Heinrich Heine, Jude und Deutscher

von Hermann Engster

Von Heine wird gesagt, dass er ein in sich zerrissener Mensch gewesen sei. Heine war nicht zerrissen, sondern er wurde es, weil ihm das Verlangen, Jude und Deutscher zugleich zu sein, verwehrt wurde. Es war Deutschland, das ihn zerriss.

Düsseldorf, wo Heine 1797 geboren wird, ist eine beschauliche Stadt, in deren Kern 13.000 Menschen leben, Köln ist dreimal so groß, Hamburg zehnmal. Dort wächst er mit drei weiteren Geschwistern in einem bürgerlichen Milieu auf. Die Eltern erziehen ihre Kinder im jüdischen Glauben, orientiert an der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gleichwohl geprägt von tiefer Religiosität.

In Düsseldorf herrscht dank der französischen Besatzung ein liberales Klima, doch wird es mit dem Sieg über Napoleon erkalten. Das preußische Judenedikt von 1812 auf der Grundlage der Hardenberg’schen Reformen hat den Juden einige bürgerliche Freiheiten gebracht, doch haben die Behörden sie nur unwillig umgesetzt, und in der Bevölkerung ändert sich am Judenhass nichts.

Die Metternich’sche Restauration errichtet aufs Neue die alte Fürstenherrschaft. Auf der Grundlage der Karlsbader Beschlüsse wird der unter preußischer Vormacht stehende Deutsche Bund im Verein mit Österreich zu einem Polizeistaat, in dem Überwachung und Verfolgung herrschen. Von den sog. Demagogenverfolgungen sind viele Tausende betroffen, die sich für demokratische Rechte einsetzen: Künstler, Intellektuelle, Handwerker, Arbeiter; sie werden in den Kerker geworfen oder flüchten ins Exil, in das freiere Frankreich und in die Schweiz, unter ihnen auch Jüdinnen und Juden, die von der demokratischen Bewegung, die in Teilen sogar eine sozialistische ist, auch für sich Freiheitsrechte erhoffen. Das mobilisiert den Antisemitismus.

Das Ungeheuer regt sich

1819 erscheint das Pamphlet Der Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde aus alter und neuer Zeit von Hartwig von Hundt-Radowsky. Dieser bezeichnet Juden als „Untermenschen“ und „Ungeziefer“. Er empfiehlt, alle Juden als Sklaven an die Engländer zur Arbeit in deren Kolonien zu verkaufen, sie in Bergwerken zu vernutzen, sie zu kastrieren und die Jüdinnen als Prostituierte in Bordellen zu versklaven. Die Tötung eines Juden solle nicht als Mord, sondern als Polizeivergehen, also noch unterhalb eines Verbrechens eingestuft werden.

Im selben Jahr, als der Judenspiegel erscheint, gründen jüdische Hegelianer den „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“. Schlüsselbegriff ist der Hegel’sche Begriff der Vermittlung, dergestalt dass das Judentum sich vermitteln solle mit dem universalen Geist der Freiheit und Humanität. Sie glauben an die Macht des Geistes – und scheitern wie alle, die diesen Traum träumen.

Im August 1822 nimmt der preußische König die Hardenberg’schen Reformen zurück, die den Juden den Zugang zu öffentlichen Ämtern erlaubten. Im selben Monat tritt Heine dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ bei. Für seine berufliche Karriere ist das ein Hindernis. Die Heine-Biographin Kerstin Decker stellt fest: „Ein bloßer Aufsteiger verhielte sich anders, er würde alles verleugnen, was an seine Herkunft erinnert. Heine wird das nie tun. Im Gegenteil.“

1819 brechen die Hepp-Hepp-Krawalle aus, gewalttätige Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden. „Hepp-hepp!“ sind die Rufe der Viehtreiber. Der Mob macht daraus „Hepp-hepp! Jud verreck!“. Die Pogrome gehen aus von sog. braven Bürgern, von Handwerkern, Händlern, die sich zusammenrotten, jüdische Bürger beschimpfen und misshandeln, ihre Synagogen, Geschäfte und Wohnungen angreifen und verwüsten.

