Ukraine-Krieg, Propaganda und der geopolitische Abstieg des Westens

von Andreas Urban

Alle Kriege haben eine Vorgeschichte, und es gibt für sie stets sowohl Anlässe als auch Ursachen. Alle rekonstruierbaren Ursachen und historischen Voraussetzungen, die zum Krieg führen, können aber niemals eine Rechtfertigung für einen solchen sein. Für Krieg kann es niemals eine Rechtfertigung geben. Dies gilt auch und gerade für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der seit Ende Februar 2022 die Welt erschüttert und selbst Fachleute und informierte Beobachter des Weltgeschehens, trotz der bekannten Vorgeschichte und der rezenten Eskalationen im Russland-Ukraine-Konflikt, einigermaßen überrascht haben dürfte.

Solche Selbstverständlichkeiten gilt es diesem Thesenpapier, gleichsam als Disclaimer, vorauszuschicken, zumal wir seit Beginn des Ukraine-Krieges in der Öffentlichkeit bemerkenswerte Parallelen zu den gesellschaftlichen Debatten während der Corona-Krise erleben, die den Diskurs in den letzten zwei Jahren weitgehend bestimmte: Mithilfe eines gewaltigen Propagandaapparates wird ein öffentlicher „Konsens“ produziert, der keinerlei Widerspruch oder auch nur Differenziertheit duldet. Wurde bereits im „Krieg gegen das Virus“ eine „Solidargemeinschaft“ geschaffen und beschworen, die mit heftiger Ranküne auf all jene reagierte, die es wagten, dumme Fragen zu stellen (über Lockdowns, Maskenpflichten, Impfungen etc.), so steht nun ebenfalls ein Heer von „Solidarischen“ Seite an Seite mit der ukrainischen Regierung und in Geschlossenheit gegen den russischen Aggressor. Es scheint fast so, als habe der während der Pandemie wiederentdeckte „Volkskörper“ nur darauf gewartet, sich endlich in einem „echten“ Krieg bewähren zu dürfen. Wer heute nicht in den sich allerorten (besonders krass aber in Deutschland) ausbreitenden Bellizismus einstimmt, wird schon fast als „Staatsfeind“ denunziert. Und jeder, der Fragen stellt, die z.B. die Rolle des Westens in der Eskalation des Konflikts betreffen, wird umstandslos als „Putinversteher“[1] diffamiert.

Die Mechanismen sind also sehr ähnlich jenen während der Corona-Krise, als sich Kritiker/innen, sobald sie die Regierungslinie und den medialen „Konsens“ kritisch hinterfragten, ebenfalls sehr rasch in der Tonne der „Coronaleugner“ und der „Verschwörungstheoretiker“, wenn nicht sogar der „Nazis“ und „Antisemiten“ wiederfanden. Entsprechende – in aller Regel nicht einmal mit irgendwelchen sinnvollen Argumenten bewehrte – Diffamierungen konnte man bis hinein in die Linke und selbst innerhalb wert(abspaltungs)kritischer Kreise
erleben.[2]

Die Kriegspropaganda ist dabei seit mindestens 1914 dieselbe, und ihre typische Form und ihr Inhalt machen die medialen und politischen Debatten daher so leicht als das identifizierbar, was sie sind – eben Propaganda: Der Krieg wird zu einer Konfrontation zwischen Gut und Böse. Die feindliche Seite ist von Grund auf gemein, unmenschlich und kriegslüstern, die eigene Seite dagegen human und friedliebend; der Feind ist grausam, begeht Kriegsverbrechen oder benutzt Massenvernichtungswaffen, die eigene Seite tötet Zivilisten – wenn überhaupt – nur aus Versehen. Und selbstverständlich kämpft die eigene Seite für höhere Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, der Feind hingegen ist autokratisch, trägt gleichermaßen unmenschliche wie untermenschliche Züge, ist ein Diktator und Despot, wenn nicht überhaupt ein neuer Hitler.[3]

