Remigration ist deutsche Staatsraison
von Wolf Wetzel
aus: Overton-Magazin, 30.1.2024
Das Wort Remigration liegt in aller Munde. Es ist das gekürte Un-Wort des Jahres 2023 und gehört folglich zum Wortschatz der Bösen, der AfD und der Nazis.
Tatsächlich ist „Remigration“ Teil der deutschen Staatsraison.
Hunderttausende sind am 20. Jänner 2024 auf die Straße gegangen. Dieses Mal zählte sogar die Polizei die Teilnahme nicht klein. Alle kamen, die Bundesregierung, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Prominenten, die Omas gegen rechts, die LINKE und die vielen anderen. Alle sind nun gegen rechts – die CDU, die Bundesregierung, die BILD-Zeitung, die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die Influencer.
Enthüllungen und Entblößungen
Auslöser dieser Massenbewegung war die „Enthüllung“ eines Geheimtreffen in Potsdam im November vorigen Jahres, wo sich AfD- und CDU-Mitglieder mit Identitären und Industriellen trafen. Dort soll auch über ein Plan zur Remigration gesprochen worden sein, was in den Medien irgendwo zwischen massenhafter Abschiebung und Wannseekonferenz einordnet wurde.
Offensichtlich musste man das Gesagte mit der Wannseekonferenz 1942 in Verbindung bringen, auf der die industrielle Vernichtung der Juden beschlossen wurde. Das war notwendig und unerlässlich. Denn wenn man das Treffen ohne Geschichtsrelativierung und ohne die Instrumentalisierung der Shoa eingeordnet hätte, hätte man darüber nachdenken können/müssen, ob das, was dort besprochen wurde nicht auch woanders besprochen wird. Oder noch ein klein weniger unangenehmer: Gibt es politisch Gruppierung und Parteien, die nicht nur davon träumen, sondern dies in die Tat umsetzen?
Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß
Man kann diese Gedanken mit der Eingangsfrage bei „Wer wird Millionär“ verbinden, um spielerisch an die Antworten zu kommen. Ungefähr so:
Ordnen Sie folgende Aussagen den entsprechenden Personen bzw. Organisationen zu?
– Es geht um Abschiebung in großem Stil.
– Ausländer sollen wegen Zugehörigkeit zu einem „kriminellen Clan“ ausgewiesen werden.
– Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts soll man Antisemiten auch rückwirkend den deutschen Pass entziehen und ausweisen können.
– Gemeinsames Ziel ist eine „große Rückführungsoffensive“.
Ich möchte Sie mit der Beantwortung dieser Frage alleine lassen – und nur so viel verraten: Wenn es tatsächlich um die widerlichen Vorstellungen und Praktiken von Remigration gehen würde, dann würde man nicht zuerst auf dieses Treffen in Potsdam kommen, sondern auf die vielen Geheimsitzungen in den Regierungsparteien, in der Opposition von CSU/CDU und AfD.
All das ist übrigens ganz leicht herauszubekommen. Dafür braucht man kein Teleobjektiv, kein Gebüsch, keine Spione und Wanzen und auch keine geheimdienstlichen Aktivitäten.
Warum gehen also Hunderttausende mit denen zusammen auf die Straße, die genau das machen, was man unter Remigration verstehen kann und soll? Warum ist das, was die Regierungskoalition macht, in die Tat umsetzt und auf den Weg bringt, in Ordnung, während jene, die davon reden und träumen, des Teufels?
Für Remigration – mit Stil
Am gemeinsamen Willen zu Formen der Remigration kann es also nicht liegen. Ich kann vielmehr davon ausgehen, dass Remigration, also von Abschiebungen bis hin zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft von all denen geteilt wird, die zusammen mit Mitgliedern der Bundesregierung auf die Straße gehen. Aber wogegen sind sie also auf die Straße gegangen, fragt man sich dann?
Liegt es also nicht an der „Musik“, sondern am Ton, wie etwas vorgetragen wird? Wenn die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel geifert und flucht, von „Messer-Männern“, „Kopftuch-Mädchen“ und „Taugenichtsen“ spricht, dann ist das aggressiv. Wenn dasselbe unser Bundeskanzler Olaf Scholz meint, schläfrig und ganz sachlich, dann kann man damit offensichtlich gut leben.
Vielleicht ist das große Bündnis zwischen oben und unten, Regierenden und Regierten auch Ausdruck davon, dass man weiß, dass man die Grenzen mehr oder weniger dichtmachen muss, wenn man die Ursachen von Flucht und Vertreibung nicht bekämpft, sondern zu den Ursachen ganz wesentlich beiträgt.
Es ist doch kein Geheimnis, dass die meisten Flüchtlinge nicht nach Deutschland kommen, weil sie Deutschland so lieben und schon immer hier einmal leben wollten. Sie kommen, weil sie es in ihren Heimatländern nicht länger aushalten, weil sie Unterdrückung, Verfolgung, Krieg und Hunger satthaben – wobei „satt“ in diesem Kontext eine merkwürdige Bedeutung bekommt.