Aufschlussreich ist zu sehen, welches Motiv die Pogrome haben. Sie richten sich hauptsächlich gegen die jüdische Emanzipation, die seit der Französischen Revolution auch deutsche Gebiete erreicht hat. Damit waren Juden zu gleichberechtigten Konkurrenten von Christen geworden, was bei den christlichen Wutbürgern nun Konkurrenzneid entfacht, zudem noch legitimiert vom traditionellen christlichen Judenhass. Die Pogrome zielen auf die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden und drohen mit Massakern. In Heines Heimatstadt Düsseldorf werden im August 1819 an jüdischen Wohnhäusern Plakate angeschlagen, auf denen es heißt:

Schon zu lange hat die Herrschaft der Juden über den Betrieb des Handels gedauert. Mit ruhigen Augen haben die Christen diesem unerlaubten Unwesen zugesehen, die Zeiten haben sich geändert. Sind bis 26ten dieses Monats dem Handel und Moral verderbenden Volke nicht Schranken gesetzt, so soll ein Blutbad entstehen, das anstatt Bartholomäus-Nacht Salomoni-Nacht heißen soll.

Auswege, Schleichwege

Angesichts dieser Umstände hat, wer das Ghetto verlassen und an der deutschen Kultur teilhaben will, kaum eine andere Wahl, als sich taufen zu lassen, so z.B. Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Ludwig Börne, und eben auch Heine.

1826/27 studiert Heine in Göttingen, lässt sich dann 1827 in aller Stille in der Wohnung eines Pfarrers in Heiligenstadt, einem Städtchen nahe Göttingen, taufen. Die Taufe ist für ihn, wie er sagt, das „Entrébillet zur europäischen Kultur“. Er lässt sich protestantisch taufen, denn, so sagt er später: „Der Protestantismus war für mich nicht nur eine liberale Religion, sondern auch der Ausgangspunkt der deutschen Revolution“, und für ihn der Ursprung der Rechte der Vernunft und der Geistesfreiheit.

Doch bringt ihm die Taufe wenig Nutzen, denn, so stellt er resigniert fest:

Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab; ich seh noch gar nicht ein, dass es mir seitdem besser gegangen sei, im Gegenteil, ich habe seitdem nichts als Unglück.

Nach seiner Promotion zum Dr. jur. in Göttingen will ihm trotz der Konversion niemand eine Stelle geben. Ein Jahr nach der Taufe drängt es ihn, Deutschland zu verlassen. 1826 schreibt er in einem Brief:

Es ist … ganz bestimmt, dass es mich sehnlichst drängt, dem deutschen Vaterland Valet zu sagen. Minder die Lust des Wanderns als die Qual persönlicher Verhältnisse (z.B. der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen.

Heimat Sprache

Er bleibt aber zunächst im Land, weil er mit seinem Buch der Lieder großen Erfolg hat. Trotzdem ist es, so stellt Marcel Reich-Ranicki fest, ein Triumph „auf gefährlich schwankendem Boden … Man wollte den Juden, ob getauft oder nicht, als deutschen Dichter nicht gelten lassen“.

Zusätzlich zermürben Heine die Kämpfe mit der Zensur, bis dann 1833 in Preußen und 1835 im gesamten Deutschen Bund seine Schriften verboten werden. Aber mehr noch als diese Drangsalierungen ist es die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft, die ihn in die Emigration treibt. In Frankreich, wo es durchaus auch Antisemitismus gibt, sei, so Reich-Ranicki, Heine als Ausländer betrachtet worden, in Deutschland hingegen galt er immer als Jude und damit als Nicht-Dazugehöriger und Ausgestoßener.

Dennoch: Ein Zurück in den abgespaltenen Geborgenheitsraum einer jüdischen Gemeinschaft kommt für ihn nicht infrage. Er will als Deutscher anerkannt sein, wird aber von seinem „Vaterland“ zurückgestoßen. Als Reaktion auf die ständig zu ertragenden Demütigungen entwickelt er seinerseits einen Hass gegen das Deutsche und die deutsche Sprache selbst. Er schreibt er in einem Brief an einen Freund:

Alles was deutsch ist, ist mir zuwider … Alles Deutsche wirkt auf mich wie ein Brechpulver. Die deutsche Sprache zerreißt mir die Ohren. Die eigenen Gedichte ekeln mich zuweilen an, wenn ich sehe, dass sie auf Deutsch geschrieben sind. … “ (Erbittert wechselt er ins Französische, kehrt dann aber wieder ins Deutsche zurück.) „O Christian, wüsstest du, wie meine Seele nach Frieden lechzt, und wie sie doch täglich mehr und mehr zerrissen wird. Ich kann fast keine Nacht mehr schlafen.

