst darin, den Juden zu gestatten, außerhalb des Ghettos spazieren zu gehen, sogar auch Handel treiben zu dürfen. Goethe reagiert auf die Schrift mit Häme und schmäht ihren Autor als einen „Humanitätssalbader“. Ach ja, die Verse „Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen“ in der Hymne „Das Göttliche“ von 1783 stammen auch von ihm. Der Dichter der ergreifenden Gretchen-Tragödie unterzeichnet 1816 im Geheimen Consilium (gegen die Intention des Herzogs, der das Strafrecht reformieren will) das Todesurteil gegen die 24-jährige Dienstmagd Johanna Catharina Höhn, die aus Verzweiflung ihr neugeborenes Kind umgebracht hat. Dichtung und Wahrheit.
Man macht es sich zu einfach, wenn man zu Goethes (und eigner Entlastung) beschwichtigt, dass auch er „halt ein Kind seiner Zeit“ war. Andre Kinder ihrer Zeit waren keine Judenfeinde und traten für deren Emanzipation ein. Wilson zählt sie auf: Lessing, Herder, Bettina von Arnim, Hedwig Dohm, Jenny von Pappenheim, der Historiker Luden, der Rechtswissenschaftler Thibaut, der späte Hegel, Wilhelm von Humboldt, in beschränktem Maß auch Herzog Carl August. Nicht zu vergessen auch die Frankfurter Bürger, die sich entschieden gegen den Wiederaufbau des teilzerstörten Ghettos wandten, oder die Studenten in Heidelberg und andren Universitäten, welche die Opfer der Hep-Hep-Unruhen vor Gewalt schützten.
Wilson argumentiert sehr differenziert, wägt sorgsam positive und negative Lesarten ab, scheut sich aber auch nicht vor klaren Urteilen. Mit dieser Doppelgesichtigkeit Goethes müssen alle Verehrer seiner Dichtung, zu denen auch der Rezensent gehört, klarkommen.
W. Daniel Wilson: Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft. C.H. Beck: München 2024. 351 S.