Schluss mit der Geopolitik!
Der einzig vernünftige Schluss aus Krieg und Aufrüstung
von Franz Nahrada
Vor 2 Monaten schrieb ich in der Notiz „Make Villages Not War“: „Die Zeit der Weltmächte, die sich in überreichlichem Maß Gewaltmittel verschafft und deren Einsatz auch schon durchgeplant und vorbereitet haben, um auf einer finalen Stufe als ‚Kollateralschaden‘ ihrer kriegerischen Kollision einen Großteil der Menschheit umzubringen und die Lebensbedingungen auf der Erde zu zerstören – eine ,Eskalation‘, von der beide Seiten versichern, dass sie nie stattfinden darf und mit der genau so ständig gedroht wird – diese Zeit der Weltmächte müsste vielmehr raschest zu Ende gehen, bevor es endgültig zu spät ist. Weil es keine größere Gefahr für Natur und Mensch gibt als den Kampf der Imperien, ihre Ansprüche, ihre Geschäfts- und Gewaltmittel und ihre totale Rücksichtslosigkeit in ihrer wechselseitigen Konfrontation.“
Diese anscheinend voluntaristische Forderung, diese scheinbar unmögliche Idee, die auch den Gutwilligsten als weltfremder frommer Wunsch erscheinen mag, wird mit jedem Tag, der uns näher an die Eskalation der schrecklichen Ereigniskette bringt, aktueller. Wer vor der Realität und den unfassbaren Konsequenzen des Krieges erschrickt und sein Denken nicht vollkommen dem Gelingen und dem Erfolg einer Seite der Kollision untergeordnet hat, der müsste den Zustand namens Geopolitik mitsamt seinen Wurzeln zum Teufel wünschen und sich fragen, wie wir ihn loswerden. Die Antwort ist so trivial wie banal: Die Welt muss grundsätzlich auf einem Miteinander statt einem Gegeneinander aufgebaut werden. Dafür existieren bereits jede Menge Keimformen. Der derzeit die Welt dominierende Nationalstaat – aufgebaut aus einer komplexen Synthese von Geschäft und Gewalt – ist dafür grundsätzlich ungeeignet. Das haben viele kritische Stimmen von Leopold Kohr über Margaret Mead bis hin zu Christopher Alexander festgestellt und sich Gedanken darüber gemacht, was die Abschaffung des Nationalstaates bedeuten könnte. Wie klar steht uns momentan vor Augen, dass eine Welt in der die Geopoliktik weiterhin den Ton angibt, unweigerlich aus den Fugen gerät! Man stelle sich nur kurz vor, was in unserer Zeit möglich geworden wäre, wenn etwa Großbritannien und Russland ihre jeweiligen imperialen Träume, die die einen zum Brexit und die anderen zur Invasion in die Ukraine getrieben haben, zugunsten einer Friedenszone von Lissabon bis Wladiwostok aufgegeben hätten, wovon wohl auch Michail Gorbatschow geträumt hat. Aber sie können anscheinend nicht anders, als die Welt als ein Problem gewaltsam herzustellender Odnung zu betrachten.
Unlängst las ich ein übersetztes Zitat aus dem russischen Onlineportal „Meduza“: „In dieser Welt hat der Stärkere Recht und die Schwächeren haben keine andere Wahl, als dies zu akzeptieren. Es ist eine Welt mit Grenzen, Einflusssphären und auf die Stärkung der Souveränität von Staaten gerichteten Zielen. Es gibt mächtige und unabhängige ‚Supermächte‘, es gibt gewöhnliche ‚Grossmächte‘, es gibt Regionalmächte, und dann gibt es die ‚normalen» Länder. Nationen schliessen sich zusammen, bilden Bündnisse, treten in Konflikte ein und schliessen Frieden miteinander. Die schwachen Staaten müssen die starken Staaten fürchten und können nur ein wenig Souveränität erwarten. Grössere und stärkere Staaten können sich dagegen mehr Souveränität leisten. Die grössten Staaten erhalten alle erdenkliche Souveränität und können die von ihnen aufgestellten Regeln aus eben dieser Souveränität auch missachten, sie spielen das ‚grosse Spiel‘ und bewegen ihre Figuren auf dem ‚grossen Schachbrett‘. Diese Staaten haben ‚grosse Strategien‘ und ‚geostrategische Ziele‘, welche die ‚Weltordnung‘ bestimmen. Im Grund sind diese geopolitischen Ziele ident mit dem Zugriff auf die und mit der Kontrolle der Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen anderer Länder oder der Abwehr eines solchen Zugriffes. Neben diese Ressourcenkonkurrenz tritt freilich die Verhinderung des Großwerdens konkurrierender Mächte. Das heißt, Geopolitik bedeutet die beständige Subversion potentieller Gefährdungen und den Imperativ, jeden Fleck auf der Landkarte in Freund und Feind zu sortieren und gegebenenfalls dem eigenen Kontrollsystem zu unterwerfen. Im Zeitalter der globalen Vernetzung und der Digitalisierung verschärft sich dieser Imperativ.“