Doch kommt er von Deutschland nicht los. Da ihn die Gesellschaft zurückweist, sucht er seine Heimat in der von ihm geliebten deutschen Sprache; denn das deutsche Wort sei, so schreibt er in einem Brief, „ein Vaterland selbst demjenigen, dem Torheit und Arglist ein Vaterland verweigern“. 1824 schreibt er:

Ich weiß nur zu gut, dass mir das Deutsche das ist, was dem Fisch das Wasser ist, dass ich aus diesem Lebenselement nicht heraus kann … Ich liebe sogar das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls.

Wie innig er der deutschen Sprache verbunden ist, zeigt der Beginn seines Versepos Deutschland, ein Wintermärchen. Als er nach zwölfjährigem Exil 1843 wieder nach Deutschland zu reisen wagt, übermannt ihn beim Überschreiten der Grenze die Wehmut, die er in bekannter Manier durch Ironie vor Abrutschen in Sentimentalität bewahrt:

Im traurigen Monat November wars,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist
ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Das altertümlich gewordene Präteritum „begunnen“ gebraucht er ironisch-distanzierend, und im Vers, dass sein „Herz recht angenehm verblute“, mischt er den Schmerz mit Selbstironie.

Von der blauen Blume zur roten Fahne

Seine Tragik als romantischer Dichter ist, dass er ein Zu-spät-Gekommener ist. Denn als er 1797 geboren wird, bricht die romantische Dichtung gleichsam wie ein Vulkan aus und erreicht ihren ersten Höhepunkt mit Dichtern wie Brentano, Tieck, Novalis, Wackenroder.

Heine spielt zunächst virtuos auf der romantischen Klaviatur und schreibt Gedichte von unwiderstehlicher Schönheit (z.B. Der Tod, das ist die kühle Nacht). Doch wendet er sich bald ab von der Romantik und treibt sein ironisch-spöttisches Spiel mit ihr und seinen Dichterkollegen, die „Blümlein, Mondglanz, Sternlein und Äuglein“ besingen, und schließt mit den Worten: „Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht’s doch noch lang keine Welt“ (im Gedicht Wahrhaftig). Eichendorff schmäht ihn deswegen einen „Totengräber der Romantik“.

Aus dem romantischen Traumreich der Phantasie wendet Heine sich der Welt zu, wie sie wirklich ist, der gesellschaftlichen und politischen Realität. In Paris, genannt die Revolutionshauptstadt der deutschen Demokraten, weil sich hier Hunderte in Deutschland verfolgter Demokratinnen und Demokraten versammeln, nimmt Heine Verbindung zu ihren führenden Köpfen auf und wandelt sich zum politischen Dichter.

Anstoß dazu gibt der Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844. In der Konkurrenz mit billigerer Ware aus England und durch die Veränderung der Produktionsstruktur – die bis dahin selbständigen Handwerker werden zu Lohnarbeitern – geraten die Weber in eine Armut, die sogar zu Hungerrevolten führt. Der Aufstand wird vom preußischen Militär niedergeschlagen; viele Weber kommen ins Zuchthaus, andere wandern nach Amerika aus.

Zornbebend, nicht mit dem Florett, sondern mit dem Säbel schreibt Heine ein Gedicht, das später als Weberlied berühmt wird. Marx, mit dem Heine eng befreundet ist, sie sind sogar Cousins dritten Grades, veröffentlicht es im Pariser „Vorwärts“; 50.000 Flugblätter mit dem Gedicht werden in den Aufstandsgebieten verteilt. Der preußische Innenminister bezeichnet das Gedicht als „eine in aufrührerischem Ton gehaltene und mit verbrecherischen Äußerungen angefüllte Ansprache an die Armen im Volke“. Er hat Recht, das Gedicht ist staatsfeindlich und blasphemisch. Es wird verboten, einer, der es öffentlich rezitiert, landet im Zuchthaus, Heine ist in Paris und in Sicherheit.

Das ist der radikale politische Heine. Aber zurück nach Deutschland, zum jungen Heine!

Dichter in der Diaspora

Im Buch der Lieder, das ihn in Deutschland berühmt gemacht hat, steht ein rätselhaftes Gedicht, geschrieben um 1822:

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh’.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

Das Gedicht wird traditionell interpretiert als ein Gedicht über eine unerwiderte Liebe. Das ist es wohl, aber es ist viel mehr als eins der üblichen romantischen Liebesgedichte. Sehen wir es uns genauer an!

