Gesellschaft, die ihr Anderes nicht kennt

von Ortwin Rosner

Das Wort als solches hört man zwar gelegentlich immer noch: „Dialektik“ oder „dialektisch“. Es wird dann und wann ganz gerne im Munde geführt, nicht selten allerdings auf eine Weise, dass man sich nicht sicher ist, ob die Beteiligten wirklich wissen, was es eigentlich genau bedeuten soll, oder ob sie es nicht bloß deswegen verwenden, weil es ein wenig imposant und gescheit klingt. Und erst recht zweifelt man, ob sie eine Ahnung davon haben, was für ein tiefer Anspruch sich mit diesem Ausdruck verbindet und was für eine ungeheuerliche, in letzter Konsequenz kaum zu bewältigende Herausforderung für unseren Alltagsverstand oder für unser Denken überhaupt sich darin verbirgt. Jedenfalls, wenn man den Begriff im engeren Sinn des Wortes meint, so, wie er sich seit Hegel im philosophischen Diskurs etabliert hat.

Seither hat die Dialektik viele Wandlungen erlebt und verschiedenste Schicksale durchlaufen, immer wieder wurde versucht, sie neu zu fassen, sie wurde uminterpretiert (Kierkegaard, Marx, Frankfurter Schule), sie wurde missverstanden, gehasst und über Bord geworfen (Popper und die logischen Empiristen), und in den vergangenen Jahrzehnten wurde sie insbesondere unter dem Einfluss der Franzosen als erledigt betrachtet. Die Spätphänomenologie (Levinas) und die Poststrukturalisten glaubten, mit ihr aufgeräumt zu haben und sie als unnötigen Ballast hinter sich lassen zu können. Das teils anarchische Werk von Autoren wie Foucault, Deleuze und Derrida lässt sich geradezu dahingehend lesen, dass sie versuchten, ganz andere Spielwiesen zu eröffnen.

Erstarrtes Denken, erstarrte Sprache

Nichts davon sollte man in Bausch und Bogen verteufeln – indes: Das Ergebnis dieser, teilweise mit großem Optimismus losgetretenen, jüngeren Entwicklungen ist ernüchternd. Lässt sich doch der tiefgehende geistige, sprachliche und kulturelle Verfall, der sich heutzutage an allen Ecken und Enden der Gesellschaft abzeichnet, das Verschwinden einer bislang wenigstens dem äußeren Anschein nach halbwegs vernünftig und fair ablaufenden Diskussionskultur, die Schließung und Versteinerung der öffentlichen Debattenräume bis hin zur Rhetorik der Kriegstreiberei, lässt sich doch das alles eben geradezu als Ausdruck eines drastischen Verlustes der Fähigkeit zu dialektischem Denken begreifen. Ja, es macht sogar den Eindruck, dass sämtliche kritische Zeitdiagnosen sich unter diesem Gesichtspunkt subsumieren und zusammenfassen lassen könnten, dass sie möglicherweise hier ihren gemeinsamen Nenner finden.

Vielleicht also waren in der einen oder anderen Art dialektische Auffassungsweisen, ohne dass wir es bemerkt haben, nicht bloß irgendwelche abstrusen spekulativen, gegen die Logik verstoßenden Denkformen, als die beispielsweise Popper sie abtut,1 sondern doch irgendwie auch Eckpfeiler grundlegender zivilisatorischer Standards, die derzeit am Zusammenbrechen sind. Denn ist es nicht gerade ein Zeichen unserer Zeit, dass im Hinblick auf den öffentlichen Diskurs das, was man gemeinhin kritische Reflexion oder kritische Selbstreflexion nennt, in einer tiefen Krise steckt, und zwar in der Form, dass – und das trifft doch wohl den Kern der Dialektik – insbesondere alle Fähigkeit verloren gegangen zu sein scheint, Gegensätze in eine sinnvolle, vielleicht sogar versöhnliche Beziehung zueinander zu bringen, und stattdessen nur mehr monolithische Begrifflichkeiten vorherrschen, welche die Welt auf eine merkwürdig archaisch anmutende Weise scharf in Schwarz oder Weiß tauchen, in Freund oder Feind, in Ja oder Nein, ohne dass mehr Vermittlungen gedacht werden können, ja, ohne dass dies überhaupt noch erlaubt zu sein scheint? Ist dies nicht das Wesen etwa der Cancel Culture, nur um eines von vielen zeitgenössischen Phänomenen herauszugreifen, die hier als Beispiel dienen könnten?