Natürlich kommt die Propaganda, wie in jedem Krieg, von beiden Seiten, aber sie kommt eben auch (und nicht zuletzt) von westlicher Seite. Das macht es auch so schwierig, an brauchbare Informationen zu gelangen, weil weder der einen, noch der anderen Seite zu trauen ist. Zumindest so viel Konsens sollte sich in einem gesellschaftskritischen Kontext herstellen lassen, dass man nicht so ohne Weiteres Partei ergreifen kann und eine hinreichend kritische Distanz zur medialen Berichterstattung und zu Regierungsverlautbarungen, von russischer wie von ukrainischer bzw. westlicher Seite, bewahren sollte. Wer dies wollte, konnte in der westlichen Kriegsberichterstattung – in der übrigens von Journalisten, wie schon bei Corona, offenbar nichts, aber auch wirklich gar nichts auf Plausibilität, geschweige denn Richtigkeit überprüft wird – bereits in den ersten Kriegswochen Dinge sehen, die schlicht haarsträubend zu nennen sind. Das vielleicht Absurdeste, das in manchen westlichen Medien an erbärmlichem Journalismus besichtigt werden konnte, war ein Ausschnitt aus einem Star-Wars-Film in einem angeblichen Bericht vom ukrainischen Kriegsschauplatz. Ein beeindruckendes Beispiel von schamloser Desinformation war hingegen eine ukrainische Berichterstattung vom russischen Angriff auf Mariupol. Das Bildmaterial stammte tatsächlich von einem wenige Tage zuvor stattgefundenen ukrainischen(!) Angriff auf Donezk, bei dem 21 Zivilisten durch eine Streubombe getötet wurden (eine Kriegshandlung, von der im Westen übrigens nirgendwo berichtet wurde – wie man auch sonst nichts über die Situation in den seit Jahren unter ukrainischem Beschuss stehenden Gebieten im Donbass erfährt). Angesichts solcher journalistischen Fehlleistungen und unverhohlenen Desinformation und Propaganda kann man sich bei den von westlicher Seite immer wieder – sicher oftmals nicht zu Unrecht erhobenen – Vorwürfen russischer Desinformation und Fake News schwer des Eindrucks erwehren, Zeuge lehrbuchreifer Projektionen zu werden.[4]

Im Gegensatz zu dem, was der westliche „Konsens“ als einzig adäquate Positionierung im Ukraine-Krieg dekretiert, ist aus einer historisch informierten, gesellschaftskritischen Perspektive darauf zu bestehen, dass der aktuelle Krieg wie schon der gesamte Russland-Ukraine-Konflikt – der ja inzwischen auch schon eine etwas längere Vorgeschichte hat und nicht plötzlich von heute auf morgen eskaliert ist – nicht verstanden werden kann, ohne dabei (auch) die Rolle des Westens im Allgemeinen und der NATO im Besonderen mit ins Kalkül zu ziehen. Dazu gehört nicht zuletzt die seit mehr als 20 Jahren betriebene NATO-Osterweiterung. Dies pauschal als einen plumpen oder gar „verschwörungstheoretischen“ Anti-Amerikanismus abzutun, wie dies zum Teil sogar in manchen wertkritischen Debatten anklingt, ist hoch problematisch – wiewohl es natürlich solche verkürzten, anti-amerikanistischen Ausprägungen durchaus gibt, die auch entsprechend zu kritisieren sind. Aber wenn es für Wertkritiker/innen per se unzulässig wäre, die Rolle und die „Machenschaften“ des Westens und insbesondere der USA zu thematisieren und zu kritisieren, dann wären so wichtige Bücher wie etwa Roberts Kurz‘ „Weltordnungskrieg“[5] wohl niemals geschrieben worden. Hier scheint also eine ähnliche Dynamik zu wirken und eine ähnlich willkürliche Beschneidung des kritischen Denkens stattzufinden wie bei Corona: Wenn es gegen das böse Virus oder den bösen Russen geht, ist der Westen bzw. sind westliche Regierungen offenbar von der Kritik auszunehmen. Hier kann man auch nicht umhin, festzustellen, dass derzeit gerade in Ländern wie Deutschland offenbar wieder ein historisch tief eingewachsener Russenhass aktualisiert wird, was vielleicht auch einiges am Verlauf und der Qualität der Diskussion hierzulande erklären mag (Deutschland hat nun einmal so einiges, das es den Russen nicht verzeihen kann oder will, insbesondere 1941).