Es beginnt mit dem Bild eines Fichtenbaums, der „im Norden auf kahler Höh’“ steht und „einsam steht“, in lebensfeindlicher Kälte, umhüllt von Eis und Schnee. Er ist müde, Schlaf überkommt ihn, und er fängt an zu träumen. Im Traum reist er ins ferne Morgenland, er träumt von einer Palme, dem für den Orient charakteristischen Baum, und auch diese Palme steht einsam und trauert schweigend. Und während der nordische Fichtenbaum in der Kälte steht, umhüllt von Eis und Schnee, ist die morgenländische Palme von Feuer und Glut umgeben.

Ein Liebender und eine Geliebte verzehren sich in Sehnsucht zueinander. Welche Rolle spielt aber der Gegensatz von Norden und Osten, von Okzident und Orient? Ist das nur exotische poetische Dekoration? Nein, es ist viel mehr, und das rätselhafte Gedicht beginnt zu sprechen, wenn man es einordnet in die Tradition von jüdischen Liebesgedichten, die an das ferne und unerreichbare Jerusalem gerichtet sind.

Vorbild ist der von Heine verehrte sephardische Dichter Jehuda ben ha Levy. Dieser gilt als der bedeutendste hebräische Philosoph des Mittelalters, der zudem ein vielgestaltiges dichterisches Werk hinterlassen hat; und nicht nur Dichtungen in hebräischer Sprache, sondern auch in Altspanisch, sodass man sagen kann, dass er der erste namentlich bekannte Dichter in spanischer Sprache war. Hier ein Auszug aus seinen hebräischen Zionsliedern:

Ach, wie sitzt so einsam die Stadt, einst reich an Volk!
Wie ist sie zur Witwe geworden, die groß war unter den Völkern!
Die da Fürstin war unter den Städten, ist dienstbar geworden.
Sie weint und weint durch die Nacht, Tränen auf der Wange;
Keiner ist da, der sie tröste (…)

Mein Herz ist im Osten, doch ich bin am westlichsten Ende –
Was kann mir mein Brot da bedeuten, wie könnt’ ich es kosten mit Lust, (…)
Nichts bedeutet es mir, allen Reichtum Spaniens zu verlassen,
Aber alles bedeutet mir ein Blick nur auf den Staub des zerstörten Tempels.

Wenn man Heines Gedicht vom Fichtenbaum in dieser Tradition sieht, so erweist es sich durchaus als Liebesgedicht, aber als ein entschieden religiöses, ein Gedicht von einer Sehnsucht getragen, die sich in dem alten Abschiedsgruß ausdrückt: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Ein Gruß, der traditionell am Schluss des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen wurde und dessen Wunsch nach zweitausend Jahren verwirklicht worden ist.

Heines Lieblingspsalm ist der Psalm 137, wo es heißt:

An den Strömen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten … Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte! Es klebe meine Zunge am Gaumen!

In seinem Versepos Romanzero, geschrieben zwischen 1848 und 1851, gedenkt er im Dritten Buch, genannt Hebräische Melodien, des von ihm bewunderten Jehuda ben ha Levy:

Hebräische Melodien

Bei den Wassern Babels saßen
Wir und weinten, unsre Harfen
Lehnten an den Trauerweiden“ –
Kennst du noch das alte Lied?
(…)

Lechzend klebe mir die Zunge
An dem Gaumen, und es welke
Meine rechte Hand, vergäß’ ich
Jemals dein, Jerusalem – “

Wort und Weise, unaufhörlich
Schwirren sie mir heut im Kopfe,
Und mir ist, als hört’ ich Stimmen,
Psalmodierend, Männerstimmen –

Manchmal kommen auch zum Vorschein
Bärte, schattig lange Bärte –
Traumgestalten, wer von euch
Ist Jehuda ben Halevy?

Zurück zum Gedicht vom Fichtenbaum! Der von Eis und Schnee umhüllte Fichtenbaum träumt „von einer Palme, / Die, fern im Morgenland, / Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand“. Ist es zu verwegen interpretiert, wenn mit der Felsenwand der Felsenberg gemeint ist, auf dem der Tempel stand und der von den Römern zerstört wurde? Und dass die einsame Palme in ihrer Trauer der Zerstreuung der Juden in der Diaspora gilt, einer Zerstreuung, dessen Extremfigur der einsame Fichtenbaum in der Kälte des Nordens darstellt?