Und auch als geschichtliche Kategorie hat das Denken in Vermittlungen und dialektischen Zusammenhängen ausgedient, in einer Welt, in der der herrschende Diskurs überall nur mehr ihn bedrohende Nazis und „Extremisten“ sieht, aber gleichzeitig so getan wird, als ob diese als das schlechthin Böse einfach vom Himmel gefallen wären. Völlig beziehungslos, wie abgespalten davon, stehen sie einer durch und durch guten und anständigen Mitte gegenüber, an der man nicht zweifeln darf. Oder man redet von Putin als „Monster“ (so hat ihn jemand tatsächlich gerade in einem E-Mail an mich bezeichnet), das zwar nicht geradezu aus dem Nichts gekommen sein soll, aber aus der schon von Reagan als „Reich des Bösen“ bezeichneten Sowjetunion – ganz so, als wäre die UdSSR nicht längst untergegangen und als hätte sich nicht dazwischen ungeheuer viel Geschichte ereignet, die viel eher als ursächlich für die derzeitigen geopolitischen Konflikte angesehen werden müsste. Wie im Bann eines Freud’schen Wiederholungszwangs werden wir fortwährend dazu angehalten, uns entweder im Jahr 1933 oder im längst zu Ende gegangenen Kalten Krieg zu wähnen. Wenn das ein Verständnis von Geschichte ist, dann ein völlig stillstehendes (man möchte inzwischen beinahe dem mittlerweile verstorbenen Rudolf Burger recht geben, der vor der Fixierung auf den Nationalsozialismus warnte), und wenn das Dialektik ist, dann eine durch und durch kastrierte – ein erstarrtes Denken in Schachteln und Schubladen, gerade das, was die avancierte Dialektik nie sein wollte.

Das Stichwort „Monster“ könnte einen Hinweis darauf enthalten, womit man es hier zu tun hat: mit einem Rückfall in mythische Denkformen. Das ist sogar dort noch – oder, um auch hier dialektisch zu denken: gerade dort – der Fall, wo man sich auf die „Wissenschaft“ und die Werte der „Aufklärung“ beruft, denn wer das heutzutage tut, der tut das in der Regel, um alsbald rasch die bösartig gesinnten Dämonenvölker der „Fortschritts-“ und „Wissenschaftsfeinde“, „Wissenschaftsskeptiker“ oder „Wissenschaftsleugner“ als Bedrohung an die Wand zu malen. Nichts geht mehr ohne eine besinnungslos gewordene Mechanik der Polarisierung, scheint es.

Ist von hier aus nicht jene gigantische Transformation der Sprache verstehbar, die Franz Schandl meint, wenn er schreibt: „Das angewandte Sprachgut reduziert sich zusehends auf wenige Floskeln und Phrasen. […] Die Sprache […] schrumpft ein auf Schlagworte“2? Und wäre Dialektik nicht in jener Formulierung enthalten, auf die er zurückgreift, wenn er demgegenüber mit den Worten von Günther Anders einen Umgang mit Sprache befürwortet, der es zustande brächte, „dass wir in ihr über sie hinaus gehen können“3? „Sprache findet ihre Autonomie nicht länger durch Selbstbehauptung, sondern durch Entäußerung an die Sache, der sie innig sich anschmiegt“4, heißt es übrigens in Entsprechung dazu bei Adorno. Stellen aber gerade diese beiden im Zusammenhang aktueller Debatten regelrecht antiquiert anmutenden Zitate, die ja auch tatsächlich der Mitte des vorigen Jahrhunderts entstammen, nicht den schärfsten Kontrast zum allgegenwärtig gewordenen Stumpfsinn der Gegenwart dar?