Der offene Rassismus, der plötzlich wieder fröhliche Urständ feiert[6], indem „dem Russen“ alle möglichen negativen Eigenschaften zugeschrieben und regelrechte Hetzkampagnen gegen alles „Russische“ geführt werden (bis dahin, dass Kulturhäuser Musik- und Theaterstücke von russischen Komponisten und Autoren aus dem Programm nehmen[7]), tobt sich im Übrigen nicht nur an Russland, sondern nicht zuletzt auch an den Objekten der westlichen „Solidarität“ selbst aus. Was dem westlichen und hier vor allem dem europäischen Bürger am gegenwärtigen Krieg so besonders zuwider zu sein scheint, ist offenbar, dass es diesmal nicht – wie z.B. seinerzeit in Afghanistan und dem Irak oder bis heute in Syrien oder dem Jemen – zivilisatorisch „rückständige“ Länder trifft, sondern ein an „westlichen Werten“ und „Demokratie“ orientiertes Land (beinahe) im Herzen Europas.[8] Und während in den anderen Kriegen primär Menschen muslimischer Herkunft betroffen waren und – so sie nicht getötet wurden[9] – sich in großer Zahl auf die Flucht in den Westen aufmachten, sind es heute blonde und blauäugige Frauen und Kinder, die es zu retten gilt und im Vergleich zu Menschen aus afghanischen, irakischen oder syrischen Kriegs- und Zusammenbruchsgebieten mit geradezu offenen Armen aufgenommen werden.[10] Mit anderen Worten: Die Ukraine wird bereits zum Westen gerechnet, und es trifft diesmal praktisch uns selber und nicht mehr „die Anderen“.

Mit alldem ist, wie gesagt, noch nichts über eine unbedingt notwendige Kritik am Vorgehen der russischen Regierung und ihrer Armee ausgesagt. Aber genauso wenig ist einzusehen, weshalb der Westen von der Kritik auszunehmen sein und eine kritische Perspektive auf den aktuellen Krieg ähnlich einseitig ausfallen soll wie die kaum erträgliche mediale Berichterstattung und Propaganda auf praktisch allen westlichen Kanälen.

Finale Krise und geopolitischer Abstieg des Westens

Aus einer wert(abspaltungs)kritischen Perspektive ist der Ukraine-Krieg freilich in den Kontext der finalen Krise zu stellen und in diesem Lichte zu betrachten.[11] Ein wesentlicher Aspekt in diesem Zusammenhang, den z.B. Gerd Bedszent in seinem Text über den Ukraine-Krieg[12] zumindest grob entfaltet hat, sind die Krisen- und Zerfallsprozesse in der kapitalistischen Peripherie und Semiperipherie, die sich in Russland und der Ukraine insbesondere in jenem berühmt-berüchtigten Oligarchentum manifestieren, welches aus dem Zerfall der Sowjetunion und ihrer anschließenden neoliberalen Ausschlachtung in den 1990er Jahren hervorgegangenen ist.[13] Speziell in der Ukraine ist es nicht zuletzt deren Status als „gescheiterter Staat“[14], der nun durch den Krieg wohl endgültig besiegelt wird (dies wird auch davon abhängen, wie lange der Krieg in die Länge gezogen wird und wie viel von der Ukraine dann, z.B. an Infrastruktur, noch übrig ist).[15]