Im Innersten ist Heine immer Jude geblieben. Einmal bekennt er: „Ich bin zwar getauft, aber nicht bekehrt.“ Für seinen Herausgeber und Biographen Klaus Briegleb ist dieses Zitat und sind weitere Zitate Schlüsselbelege dafür, dass Heine als „genuin jüdischer Schriftsteller in der Diaspora“ (Briegleb) zu verstehen sei: ein Getaufter, der im Herzen jüdisch geblieben ist, und dass dieses jüdische Selbstverständnis prägend sei für seine Denk- und Schreibweise.

Verstoßen in die Freiheit

Heine ist, trotz allen Spotts über mancherlei religiöse Bizarrerien, tiefreligiös. Früh vom Judentum geprägt, schreibt er in seinem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834):

Der Verfasser dieser Blätter ist sich einer solchen frühen ursprünglichen Religiosität aufs freudigste bewusst, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken.

Sein Bekenntnis zum Judentum ist aber nicht eine Rückkehr zum Judentum des Mittelalters; denn dieses erscheint für ihn ebenso überwunden wie das Christentum seiner Epoche. Schon 1834 schwebt ihm in einem Gedicht aus dem Zyklus Seraphine ein Drittes vor: ein drittes Testament, und er spielt an auf Jesu Wort zu Petrus, dass er auf ihm – „auf diesem Felsen“ (griech. pétros: Fels) – seine Gemeinde bauen wolle (Matthäus 16,18; nebenbei ein, wie die Bibelkritik festgestellt hat, erfundenes Jesus-Wort zur Legitimation von Kirche und Papsttum):

Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.

Vernichtet ist das Zweierlei*,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.

Hörst du den Gott im finstern Meer?
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter?

Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles, was da ist;
Er ist in unsern Küssen.

Diese Utopie erinnert an das Schiller’sche und Beethoven’sche Pathos der universalen Menschenliebe in der Ode an die Freude: „Alle Menschen werden Brüder … / Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Nur dass Heines Küsse durchaus sinnlicher imaginiert sind als die seiner strengen Vorgänger.

Dieses „dritte neue Testament“, das Heine erhofft, stellt nicht eine Abwendung vom Judentum dar, sondern ist die Vision eines modernen, welt- und geschichtsbewussten, zur Freiheit sich entfaltenden Judentums. Das stellt auch den alten Jehova-Gott infrage. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und ihren Weg ins Erdenleben zeichnet Heine in seinem Gedicht Adam der Erste von 1844 prophetisch als Weg des Judentums in die Freiheit. Adam I. bedeutet: Dieser Adam ist der erste wirkliche, weil freie Mensch. Der auf diesen Weg sich aufmachende Adam spricht zu Gott:

Adam I.

Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen,
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach andren Erdenländern;
Doch dass ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, dass ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig.
(…)

Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies –
Es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find ich die geringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies
In Hölle und Gefängnis.

Diese Frage nach dem Wesen Gottes ist für Heine zentral. Erkannt wird dieses Wesen, wenn die alte Aufspaltung von Leib und Seele, Geist und Materie aufgehoben und wenn der Mensch wieder in sein ursprüngliches Freiheitsrecht eingesetzt wird.

Schmerzensmann

Dem Atheismus seiner Freunde Marx, Feuerbach, Bauer ist Heine nicht gefolgt. Nach verschlungener philosophischer Wanderschaft bekennt er sich ab 1848 offener zum Gott der Juden. Sieben Jahre vor seinem Tod schreibt er:

Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn … Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik.

1833 lernt Heine in Paris die junge Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat kennen, die er Mathilde nennt. Sie ist attraktiv und temperamentvoll, er liebt sie sehr, sie heiraten, und sie steht ihm bis zu seinem Tode bei.

Seit 1845 quält ihn ein Nervenleiden, 1848, als in Paris die Revolution ausbricht, kommt es zu einem Zusammenbruch, der eine acht Jahre dauernde Erkrankung einleitet, die mit Schmerzen, Krämpfen, Sehstörungen, Lähmungen und Fieberanfällen einhergeht, sodass er ans Krankenlager gefesselt ist, das er sarkastisch seine „Matratzengruft“ nennt. Er bleibt aber geistig klar und literarisch produktiv – es ist eine ungeheure Willensanstrengung, mit der er diese Produktivität seiner Krankheit abringt.