Dialektik als Herausforderung für das Denken

Der vorliegende Aufsatz ist der Versuch einer groben Skizze der epochalen Veränderung, die der geistige Raum seit den 60er- und 70er-Jahren erfahren hat, und insbesondere der Verwandlung von wahrhaft linken Impulsen in jenen scheinlinken Mainstream, mit welchem wir es heute zu tun haben. Die Frage, die ich mir dabei stelle, ist, was den Unterschied ausmacht, im Wissen, dass die eingangs geäußerte These des „Verfalls“ prekär ist, schon deswegen, weil mit einem solchen Wort immer die Gefahr einer Verklärung der Vergangenheit gegeben ist. Der Schlüsselbegriff „Dialektik“ scheint mir allerdings geeignet zu sein, um Untiefen sichtbar zu machen, mit denen man es früher zwar auch zu tun hatte, weil es sie immer gegeben hat, seit es Menschen gibt, die man seinerzeit als progressiver Geist aber doch immerhin nach Möglichkeit zu thematisieren und zu überwinden trachtete.

Dafür müssen wir freilich zuerst einmal ins Auge fassen, was „Dialektik“ ist – und sie besteht eben keineswegs, wie Popper voller Empörung glaubt, in der Auffassung, dass Widersprüche gleichgültig wären, sie ist keineswegs eine Zurückweisung des logischen Denkens, sondern vielmehr die größte Herausforderung dafür, und nein, wirkliche Dialektik ist gleichfalls nicht bloß dieses bilderbuchartige Konstrukt, als das wir sie im Schulunterricht kennengelernt haben, sie besteht eben nicht einfach aus dem simpel nachbetbaren Schema These-Antithese-Synthese. Dialektik „besteht“, und darin liegt der eigentliche Skandal für unser nach Verdinglichungen gierendes Denken, im Grunde aus überhaupt nichts.5 Sie will gar nichts „Bestehendes“ feststellen, sondern ist der waghalsige Versuch, die Lebendigkeit der Welt einzufangen, indem sie etwas veranstaltet, was immer über sich hinausgeht und in sein ihm Anderes überfließt.6

Das aber berührt die elementare Frage nach der Identität und enthält darum eine Dimension, deren Problematik beispielsweise Popper nie verstehen konnte, für den eben das ist, was ist, und das nicht ist, was nicht ist, und beides zugleich, so meinte er, könne nicht der Fall sein. Von daher auch seine Entrüstung über die für die Dialektik grundlegende Idee, die These selbst könnte ihre Antithese, also ihr Gegenteil, bereits enthalten oder hervorbringen.7

Dialektik und Humanität

Wir sehen aber an diesem Punkt vielleicht bereits, was das alles mit dem aktuellen Zustand des öffentlichen Diskurses zu tun hat: Er verfährt insofern durch und durch undialektisch, als er sich mit der – ich gebrauche bewusst diesen an das Religiöse anspielenden Ausdruck – dogmatischen Verkündigung starrer Identitäten begnügt. Hier sind wir auch schon mitten im Politischen. Um ein Beispiel zu nennen: Es ist einfach zu denken, da ist der Westen, da sind die Guten, da sind die Werte der Freiheit und der Demokratie, und dort ist Putin, die Bedrohung unserer Werte, der Feind von Freiheit und Demokratie, der Autokrat. Viel schwieriger ist es aber, die beiden als eine Einheit zu denken und sich einzugestehen, dass der Westen die Figur Putin, so, wie wir sie kennen, durch seine Politik nach 1990 selbst überhaupt erst hervorgebracht hat, und dass er darum, wenn er auf Putin schaut – im Grunde auf sein eigenes Spiegelbild schaut. Das eine erweist sich als die Identität des anderen, gerade in seiner Gegensätzlichkeit.

