Sorge und Interaktion
von Lorenz Glatz
Wir Menschen, wären nicht am Leben, wenn wir nicht von der Geburt an jahrelang um-sorgt worden wären. Nicht nur mit Nahrung, nein, Babys können, auch wenn sie „stofflich“ durchaus ausreichend „versorgt“ werden, daran sterben, dass sie keine „menschliche Wärme“ physisch und emotional spüren. „Deprivationssyndrom“ heißt dies auf Wissenschaftlich und wird als ein „mehr oder weniger massiver Entzug sozialer Interaktion“ beschrieben, der auch nach dem Kindesalter Menschen das Leben „mehr oder weniger“ vergällt. Derlei Kränkung ist freilich in einer Leistungsgesellschaft mit ihrer auf Arbeit, Konkurrenz und Profit weit mehr als auf freudvollen Umgang der Menschen miteinander ausgerichteten „sozialen Interaktion“ durchaus endemisch. Aber: „Von den Schmerzen abgesehen“, lese ich auf wikipedia bei „Hospitalismus“, „sind die hierdurch verursachten Folgekosten durch eingeschränkte Arbeitsfähigkeit für jede Gesellschaft enorm“. Erst so ist das Syndrom als veritable, d.h. nicht nur menschliches Leid, sondern wirtschaftlichen Schaden verursachende Krankheit in einer von Geld beherrschten Lebensweise wahr- und ernstzunehmen und unter Aufwendung angemessen knapper Mittel und dem Zweck der Arbeit für Profit und Kapital eingepasst mit Analgetika, Antidepressiva und Psychotherapie, so gut es halt geht, einzudämmen.
Soziale Interaktion als Sorge für einander ist Erbe und Errungenschaft der Evolution der Tierart homo. Seit den jüngsten Jahrtausenden dieser Geschichte wird diese Interaktion jedoch von sich stürmisch entwickelnden Kampf- und Herrschaftsstrukturen durchzogen, die sich das Sorgen für dessen Gegenteil dienstbar machen. Ich erinnere mich aus der Kindheit an ein krasses Beispiel, an die Erzählungen von Soldaten, die den Weltkrieg überlebt hatten, im Wirtshaus meines Großvaters. Sie sprachen über die Kameradschaft, ja selbstlose gegenseitige Fürsorge im Schützengraben und schwiegen eisern vom Morden, Vernichten, Plündern und Hoffen auf Sieg und Beute, worin sie auch verwickelt waren.
Andere Beispiele sind die friedliche Sozialpartnerschaft, aber auch der Klassenkampf von Kapital und Arbeit in den reichen Ländern. Wo die Arbeit mitpartizipiert an der Herrschaft über den großen Rest der Welt mit Krieg, Vertreibung, Hunger, Seuchen und der ruinösen Ausbeutung der Biospähre des Planeten, wird sie zum Komplizen eines „Wohlstands“ auf dem Weg zum Untergang. Solche Fürsorge für sich und seinesgleichen kann kurzfristig oder im engsten Umfeld Leben bereichern oder gar retten, wird aber im größeren Zusammenhang weit über die unmittelbar Beteiligten hinaus destruktiv, desaströs, ja mörderisch sein.
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern“. Diese 11. der „Thesen über Feuerbach“ steht auf Marx’ Grabstein. In den 140 Jahren seitdem hat dieser Satz eine ungeahnt dramatische Steigerung erfahren. Der UNO-Generalsekretär, oberster und zugleich ohnmächtigster Politiker der Welt, spricht vom drohenden kollektiven Selbstmord der Menschheit angesichts von Klimakatastrophe und Weltkriegsgefahr. Die Regierungen jedoch walten ihres Amtes und gehen auch nach 27 Klimakonferenzen weiter dem Auftrag eines Staates nach: Dafür zu sorgen, dass aus Geld mehr Geld werden kann. Und dieser Seinszweck des modernen Staats ist mit ökologischer Rücksichtnahme wenn überhaupt dann nur per blutiger Gewalt und sozialer Katastrophe zu verbinden.
Ich denke, es braucht ein rasch wachsendes Geflecht von Initiativen gemeinschaftlichen und kooperativen Be- Ver- Um- und Für-Sorgens, um uns noch rechtzeitig von dieser Herrschafts- und Staatslogik zu befreien und uns jenes Terrain zu schaffen, auf dem unser theoretisches Bemühen und unsere praktisch-kritische Tätigkeit zusammenfinden können, um „die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht“ (2. These über Feuerbach) eines bedachten Handelns für ein gutes Leben für alle zu erweisen.