Jedoch quälen ihn Zweifel ob seiner Konversion zum Christentum. In seinen späten Gedichten zwischen 1846 und 1856 findet sich unter dem Titel Lamentationes folgendes Gedicht, das wohl das bitterste ist, das Heine je geschrieben hat:

Nicht gedacht soll seiner werden!“
Aus dem Mund der armen alten
Esther Wolf hört
ich die Worte,
Die ich treu im Sinn behalten.

Ausgelöscht sein aus der Menschen
Angedenken hier auf Erden,
(…)

Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche

Dunkler Hund im dunkeln Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!

Selbst am Auferstehungstage,
Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen
Zum Gericht die Totenscharen,

Und alldort der Engel abliest
Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladnen

Nicht gedacht soll seiner werden!

(Esther Wolf, eine unbekannte Jüdin.) Der Fluch „Nicht gedacht soll seiner werden“ ertönt refrainartig im Gedicht; er ist ein Zitat aus dem Buch Hesekiel (21,37). Im Namen des Herrn spricht Hesekiel den Fluch gegen die feindlichen Ammoniter aus:

Du sollst dem Feuer zur Nahrung werden, dein Blut soll im Land vergossen werden, und man wird deiner nicht mehr gedenken; denn ich der Herr habe es geredet.

Es ist ein vernichtender Fluch, denn selbst beim Jüngsten Gericht soll des Schuldigen nicht gedacht werden; es ist der wildeste Fluch, den ein Jude auszustoßen vermag.

Jedoch gibt es auch Gottes Zusage des immerwährenden Gedenkens, so beim Propheten Jesaja (49,14 f.):

Zion spricht: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ Gott spricht: „Kann auch eine Frau ihres Kindes vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und wenn sie auch seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“

Wir können kaum ermessen, was Heine durchgemacht hat. Religiös, wie er im Innern geblieben ist, sucht er Frieden mit Gott. Wir lesen Bekenntnisse eines über viele Jahre ans Bett gefesselten, zeitweise gelähmten, schmerzgepeinigten, geistig aufgewühlten, seelisch zerrissenen Menschen – menschliche Bekenntnisse, allzu menschliche. Nietzsche hat den Gedanken formuliert, dass wir aus Treue zu uns selbst zu Wanderern zwischen Extremen werden müssen:

Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer. (Menschliches, Allzumenschliches, I, 638)

Rebellische Resignation

Heines Todeskampf ist quälend. Den Tod vor Augen dichtet er:

Keine Messe wird man singen,
Keinen Kadosch wird man sagen,
Nichts gesagt und nichts gesungen
Wird an meinen Sterbetagen.

Doch vielleicht an solchem Tage,
Wenn das Wetter schön und milde,
Geht spazieren auf Montmartre
Mit Paulinen Frau Mathilde.

Mit dem Kranz von Immortellen
Kommt sie mir das Grab zu schmücken.
Und sie seufzet: „Pauvre homme!“
Feuchte Wehmut in den Blicken.

Als er im Sterben liegt, kniet seine Frau an seinem Bett und betet zu Gott, dass er ihm alle Sünden verzeihen möge. Daraufhin sagt Heine mit schwacher Stimme:

Ma chère, ne t’inquiète pas, Dieu me pardonnera, c’est son metier.
(Meine Liebe, mach dir keine Sorgen, Gott wird mir schon verzeihen, das ist sein Beruf.)

Begraben wird er auf dem Friedhof Montmartre. Kein Rabbi, kein Pastor, kein Priester darf ihn begleiten. Rebell bis zuletzt, hat er es so bestimmt.

Auf der Grabplatte ist ein Gedicht von ihm eingemeißelt:

Wo wird einst des Wandermüden
Letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?

(…)
Immerhin mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,
Und als Totenlampen schweben
Nachts die Sterne über mir.

Neben ihm liegen Hector Berlioz, Edgar Degas, Stendhal, Alexandre Dumas fils, Jacques Offenbach.

Jahre später schreibt Gustave Flaubert, ein enger Freund Heines, in einem Brief voller Grimm:

Ich denke mit Bitterkeit daran, dass bei Heinrich Heines Begräbnis nur neun Personen anwesend waren! O Publikum! O Bürger! O Lumpenpack!

(Vortrag im Jüdischen Lehrhaus zu Göttingen, Februar 2023)