Wir wissen freilich, was für Folgen es haben kann, wenn wir so einen heutzutage geradezu blasphemischen Gedankengang äußern: Ebenso wie die Diskursmaschinerie mittlerweile einem jeden schematisch seine Identität zuordnet, wird die Verknüpfung solcher Vorgeschichten mit dem auf die Tagesordnung Gesetzten mechanisch als „Relativierung“ von Verbrechen und damit selbst als Verbrechen gewertet. Letztlich ist damit Dialektik ein Verbrechen geworden, denn ihren Kern, so man einen benennen kann, macht nun einmal das fortwährende Relativieren aus, wenn man darunter den Versuch versteht, nichts für sich isoliert zu betrachten, sondern alles in Verhältnissen und Relationen und darum auch in seiner Entwicklung, in seinem Gewordensein zu fassen.

Um aber zu sehen, dass selbst bis in die Adern der Populärkultur die 60er und 70er geistig viel weiter und vor allem für dialektische Umschwünge offener als die Gegenwart waren, brauche ich mir etwa nur die eine oder andere Folge der alten Originalserie „Raumschiff Enterprise“ anzuschauen. In einer Episode, die den vielleicht nicht wirklich gelungenen deutschen Titel „Ganz neue Dimensionen“ (im Original: „Arena“) trägt, muss Captain Kirk auf einem fremden, wüstenartigen Planeten mit einem außerirdischen Echsenwesen einen Kampf auf Leben und Tod austragen. Als Kommandeur eines feindlichen Raumschiffs ist das Alien für ein blutiges Massaker auf einem Außenposten der Föderation verantwortlich, für einen brutalen Massenmord also, eine ganze Kolonie wurde ausgelöscht, und natürlich ist Kirk voll des Ingrimms und von der Idee beseelt, nicht nur das Monster umzubringen, sondern überdies das feindliche Raumschiff samt Besatzung zu zerstören, um ein Exempel zu statuieren.

Doch dann gibt es jenen Augenblick, in dem Kirk plötzlich versteht, dass sein Gegner nicht der absolute Bösewicht ist, für den er ihn gehalten hat, sondern dass das Monster so gehandelt hat, wie es gehandelt hat, weil es sich seinerseits durch das Heranrücken der Föderation an sein Territorium bedroht fühlte. Und Kirk verschont es, obwohl er weiß, dass das seinen eigenen Tod und die Vernichtung der Enterprise bedeuten kann, in Form eines Entschlusses also, der durchaus an die waghalsige Entscheidung der Titelheldin am Ende von Goethes Drama „Iphigenie auf Tauris“ anklingt, welche, so Adorno, „den selbsterhaltenden Geist ihrer Zivilisationsgenossen preis[gibt]“ – „[…] human wird sie erst in dem Augenblick, in dem Humanität nicht länger auf sich und ihrem höheren Recht beharrt“,8 folgert er in einer für ihn typischen dialektischen Denkfigur.

Was mit anderen Worten bedeutet: Erst dadurch, dass dem Mythos sein Recht zurückgegeben wird, kann sich die Aufklärung verwirklichen: „Hoffnung ist das Entronnensein des Humanen aus dem Bann, die Sänftigung der Natur, nicht deren sture Beherrschung, die Schicksal perpetuiert.“9

Der Andere als das absolut Böse

Der Schritt, den Kirk hier vollzieht, ist, dass der Andere für ihn nicht mehr der völlig Andere ist, nicht mehr das absolut Fremde, sondern dass er sich selbst im Anderen wiedererkennt, im Nicht-Ich sein Ich, könnte man an dieser Stelle mit einer dezidiert der Philosophie des deutschen Idealismus entlehnten Wendung sagen. Auf einmal versteht er, dass der Andere nicht einfach nur der Andere ist, sondern auch mit ihm selbst und mit seinem eigenen Handeln zu tun hat, und dass er für den Anderen ja auch ein Anderer ist, das Andere des Anderen, ein Monster, eine Bedrohung für jenen ist wie er für ihn. Er selbst ist der Andere, überspitzt gesagt. Eine solche völlige Gleichsetzung würde allerdings die Dialektik wieder zum Erliegen bringen. Entscheidend ist denn auch – und das entspricht Adornos Denkfigur –, dass Kirk sein Gegenüber gleichzeitig übersteigt und dass er paradoxerweise eben gerade dadurch, dass er sich nicht über den Anderen stellt, erst über diesen hinausgeht.