Aber auch hier, unter dem Gesichtspunkt der finalen Krise, kommt eine kritische Analyse wohl nicht ohne Berücksichtigung des Westens aus. Man kann sich schwer des Eindrucks erwehren, dass wir gegenwärtig nicht zuletzt Zeugen eines rasant beschleunigten geopolitischen und ökonomischen Abstiegs des Westens und insbesondere der USA werden. Gerade die USA pfeifen inzwischen auf verschiedenen Ebenen aus dem letzten Loch – schon alleine was den mittlerweile erreichten Grad an Deindustrialisierung und die damit einhergehende Pauperisierung der Bevölkerung angeht.[16] Selbst die militärische Überlegenheit, aus der sich in den letzten Jahrzehnten der Status der USA als „Weltpolizei“ ableitete, scheint sich inzwischen nicht einmal mehr als Imago aufrechterhalten zu lassen.[17] Und mit das Gefährlichste an der gegenwärtigen Situation scheint zu sein, dass der Westen dies nicht wahrhaben will und mittlerweile offenbar seine eigene Propaganda glaubt. Anders ist z.B. die geradezu euphorische (und in vielerlei Hinsicht auch heuchlerische[18]) Sanktionswut hierzulande kaum zu erklären. Denn diese wird ökonomisch zwar weniger der US-Wirtschaft, dafür ganz besonders der europäischen Wirtschaft schaden – etwa wenn tatsächlich ein Erdöl- und Gas-Embargo gegen Russland verhängt werden sollte.

In diesem Punkt sind vielleicht auch manche Bedenken gegenüber Anselm Jappes an sich durchaus diskussionswürdiger Überlegung anzumelden, den Ausstieg aus russischem Öl und Gas sozusagen als Chance für den Ausstieg aus dem ökologisch verheerenden fossilen Kapitalismus überhaupt zu nutzen.[19] Wesentlich wahrscheinlicher dürfte nämlich sein, dass der Ausstieg aus russischem Öl und Gas insbesondere durch US-amerikanisches und ökologisch noch schädlicheres Fracking-Öl und -Gas kompensiert wird. Und das, was sich nicht kompensieren lässt (schon allein deshalb, weil das US-Angebot begrenzt und sehr kostspielig ist), werden dann vor allem diejenigen auszubaden haben, die schon heute kaum über die Runden kommen – durch Energieengpässe und/oder explodierte Strom-, Gas- und Benzinpreise, Massenarbeitslosigkeit infolge der wirtschaftlichen „Kollateralschäden“ der Sanktionspolitik etc. Der durch die Sanktionen zwangsläufig weiter forcierte Ausstieg aus der Energieerzeugung mittels Öl und Gas lässt darüber hinaus eine Renaissance der Atomenergie erwarten – dies wäre dann der Gipfel des Irrsinns. Wahrscheinlich ist in diesem Zusammenhang auch eine weltweite Aushöhlung der Umweltgesetzgebung (die Antarktis als Rohstoffquelle und Mülldeponie etc.). Ob also der Russland-Ukraine-Krieg eine gute Gelegenheit ist, um quasi über den Umweg von Sanktionen gegen Russland den praktischen Ausstieg aus der derzeitigen Energiewirtschaft anzubahnen, erscheint fraglich, solange nicht gleichzeitig an der kapitalistischen Produktionsweise gerüttelt wird. Zumindest müsste dieses Vorhaben gleichzeitig – schon allein unter ökologischen Gesichtspunkten – mit einem Boykott der US-amerikanischen Fracking-Industrie sowie der Atomenergie verbunden sein.

Auch die ständig weiter befeuerte westliche Eskalationspolitik kann vermutlich nur durch den (nach zwei Jahren Corona-Politik hinlänglich bekannten[20]) Realitätsverlust und die galoppierende Irrationalität nicht nur in der westlichen Bevölkerung, sondern auch und gerade unter den westlichen Funktionseliten erklärt werden.[21] Da scheint niemand mehr ernsthaft zu begreifen (oder begreifen zu wollen), was eine weitere Eskalation, z.B. eine Intervention der NATO, bedeuten würde – nämlich den dritten Weltkrieg.

