Wachstum – dystopischer Wahn
von Stefan Meretz
Der Kapitalismus ist ein Erfolgsmodell. Dumm ist nur, dass Bestandteil dieses Erfolgs ist, die natürlichen Lebensgrundlagen – uns darin eingeschlossen – zu zerstören. Dabei geht es nicht nur um die Klimakatastrophe, die der Kapitalismus erfolgreich produzierend in die Welt gesetzt hat. Viel weniger Aufmerksamkeit bekommen andere Verherungen, etwa die geozeitlich gesehen sechste Welle des Artensterbens, die Meeresversauerung und Überfischung, das Aufbrauchen der Süßwasservorräte, die Zerstörung der Böden und Wälder, die Vergiftung der Biosphäre usw. Alle Indikatoren deuten darauf hin, dass es der Kapitalismus schaffen wird, die globale Menschheit in den Kollaps zu produzieren. It’s not a bug, it’s a feature.
Der Kern des destruktiven Erfolgs ist der intrinsische Wachstumszwang des Kapitalismus. Als Treiber dafür können zwei Elemente ausgemacht werden, Geld und Eigentum. Beide sind nicht voneinander zu trennen, ich will sie hier dennoch nacheinander durchgehen.
Das Geld steht für die Spaltung von als Waren produzierten Gütern in zwei Aspekte: jenen, der die Bedürfnisse befriedigt, der Gebrauchswert, und jenen, der die gesellschaftliche Verteilung organisiert, der Wert oder eben das Geld. Verkürzt gesagt stehen damit Bedürfnisse und Geld in zwei getrennten Lagern. Wir fragen nicht, was wir für unsere Bedürfnisse brauchen, sondern was wir bezahlen können. Gleichzeitig ist beides aneinander gekoppelt: Wir bekommen die Sache für unsere Bedürfnisse nur, wenn wir sie auch bezahlen können. Soweit zur Konsumseite.
Schauen wir nun auf die Produktionsseite, können wir den Wachstumszwang verstehen. Dazu dient folgende modellhafte Skizze. Nehmen wir ein individuelles oder kollektives Kapitalgebilde, ein Unternehmen oder eine Branche, kurz: ein Kapital. Das Kapital investiert in Produktionsvoraussetzungen und Arbeitskraft, um Waren zu produzieren und zu verkaufen. Aus dem Verkauf der Waren werden die (Kredite für die) Produktionsvoraussetzungen bezahlt. Die Arbeitskraft bekommt einen Teil der verbleibenden Gewinne als Lohn. Der Rest wird vom Kapital als Profit angeeignet.
Nun kommt’s: Von dem Lohn können die Arbeitenden die von ihnen hergestellten Waren nicht komplett zurückkaufen. Sie können nur die Waren kaufen, die – mehr oder weniger, das hängt auch von sozialen Kämpfen ab – ausreichen, um ihre Arbeitskraft zu erhalten. Wer kauft den Rest? Der kann nur von weiteren entlohnten Arbeitenden gekauft werden. Dazu muss die Produktion ausgedehnt werden. Die Investition dafür wird aus dem vorherigen Profit bezahlt. Damit steht jetzt zwar mehr Kaufkraft zur Verfügung, doch gleichzeitig wird auch wieder mehr produziert – wo kommt die Kaufkraft dafür her? Dazu muss wieder mehr produziert werden, damit die neuen Beschäftigten von ihrem Lohn etc. pp. Das bedeutet, schon die Spaltung in Gebrauchswert und Wert, in Bedürfnisse und Geld, erzeugt einen inneren Expansionsdrang.
Kurzer Seitenblick: Im Sozialismus läuft es im Prinzip genauso, nur dass der Mehrwert nicht von einem Kapital angeeignet wird, sondern vom Staat. Definitorisch ist das dann zwar keine Ausbeutung, doch für die Arbeitenden bleibt es das Gleiche: Sie können nicht alle von ihnen produzierten Waren zurückkaufen, was genauso zu Wachstum nötigt. Allerdings ist der Antrieb, die Produktion auch tatsächlich auszuweiten, hier viel geringer. Denn es fehlt das zweite Element, das wir im Kapitalismus finden.