Und infolgedessen entscheidet er sich für den Weg der Diplomatie statt für Rache und Abschreckung. Ich nehme an, es ist, auch ohne dass ich eigens darauf hinweise, anhand meiner Nacherzählung ersichtlich, wie vieles von der Handlung dieser Geschichte auf geradezu erstaunliche Weise seine Entsprechung und seine Negation in den Ereignissen und Diskussionen rund um den Ukrainekrieg hat. Kirk ist ein „Putinversteher“, wenn man so will, also etwas, was heutzutage eigentlich nicht mehr erlaubt ist. Ich hätte jedoch diese eine „Raumschiff Enterprise“-Folge nicht hergenommen, wenn ich das darin enthaltene geistige Material nicht als charakteristisch für das Spektrum der in den 60er- und 70er-Jahren zur Möglichkeit gereiften Denkformen erachten würde.

Man möge aber auch den Unterschied ins Auge fassen zwischen dieser 60er-Jahre-Version des „Aliens“ und dem absoluten Monster, wie es dann im Jahr 1979 im gleichnamigen Film von Ridley Scott etabliert wurde. Ungefähr zeitgleich wurde ein amerikanisches Action-Kino Standard, das von jenen humanen Botschaften, wie sie in den 60er-Jahren aufblitzen konnten, nichts mehr übrig ließ, viel lieber folgte man der Spur, die James Bond vorgegeben hatte: Ab nun ging es nur mehr darum, dass ein Arnold Schwarzenegger, ein Sylvester Stallone oder ein Bruce Willis als Art Übermensch möglichst unterhaltsam möglichst viele Gegenspieler abschlachtete. Der Andere fungierte nur mehr als das Böse schlechthin, das man dafür brauchte.

Reduktion, Zähmung und Auslöschung des Anderen

Diese Entwicklung enthält freilich auch gegenläufige Aspekte, die sich nicht ohne Anstrengung in das hier gegebene Bild einordnen lassen. Gab es nicht zeitgleich den Aufstieg der Postmoderne, die ganz im Gegenteil den „Anderen“ geradezu feierte? Und haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht Kommunikationsratgeber, psychologische Bücher und Zeitschriftenartikel den Markt überschwemmt, welche die „Empathie“ und das Eingehen auf das Gegenüber geradezu zum zentralen Lebensinhalt erhoben haben?

Ein Verständnis dieser paradoxen Entwicklung ergibt sich vielleicht, wenn einem bewusst wird, dass diese beiden Diskursblöcke zwar den „Anderen“ zum Thema haben, die Idee des „Anderen“ dabei aber zumeist äußerst selektiv interpretiert wird. In jenem angloamerikanisch geprägten Strang der Postmoderne, der breite gesellschaftliche Wirkung entfaltet und Sprach- und Benimmregeln erlassen hat, die man unter dem Titel „politische Korrektheit“ kennt, geht es am Ende nur mehr um die andere Rasse, das andere Geschlecht und vielleicht auch die andere Religion. Das „Andere“ in dieser reduzierten Form erfährt, als simples Opfer von Diskriminierung gedacht, eine metaphysische Überhöhung, wie ihn früher mal das „Ich“ in der Philosophie innegehabt hat, es hat also in dieser Hinsicht bloß eine Vertauschung der Pole stattgefunden. Man kniet nun vor dem „Anderen“ statt wie seinerzeit vor dem „Ich“. Das Schwarzweiß-Denken bleibt erhalten, auch wenn es nun gegen den „alten, weißen Mann“ geht. Und man hält die gesellschaftlichen Gegensätze allen Ernstes für überwunden, wenn bloß eine Frau der neue James Bond werden würde oder ein Schwarzer der nächste Superman. Unverständlich ist den solcherart postmodern Sozialisierten, dass nicht bloß die Frau, der Schwarzafrikaner oder der Muslim der Andere ist – sondern genauso der FPÖ-Wähler von nebenan.