Geopolitisch ist der russische Angriffskrieg vermutlich als Signal der endgültigen Abkehr Russlands vom Westen und der Fokussierung auf die „eurasischen“ Beziehungen, insbesondere mit China und Indien, zu deuten. Hier scheint derzeit einiges im Gang zu sein im Hinblick auf die Etablierung eines eurasischen Wirtschaftsraums. Auch das gehört faktisch zur geopolitischen und -ökonomischen Krise des Westens, die hierzulande konsequent verdrängt wird. Zu nennen sind hier beispielsweise die allem Anschein nach schon sehr weit gediehenen Bemühungen von China und Co., aus der Weltwährung Dollar auszusteigen („de-dollarization“). Kürzlich hat sogar Saudi-Arabien angekündigt, in Hinkunft einen Teil seiner Öllieferungen an China nicht mehr in Dollar, sondern in Yuan abzurechnen.[22] Es scheint bereits intensiv an einem alternativen Zahlungssystem, analog zum westlichen SWIFT-System, gearbeitet zu werden. Der erfolgte weitgehende Ausschluss Russlands aus SWIFT im Rahmen der westlichen Sanktionen dürfte, wenn diese Bemühungen Erfolg haben sollten, Russland nicht nur deutlich weniger schaden, als man sich im Westen erhofft (was abermals ein Beleg für den Realitätsverlust hierzulande wäre), sondern Russland erst recht dazu veranlassen, seine Kooperation mit China weiter zu forcieren – auch das wieder vor allem zum Schaden des Westens und nicht zuletzt Europas.

Im Zusammenhang mit der „De-Dollarisierung“ ist übrigens auch daran zu erinnern, dass zahlreiche der in den letzten Jahrzehnten vom Westen geführten „Weltordnungskriege“ nicht zuletzt (auch) der Stützung des Dollars als Weltleitwährung dienten.[23] Diese konnte der inzwischen offenbar nur noch in seiner Eigenwahrnehmung als solcher existierende Hegemon USA schon damals kaum noch wirtschaftlich, sondern nur noch dank seiner militärischen Überlegenheit gewährleisten. Dass nun selbst bis aufs Blut verfeindete Staaten wie Indien und Pakistan oder Iran und Israel quasi geschlossen der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland die Zustimmung verweigern, verdeutlicht ebenfalls die schrumpfende Bedeutung der USA als geopolitische Macht.

Implikationen für die Krisentheorie?

Ob und was aus diesen geopolitischen Verschiebungen resultiert und welche Implikationen das vor allem für die Krisentheorie hat, wird sich zeigen. Vielleicht werden wir (übrigens nicht zum ersten Mal) die Erfahrung machen, dass die weitere Verlaufsform der finalen Krise noch einige Überraschungen bereithält, mit denen wir so nicht gerechnet hätten. Möglich wäre eine (zumindest zeitweilige) geopolitische Machtverschiebung in den eurasischen Raum (vorausgesetzt, die gegenwärtige Eskalationspolitik mündet nicht in absehbarer Zeit in einen Atomkrieg).

Ein für die weitere Entwicklung in den kommenden Monaten und Jahren relevanter Faktor, der wertkritische Aufmerksamkeit verdient, wäre der Fakt, dass der Westen, insbesondere die USA, in den vergangenen Jahrzehnten kräftig die eigene Deindustrialisierung vorangetrieben hat, indem Produktionskapazitäten ins Ausland, insbesondere China, verlagert wurden. Robert Kurz hat diese Prozesse vor allem im „Weltkapital“ beschrieben und sowohl als Symptom als auch als wesentliche Triebkraft der finalen Krise theoretisiert.[24] Dieser Krisenprozess nimmt aber nicht überall auf der Welt dieselbe Gestalt an und betrifft nicht alle Länder gleichermaßen bzw. ist jeweils unterschiedlich ausgeprägt. Russland z.B., selbst wenn es wirklich die von US-Politikern gerne beschworene „als Staat verkleidete Tankstelle“ wäre, kann sich im Unterschied zu den USA und ganz besonders Europa (derzeit) im Wesentlichen selbst versorgen. Ähnliches gilt für China: Zwar ist die ostasiatische Wirtschaftsmacht, anders als etwa Russland, selbst abhängig von großen Energieimporten. Im Westen läuft allerdings ohne chinesische Produkte und Komponenten so gut wie gar nichts mehr. Würde sich China dazu entschließen, den Westen nicht mehr mit chinesischer Ware zu beliefern, wäre daher nicht nur der Warenkorb des westlichen Otto Normalverbrauchers ziemlich leer, sondern wären auch die westlichen Industrien weitgehend lahmgelegt. Mit anderen Worten: Auf stofflicher Ebene, vor allem im Hinblick auf das Produktionsaggregat und die Verfügung über Rohstoffe, stehen Länder wie Russland und China heute in gewisser Hinsicht wesentlich besser da als die USA oder Europa. Im Westen hat man in manchen Bereichen inzwischen teilweise nicht einmal mehr das nötige Know-how, um bestimmte Dinge und Technologien selbst so herzustellen, dass sie, erstens, funktionieren, und, zweitens, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wären.[25]