Und man braucht kein Geheimtreffen belauschen, um zu wissen (wenn man es wissen will), dass in ganz vielen Ländern Hunger und Unterdrückung herrschen, weil die Regierungen und Diktaturen von Ländern wie Deutschland gestützt, an die Macht gebracht und dort auch gehalten werden – als Wachhunde, als Resteverwerter, als Müllhalde, mit ein paar gut geschützten Urlaubsresorts mit work-life-balance.
Keine Frage der Moral
Es ist keine Frage der Moral, des Gut-Seins oder der ethischen Einstellung, wie man mit Flüchtlingen umgeht. Im Zentrum steht die Frage, wer für die Ursachen von Flucht und Vertreibung verantwortlich ist, wer davon profitiert und wer also gar kein Interesse hat, daran etwas grundsätzlich zu ändern.
Wenn es also – im Kern – gar nicht um „Willkommenskultur“ geht, weil diese die Ursachen überhaupt nicht berührt, sondern nur die Folgen mit einem guten Herzen lindern kann, dann geht es auch gar nicht mehr um den „Flüchtling“, sondern um unser eigenes Leben, das von diesen Scheußlichkeiten geschützt werden will.
Der AfD-Spitzenkandidat in Thüringen Björn Höcke und der widerliche Identitäre aus Österreich, Herr Sellner, sprechen gerne von „wohltemperierten Grausamkeiten“, die notwendig seien, um dem „Flüchtlingsproblem“ Herr zu werden.
Dazu ließe sich in zwei Richtungen etwas sagen:
Erstens gibt es kein „Flüchtlingsproblem“, sondern ein Problem mit den Ursachen von Flucht und Vertreibung.
Und zweitens treffen Höcke und Sellner einen wunden Punkt. Wenn man an den Ursachen festhalten will, wenn man von ihnen profitiert, dann lächelt man das nicht weg, sondern muss grausam sein.
„We are here, because you were there“
Das war eine Aussage von einem Flüchtling, die wir Anfang der 1990er Jahre plakatiert hatten, um deutlich zu machen, dass es einen systemischen Zusammenhang gibt zwischen der Ausbeutung durch europäische (Kolonial-)Staaten und der immer wachsenden Zahl an Flüchtlingen. Zum anderen steckt in diesem schlichten Satz noch etwas – eine Reihenfolge: Zuerst wart ihr (die Kolonialisten) bei uns, bevor wir zu euch kamen. Ihr kamt und kommt, um euch noch mehr zu bereichern. Wir kommen zu euch, um zu überleben.
Das Lichterketten-Syndrom
Manche assoziieren mit Lichterketten mehr als Fenster- und Weihnachtsschmuck. In den 1990er Jahren schmückten sie auch das „anständige Deutschland“. Auch hier gingen Zehntausende, Hunderttausende auf die Straße – gegen rechts, gegen Rassismus und Faschismus. Stimmt das? Kann man das mit den Hundertausenden im Jahr 2024 vergleichen?
Es lohnt sich, sich genau zu erinnern. Mit der sogenannten Wiedervereinigung Deutschlands ging eine Pogromwelle einher, die man seit den 1930er Jahren nicht mehr kannte. Es wurden Flüchtlingsheime angegriffen, belagert, tagelang – wie in Rostock-Lichtenhagen 1992. Die Polizei schaute tagelang zu und erklärte sich für überfordert. Als das Flüchtlingsheim angezündet wurde, machte die Polizei Schichtwechsel. Die Mischung aus aufgebrachten Bürgern und organisierten Nazis blieb unter sich. Es gab keinen Aufstand der „Anständigen“, keine Gegendemonstrationen, keinen Aufruf der Regierung, jetzt endlich Zivilcourage zu zeigen.
Das war an vielen anderen Orten in Deutschland ähnlich. Dort, wo es tatsächlich Widerstand gegen diese rassistischen Angriffe gab, war die Polizei zur Stelle und zerschlug den Protest. Das war damals keine ausschließlich rechte, reaktionäre Angelegenheit. Auch SPD-Bürgermeister machten mit und verboten Gegendemonstrationen, wie in Mannheim-Schönau 1992.
In jener kurzen Zeitspanne wurden über 150 Menschen ermordet, die nicht weiß genug waren. Die Regierungsparteien und regierungswilligen Parteien von CDU/CSU, über FDP bis SPD ließen diese rassistischen Exzesse gewähren, denn sie sollten die Legitimation für eine Regierung sein, die behauptete, dass sie durch die Verfassung behindert wäre.