Die Kommunikations- und Psychoratgeber wiederum bieten sich in einem gesellschaftlichen Rahmen dar, der als solcher von ihnen nie in Frage gestellt wird. Sie fungieren lediglich als zusätzliche Elemente im Werkzeugkasten einer instrumentellen Vernunft, einer bloßen Zweck-Mittel-Rationalität, für welche die Ziele (es geht auf die eine oder andere Weise immer um den „Erfolg“ und Selbstbehauptung im Alltag) grundlegend immer schon feststehen. Von jener raffinierten Dialektik, die einem einst den Boden unter den Füßen wegzog, ist hier nichts zu spüren, sie ist zusammengeschrumpft zu einer schematisierten Betrachtung zwischenmenschlicher Konflikte, gegen die man ein Rezept verschreiben möchte. Aus dem, was bei Adorno als fast unmögliche Utopie einer dialektischen Versöhnung aufblitzte, ist das harmonische Verhältnis geworden, das man sich mit dem Chef, den Arbeitskollegen, der Kundschaft oder dem Partner wünscht. Man verspricht das Glück, indem man die Zähmung des Anderen in Aussicht stellt. Er soll seine Abgründe verloren haben, in die man früher einmal geblickt hat, wenn man sich mit ihm beschäftigt hat, und wie sie etwa in den Texten Kafkas sich erst richtig geöffnet haben.

Die einem in diesem Zusammenhang immer wieder unterkommende Technik oder Ideologie des „positiven Denkens“ schließlich ist geradezu der Versuch einer vollständigen Auslöschung des Anderen; ein Versuch freilich, der nie gelingen kann, weil er von seiner eigenen, ihm unbewussten Dialektik immer wieder eingeholt wird. Das Andere als „Negatives“ soll hier nicht einmal mehr gedacht werden, weil allein schon das Denken daran einem schaden könnte. Man soll sich nur positiven, das bedeutet, dem Ich angenehmen Vorstellungen hingeben. Tatsächlich aber entkommt man auf diese Weise dem Negativen nicht, denn das Positive, gerade auf diese strenge Weise gedacht, geht unweigerlich in seinen Gegensatz, das Negative, über, eben weil es die Negation des Negativen ist.10 Das aber ist ein Effekt, der für alle gilt, die glauben, das Andere ausschließen und so erledigen zu können.

Die Wiederkehr des Anderen

Das Andere, das man ausschließt und von dem man glaubt, dass es nichts mit einem zu tun habe, das kehrt wieder und wieder und immer wieder, das wiederholt sich erst recht. Genau dieses verleugnete Negative, von dem der Diskurs nicht anerkennen will, dass es sein Eigenes ist, taucht stets auf das Neue auf, wie ein Gespenst, das fortwährend wiedererstehen muss. Aus den innersten Eingeweiden der gesellschaftlichen Ordnung selbst taucht es auf, sie muss es ja auch selbst ständig neu reproduzieren, weil sie ohne es nicht sein kann, da sie erst aus dem Gegensatz ihre Identität und Daseinsberechtigung bezieht. Insofern befinden wir uns in der Tat wiederum in einem höchst dialektischen Zeitalter. Nichts mehr scheint Kraft aus sich selbst schöpfen zu können: Der Westen braucht Putin, um auf ihn alles Böse zu projizieren und sich selbst als das Gute darstellen zu können, die #MeToo-Feministin braucht den übergriffigen weißen Mann als Monster, denn sonst könnte sie ja nicht gegen das angeblich in ihm personifizierte Patriarchat ankämpfen und wäre gar nicht das, was sie ist, die Hüter der politischen Korrektheit müssen sich immer neue Schreibregeln und Sprechverbote einfallen lassen, denn sonst könnten sie ja nicht mehr Leute anklagen, die dagegen verstoßen, und sowieso muss man fortwährend überall lauter vermeintliche oder echte Nazis sehen, denn sonst könnte man sich ja nicht als Kämpfer gegen rechts inszenieren. Der heutige Diskurs braucht sein negatives Anderes wie die katholische Kirche den Sünder, wie James Bond seine Gegenspieler, die immer wieder neu aus dem Boden schießen, so viele er davon auch schon erledigt hat.