Dass sowohl China als auch Russland für die bevorstehenden Krisenschübe besser gewappnet zu sein scheinen, hat freilich auch historische Ursachen. Russland ist nach den marktradikalen Exzessen der Jelzin-Ära knapp an einem Staatszusammenbruch vorbeigeschrammt; das jetzige repressive Putin-Regime ist letztlich das Produkt einer gewaltsamen Systemstabilisierung.

Und der wirtschaftliche Koloss China hat vergleichsweise spät begonnen, die etatistischen Strukturen seiner Aufbauphase abzuschütteln und baut diese derzeit tendenziell sogar wieder aus. Im Sommer 2021 ging z.B. durch die Medien, dass China die im Lande ansässigen Tech-Unternehmen an die Kandare genommen und deren Kontrolle stark verschärft hat. Es ging dabei vor allem um Big Data und Fragen der Datensicherheit. Wie es scheint, möchte die KPC die Daten über ihre riesige Bevölkerung nicht aus der Hand geben und vor allem ihren chinesischen Kapitalismus nicht den Internet- und Tech-Oligarchen ausliefern (hier dienen wohl nicht zuletzt wieder die USA als warnendes Beispiel). Überhaupt versucht die KPC die in den letzten Jahren selbst entfesselte Marktanarchie wieder in die Hand zu bekommen und installiert (angeblich) in allen größeren privaten Unternehmen Parteizellen.[26]

Natürlich können solche gewaltsam erzwungenen Rückgriffe auf repressive Früh- und Durchsetzungsphasen des Kapitalismus die Krise von Warenproduktion und abstrakter Arbeit nur vorübergehend ausbremsen, aber keineswegs aufhalten. Gleichwohl erscheint es vor diesem Hintergrund alles andere als sicher – wovon innerhalb der Wert(abspaltungs)kritik bisher mehr oder weniger explizit ausgegangen wurde –, dass die finale Krise des Kapitals sich allmählich von der Peripherie bis in die westlichen Zentren voranfrisst, bis (bildlich gesprochen) die letzte Wohlstandsinsel in der Flut der Entwertung absäuft. Es erscheint immerhin möglich, dass im weiteren Krisenverlauf jene Staaten Vorteile haben, die noch die Produktionskapazitäten, die Rohstoffe und die entsprechenden Fertigkeiten besitzen, um „stofflichen Reichtum“ noch hinreichend selbst erzeugen zu können. Und dazu gehören die USA und Europa heute sicher nicht mehr. Zumindest für begrenzte Zeit könnten Staaten wie China auf den Modus „Modernisierungsdiktatur“ schalten und hätten darüber hinaus im nicht unwahrscheinlichen (konventionellen) Kriegsfall wohl massive Vorteile.

Gerade mit Blick auf die Weiterentwicklung der Krisentheorie wird sich die Wert(abspaltungs)kritik die nötige Offenheit bewahren müssen, um die Theorie ständig an der empirischen Krisenrealität zu überprüfen und ggf. zu modifizieren. Und diese Krisenrealität – u.a. das zeigt der gegenwärtige Ukraine-Krieg – ist heute zunehmend geprägt durch weitreichende geopolitische Verschiebungen und insbesondere einen sich beschleunigenden, auch intellektuellen und militärischen Abstieg des Westens.