Es ist das Privateigentum, es macht den Wachstumsdrang vollends zum Wachstumszwang. Wie das? Eigentum erlaubt den Ausschluss von Anderen von der Verfügung über eine Sache. Es ist die rechtliche Basis kapitalistischer Exklusionslogik. Es trennt alle von allen, so auch die Produzent*innen voneinander. Sie produzieren jeweils für sich und konkurrieren auf dem Markt um die begrenzte Kaufkraft – siehe oben. Die Konkurrenz zwingt sie zur Innovation, zur Verbilligung der bestehenden Produktion oder zur Schaffung neuer Produkte. Beides braucht Investitionen, und wer größer ist, kann mehr Geld (oder Kredit) einsetzen. Skaleneffekte – größere Mengen zu produzieren verbilligt die Stückkosten – tragen ihr übriges dazu bei. Wer es nicht schafft, den eigenen Marktanteil durch Innovation zu halten oder zu vergrößern, wird von der Konkurrenz verdrängt, die dem gleichen Zwang unterliegt. Nur wer wächst, überlebt. Q.e.d.
Die Exklusionslogik hat auch eine sachliche Seite, die Externalisierung. Um die Produktion zu verbilligen, wird alles rausgeworfen, was sie potenziell verteuert: Menschen- und Umweltschutz. Und es muss potenziell alles einverleibt werden, was verwertbar ist: Erdkruste, Biosphäre, Menschen. Die Ironie ist, dass die kapitalistische Warenproduktion damit genau jene Produktionsfaktoren zerrüttet, die sie eigentlich braucht.
Weil jedoch die Grundlagen der Produktion geschützt werden müssen, es die einzelnen Unternehmen jedoch nicht hinbekommen, ist der Staat notwendig. Auflagen und Einschränkungen sind für das Kapital kein Problem, solange sie für alle gleichermaßen gelten. Das Kapital flehte im 19. Jahrhundert den Staat an, die überbordenden Arbeitszeiten rechtlich zu begrenzen, weil sonst die kollektive Arbeitskraft ruiniert werde. Aufgrund der Konkurrenz brachten sie das selbst nicht zu Stande. Damals ging es um die Konkurrenz innerhalb eines Nationalstaats, heute geht es um die globale Ebene. Hier verhindert die Konkurrenz der Nationalstaaten untereinander den globalen Rettungseingriff.
Das bringt manche auf die Idee, dass ein Weltstaat den Kapitalismus bändigen könnte. Sie übersehen jedoch, dass staatliche Eingriffe meist erst im Nachhinein erfolgen. Das kann halbwegs funktionieren, solange die Auswirkungen der Externalisierung örtlich und zeitlich begrenzt sind. Bei den oben beschriebenen multiplen Katastrophen handelt es sich jedoch sowohl um globale wie um lange nachlaufende Prozesse. Auch punktuelle weltstaatliche Eingriffe wären „strukturell zu klein“ und kämen „strukturell zu spät“. Das gilt erst recht für die wesentlich dürftigeren „internationalen Abkommen“, mit denen wir es heute zu haben.
Solange Geld und Eigentum im Spiel bleiben, ist daran prinzipiell nichts zu ändern. Das bedeutet nicht, dass die Wirkungen von Geld und Eigentum nicht abschwächbar wären. Commons und solidarische Ökonomien machen das. Sie versuchen gegen die hinter unserem Rücken wirkende ökonomische Wachstums- und Destruktionsmechanik mehr Solidarität und Mitweltschutz durchzusetzen. Besser als nichts. Nötig wäre jedoch die Aufhebung von Geld, Eigentum, Markt, Staat – des Kapitalismus.