Dass man dadurch auch ständig Mimesis ans Andere betreibt, das heißt, dass man sich immer mehr dem angleicht, was man vorgeblich bekämpft, ist zwar eine Note, die den Protagonisten selbst unbewusst zu sein scheint, es ist aber offensichtlich, dass sie sich mittlerweile ununterbrochen jener Methoden bedienen, die sie anderen vorwerfen: Der Antifaschist, der Besuchern des Akademikerballs „das Tanzbein brechen“ will,11 redet schon selbst wie ein Faschist, der linksliberale Alphajournalist, der den Hate Speech inbrünstig verurteilt, betreibt ihn gleichzeitig in seinen eigenen Kolumnen, wer eine nichtbeleidigende Sprache gegenüber Minderheiten einfordert, wirft selbst mit Beschimpfungen und Untergriffen nur so um sich, der grün-linksliberale Jungspund, der sich für weiß Gott wie progressiv hält, belehrt einen mit autoritären Sprüchen, von denen er nicht weiß, dass sie denen zum Verwechseln ähnlich sind, mit denen die Väter und Großväter von Angehörigen meiner Generation uns die Aufmüpfigkeit abgewöhnen wollten, und der politische Funktionär eines NATO-Landes, der sich in einem Augenblick über Putins Propaganda empört, hat im nächsten kein Problem mit Propaganda, wenn es die der NATO ist.

Aber auch auf einer anderen Ebene schlägt die Dialektik zurück: Denn im „positiven Denken“ steckt doch vielleicht auch das berühmte Körnchen Wahrheit; was heißt, dass durch und durch negative Vorstellungen, die man andauernd verbreitet, dann eben auch irgendwann Wirklichkeit werden. Das nennt man „self-fulfilling prophecy“ und bedeutet: Wenn man nur lange genug überall „Rechtsextremisten“ sieht und dauernd von ihnen spricht, dann macht man sie damit eben irgendwann real. Das Fehlen jeglicher Dialektik führt als Mechanismus der Projektion zu paranoiden Psychosen, zu der zum Massenwahn geratenen fixen Idee, wir wären wieder im Jahr 1933 und von lauter Nazis umstellt und könnten selbst nun so etwas wie Sophie Scholl werden, wenn wir die AfD verbieten und ein Einreiseverbot gegen Martin Sellner erlassen. Dieser, ein Anfang des Jahres der breiten Öffentlichkeit Deutschlands noch unbekannter Aktivist, wurde durch die breite Aufmerksamkeit, die man auf ihn richtete, aber erst so richtig in die Mitte hereingeholt, und man sieht ihm die Freude darüber an, wie seine angeblichen Gegner ihn populär gemacht haben.

1https://www.vordenker.de/ggphilosophy/popper_was-ist-dialektik.pdf

2Schandl, Im Käfig der Sprache, In: Streifzüge Nr. 88, S. 7

3G. A., Philosophische Stenogramme, München 1965, S. 126; zit. nach ebd., S. 9

4Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, In: Th. W. A.: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1998 (= stw 355), S. 504.

5„Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend, und zwar in dem Sinne, daß dieser Satz gegen die übrigen vielmehr die Wahrheit und das Wesen der Dinge ausdrücke. – Der Widerspruch, der an der Entgegensetzung hervortritt, ist nur das entwickelte Nichts, das in der Identität enthalten ist, und in dem Ausdrucke vorkam, daß der Satz der Identität Nichts sage.“ (G. W. F. Hegel, Hauptwerke in sechs Bänden. Bd. 3 Wissenschaft der Logik, Bd. 1: Die objektive Logik, Hamburg 1999, S. #286/77)

6„[…] er [der Widerspruch] aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Thätigkeit.“ (ebd., S. #286/77-78)

7S. Anm. 1

8Z. K. v. G. I, S. 500

9Ebd., S. 513

10„So ist es [das Positive] der Widerspruch, daß es als das Setzen der Identität mit sich durch Ausschliessen des Negativen sich selbst zum Negativen von einem macht, also zu dem Andern, das es von sich ausschließt.“ (Hegel, a.a.O., S. #280/66)

11https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/18155650/burschenschaften-das-tanzbein-brechen-polizei-prueft-oeh-posting