Endnoten

[1] Übrigens ein ähnlich fragwürdiges und vielsagendes Label wie das des „Coronaleugners”. Verstehen als kognitiver Akt wird da zur Sünde erklärt, wo doch ein wenig „Putinverständnis”, gerade im Kriegsmodus und schon aus eigenem Interesse, angebracht wäre. Die Chance, „richtige” Entscheidungen zu treffen, ist nun einmal erheblich größer, wenn man seinen Feind versteht. Nicht zuletzt Journalisten täte ein wenig „Putinverständnis” gut, um nicht beständig über Putin „rätseln” zu müssen (siehe exemplarisch: „Das Rätsel Putin – Was Merkel nicht schaffte, muss Baerbock jetzt lösen”, welt.de [23.2.2022]).

[2] Dort gipfeln die Diffamierungen inzwischen darin, Personen, die sich aus welchen Gründen auch immer gegen eine CoV-Impfung entschieden haben, quasi pauschal in den Rang einer von einem krisenbedingten Todestrieb geleiteten Selbstmordsekte zu erheben (vgl. Tomasz Konicz: Von Crashpropheten, Preppern und Krisenprofiteuren – Rechte Ideologie in der Krise, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 19, 2022, S. 79).

[3] Ausführlich siehe Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2004.

[4] Überhaupt ist die westliche Russland-Ukraine-Debatte voll von Projektionen – so etwa die beinahe gebetsmühlenartig vorgebrachten Behauptungen eines russischen Expansionsdrangs und einer angeblichen Rückkehr des „Sowjetimperialismus“. Manche scheinen sogar ernsthaft zu glauben, Putin hätte vor, nach der Ukraine auch in mittel- und westeuropäischen Staaten einzufallen. Hält man sich an die historische Faktenlage, war es in den vergangenen 30 Jahren vor allem der Westen, der auf Expansionskurs nach Osteuropa war. Zuerst waren es Großunternehmen, die ab 1990, nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, massiv in Richtung Osten expandierten. Darauf folgten später EU und NATO, um das wirtschaftlich eroberte Terrain zu sichern.

[5] Robert Kurz: Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003.

[6] Siehe hierzu pars pro toto die Auslassungen der Politikwissenschaftlerin und Vizedirektorin des Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien in Paris, Florence Gaub, bei Markus Lanz am 12. April 2022: „Wir dürfen nicht vergessen, auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind – jetzt im kulturellen Sinne – die einen anderen Bezug zu Gewalt haben, die einen anderen Bezug zu Tod haben.“ (nachdenkseiten.de, 14.4.2022)

[7] Das Wiener Konzerthaus hat sogar ein Benefizkonzert für Kriegsbetroffene und Flüchtlinge aus der Ukraine abgesagt, nachdem der ukrainische Botschafter moniert hatte, dass in dem Orchester auch russische Künstlerinnen und Künstler mitwirken (konzerthaus.at).

[8] Was übrigens gleich doppelt falsch ist – sowohl geographisch als auch im Hinblick auf den „demokratischen“ Status der Ukraine.

[9] Im Irakkrieg ab 2003 übrigens, je nach Quelle, zwischen einer halben und einer Million Menschen.

[10] Moustafa Bayoumi: „They are ‚civilised‘ and ‚look like us‘: the racist coverage of the Ukraine“, theguardian.com, 2.3.2022

[11] Herbert Böttcher: Ukraine: Ein Krieg um die zerfallende Weltordnung, exit-online.org, 2022

[12] Gerd Bedszent: Krise und Krieg der Oligarchen, wertKRITIK.org, 2022

[13] Gerd Bedszent: Oligarchen und andere Widrigkeiten, in: ders.: Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten, Frankfurt am Main 2017, S. 126-135.

[14] Gerd Bedszent: Zusammenbruch der Peripherie. Gescheiterte Staaten als Tummelplatz von Drogenbaronen, Warlords und Weltordnungskriegern, Berlin 2014, 126-162

Gerd Bedszent: Die Ukraine – Dualität von Nationalismus und Staatszerfall, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 12, S. 176-184, 2014, online auch auf wertKRITIK.org

[15] Dies gilt zumindest für jene Landesteile, die nicht Russland einverleibt werden. Nicht wenig des ukrainischen Niedergangs zumindest seit 2014 war der horrenden Aufrüstungsfinanzierung, der überbordenden Korruption und, nicht zuletzt, der Reduktion der wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland geschuldet. Es ist zu erwarten, dass für die 30 bis 40 Prozent des Landes, die im Zuge des Kriegs an Russland fallen könnten, diese Faktoren großteils wegfallen. Dies hängt freilich auch davon ab, wie das derzeit zu beobachtende russisch-chinesische „Unabhängigkeitsexperiment” vom Westen (siehe unten) ausgehen wird.