Nicht die „aufgebrachten“ Bürger, die Nazis, die wie Pilze aus dem Boden schossen, waren für sie das eigentliche Problem, sondern das Grundgesetz, um genauer zu sein, der § 16, der das Asylrecht regelte. So bedauerten zwar alle Parteien die Gewalt der Straße, um gleichzeitig dafür zu werben, dass erst die „Neuregelung“ des § 16 des Grundgesetzes Frieden brächte. Es waren – auch damals – nicht nur Nazis – die rassistische Parolen ausgaben und eine rassistische Stimmung schürten, sondern die Parteien der „Mitte“ selbst, die sich mit Parolen von einer „Asylflut“ und einem drohenden „staatlichen Notstand“ (CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl) gegenseitig überboten. Dabei machten alle im Bundestag vertretenen Parteien mit, und wer diese Hetzaufrufe mit denen heute vergleicht, wird sich vielleicht wundern, wie wenig sich geändert hat.
Die potenziellen Täter/innen wurden mit einem prallen Argumentationskoffer auf den Weg geschickt:
– „Das Boot ist voll“, Das Magazin Der Spiegel vom 9.9.1991
– „Es kann nicht sein, dass ein Teil der Ausländer bettelnd, betrügend, ja auch messerstechend durch die Straßen zieht, festgenommen wird und nur, weil sie das Wort ›Asyl‹ rufen, dem Steuerzahler auf der Tasche liegen.“ Klaus Landowsky, CDU-Fraktionsvorsitzender in Berlin. Zitiert nach: Stern Nr. 43 vom 17.10.1991
– „Kurzen Prozess, an Kopf und Kragen packen und raus damit!“ Friedhelm Farthmann, SPD, damaliger Minister in Nordrhein-Westfalen zur „Lösung der Asylfrage“. Zitiert nach: Der Spiegel Nr. 3/93 vom 17.3.1992
Die Ausweisung des § 16 des Grundgesetzes ins Ausland
1993 war es dann so weit: Was Neonazis und anständige Deutsche mit Springerstiefeln und Anzug, mit Hass und verständlicher Sorge jahrelang, unter Schirmherrschaft einer Großen Koalition, im ‚Einzelfall‘ betrieben, wurde systematisiert, verstaatlicht, verrechtlicht: Am 26.5.1993 verabschiedete der Deutsche Bundesstag mit einer satten 2/3 Mehrheit die De-facto-Abschaffung des Asylrechts (Grundgesetzartikel 16). Fortan umgab sich Deutschland mit der Erfindung „sicherer Drittstaaten“, in die Flüchtlinge sofort abgeschoben werden konnten. Für Flüchtlinge war Deutschland nicht mehr erreichbar. Und wer es dennoch – per Flugzeug – schaffte, nach Deutschland zu kommen, den erwartete eine bis auf 98 Prozent ansteigende Ablehnungsquote von Asylanträgen – die sichere Rückkehr in Hunger, Folter und Tod.
Gegen die Abschaffung des Asylrechts demonstrierten am 26. Mai 1993 nicht Hundertausende, sondern ein paar Tausend. Man sprach von einer „Festung Bonn“, mit der man diesen legalen Verfassungscoup abgesichert hatte. Nach einigen Stunden Verzögerung wurde das Asylrecht ins Ausland abgeschoben. Die Lichterketten-Organisationen von Gewerkschaften über Kirchen bis hin zu Unternehmen blieben zu Hause. Sie waren offensichtlich zufrieden. Sie wollten keine bösen Bilder auf der Straße, keine brennenden Häuser in ihrer Nachbarschaft. Sie wollten das „Problem“ ohne großes Aufsehen und weitab ihres Lebens gelöst sehen.
1993 – 2023
30 Jahre später haben sich die Motive auf Seiten der Regierung und auf der Seite derer, die mit dieser Regierung demonstrieren, nicht geändert. Der „Kampf gegen rechts“ soll eine Mitte suggerieren, die – mit Blick auf die letzten 30 Jahre – kaum rechter sein kann.
Kann es sein, dass es gar nicht um den „Kampf gegen rechts“, gegen Rassismus und Faschismus geht, sondern um den Schutz all dessen, womit man sich arrangiert hat? Kann es sein, dass sehr viel rechts ist und sein kann, wenn man sich daran gewöhnt hat, wenn man sich darauf verlassen kann?
Quellen und Hinweise
– Geheimes Treffen im Bundeskanzleramt in Berlin aufgeflogen, Wolf Wetzel,2024: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/geheimes-treffen-im-bundeskanzleramt-in-berlin-aufgeflogen/
– Die Abschaffung des Asylrechts 1993 – eine Bilanz, Wolf Wetzel, 2008: https://wolfwetzel.de/index.php/2008/07/10/die-brandstifter-sind-umgezogen-tag-x-15/
– Fahrplan Richtung Pogrom – zum Beispiel Mannheim-Schönau 1992, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2007/08/01/fahrplan-richtung-pogrom-zum-beispiel-mannheim-schonau-1992/
– Lichterketten und andere Irrlichter, Texte gegen finstere Zeiten, autonome L.U.P.U.S.-Gruppe, Edition ID-Archiv, Berlin 1994