[16] Peter Temin: The vanishing middle class. Prejudice and power in a dual economy, Cambridge 2017

[17] Vgl. Andrei Martyanov: Losing Military Supremacy: The Myopia of American Strategic Planning, Atlanta 2018

[18] Heuchlerisch vor allem mit Blick auf die Sanktionsforderungen, die anlässlich anderer de facto völkerrechtwidriger Kriege in den vergangenen Jahrzehnten, auch und gerade solchen unter Federführung der NATO bzw. der USA, erhoben bzw. nicht erhoben wurden (NATO-Angriff auf Jugoslawien 1999, Irakkrieg 2003, Libyen 2011 etc.).

[19] Anselm Jappe: Schluss mit Putins Gas?, wertKRITIK.org, 2022

[20] Andreas Urban & F. Alexander von Uhnrast: Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs, wertKRITIK.org, 2022

[21] Womit nicht in Frage gestellt wird, dass es auch im aktuellen Krieg Akteure gibt, die durchaus binnenrational handeln und eine bestimmte Agenda verfolgen. Wer allerdings Politiker/innen wie Baerbock oder Scholz lauscht, kann schon sehr leicht an deren Geisteszustand zweifeln. Angesichts der sich hierzulande in einen immer größeren Kriegsrausch steigernden Reaktionen in Politik und Medien (vgl. Tobias Riegel: Ukrainekrieg: Deutsche Medienlandschaft endgültig im Rausch, nachdenkseiten.de, 2022) erscheinen die seit Kriegsbeginn verbreiteten küchenpsychologischen Spekulationen über Putins geistige Gesundheit ebenfalls eher wie Projektionen der eigenen Irrationalität (ohne an dieser Stelle Putins Charakter und Geisteszustand beurteilen zu wollen). Darüber hinaus nimmt die Binnenrationalität unter den Bedingungen der finalen Krise selbst immer irrationalere Formen an, scheint also die Dialektik der modernen „irrationalen Rationalität“ (Horkheimer/Adorno) sich zusehends in Richtung der Irrationalität aufzulösen. Es wäre auch historisch nicht das erste Mal, dass die kapitalistische Binnenrationalität geradewegs in eine zivilisatorische Katastrophe führt.

[22] „Annäherung an China: Saudiarabien will weg vom Dollar”, diepresse.com (17.3.2022)

[23] Drei Jahre vor dem Irakkrieg hat Saddam Hussein verlautbart, in Hinkunft die irakischen Ölexporte nicht mehr in Dollar abwickeln zu wollen. Auch dem „internationalen Militäreinsatz“ in Libyen im Jahr 2011 gingen u.a. Pläne von Muammar al-Gaddafi voraus, eine goldgedeckte Währung einzuführen, die in direkter Konkurrenz zum westlichen Zentralbank-Monopol gestanden hätte.

[24] Robert Kurz: Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Berlin 2005.

[25] Dies betrifft den militärischen Bereich ebenso wie zahlreiche andere Bereiche, z.B. die Autoindustrie oder die zivile Luftfahrt. Symptomatisch für Letzteres war beispielsweise das Boeing 737 MAX-Desaster. Interessantes Material und eindrucksvolle Belege für den ökonomischen, technologischen und nicht zuletzt intellektuellen Verfall vor allem der USA liefert – trotz unbestreitbarer konservativer Bornierungen und anachronistischer Nationalstaatsillusionen des Autors – Andrei Martyanovs Buch Disintegration. Indicators of the Coming American Collapse, Atlanta 2021.

[26] Jérôme Doyon: Kapital und Disziplin. Wie sich die KPCh unter Xi die Kontrolle über die Privatwirtschaft sichert, in: Le Monde diplomatique, Juli 2021, S. 13.

Original auf: www.wertkritik.org