Die jüngsten Fortschritte in der ideologischen Mobilmachung und die Restbestände des Erschreckens
Im ersten Monat des Krieges gab es noch die Hoffnung, dass die Katastrophe eines fortgesetzten und über die Grenzen der Ukraine hinaus eskalierenden Krieges abgewendet werden kann. Mittlerweile sind wir von unseren politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten, von den Entscheidern und Meinungsbildnern schon längst von Zuschauern zur Kriegspartei gemacht worden, ohne dass das Für und Wider einer solchen existentiellen Entscheidung wirklich erwogen werden konnte oder sollte. Schon längst hat sich – unterstützt durch ein noch nie dagewesenes mediales Trommelfeuer – die Ansicht durchgesetzt, dass dem Krieg, der täglich mehr Opfer fordert, kein Einhalt zu gebieten ist, keine Verständigung auf einen Waffenstillstand möglich ist. Belege für die Intransigenz und Grausamkeit des erklärten Feindes werden en masse geliefert, ohne dass darüber noch wirklich gestritten oder wirklich nach Ursachen oder gar Auswegen gefragt werden darf. Der Sieg über Russland, der Zusammenbruch und die Kapitulation der zum Feind erklärten Großmacht ist spätestens einen Monat nach Kriegsbeginn offiziell zur aktuellen Hauptaufgabe der EU (in Übereinstimmung mit den USA und der NATO) erklärt worden, weswegen zunächst ein ökonomisches Kräftemessen der Fähigkeit zum Anrichten maximalen Schadens ansteht – sowie eine logistische Stärkung der Ukraine auch mit schweren Waffen. Die Logik des Krieges scheint sich zu verselbständigen in ein destruktives Wüten mit immer neuen Eskalationsschritten, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die rote Linie zur direkten militärischen Auseinandersetzung oder gar zum nuklearen Schlagabtausch überschritten wird.
Dabei werden Sprachregelungen durchgesetzt, die jedes Aussteigen aus der Kriegslogik sabotieren. Mit der Titulierung als „Angriffskrieg“ wird nicht nur einfach das militärische Faktum benannt – Russland hat die Ukraine angegriffen –, sondern die moralische Verurteilung ist: Russland ist im Unrecht, weil es die bestehende = friedliche Ordnung gebrochen hat. So ist von vorneherein überhaupt nicht mehr von Interesse, welche Ziele Russland mit dem Angriff auf die Ukraine verfolgt, wie sich im Gegenzug die Ukraine dazu stellt und welche Gründe diese für den Krieg hat. Wir erinnern uns: ein Angriffskrieg der NATO wie in Jugoslawien war selbstverständlich ein „Verteidigungskrieg“ der Menschenrechte um der Verhinderung eines angeblichen geplanten Genozids willen. So spiegelbildlich geht Kriegsmoral.
Und weil es „unsere“ europäische Friedensordnung ist, die angegriffen wird, ist es „unser Krieg“ – und „wir“ werden zumindest schon mal ideell in die Pflicht genommen, alle Maßnahmen der Herrschenden zu unterstützen, die entscheiden, was opportun ist angesichts der jeweiligen Fortschritte und Erfordernisse des Kriegführens. Und Kritik ist überhaupt nur mehr zugelassen und opportun vom Standpunkt „Wird auch genug getan für den Sieg?“ – worauf sich die aufgehetzte Öffentlichkeit, gefangen im tödlichen Fehler, sich als Kriegspartei wahrzunehmen, sogar auf führende Politiker wie Scholz und Nehammer stürzt und ihnen Zaudern und mangelnde Entschlossenheit vorwirft. Das ist doch das Schöne an unserer Demokratie, dass man vom Standpunkt der definierten Staatsräson ganz subjektiv radikal werden darf, abweichende Meinungen als Gefährdung brandmarken und einen tagtäglichen Gesinnungstest im eigenen Umfeld, zum Beispiel in den sozialen Medien, durchführen darf! Und wenn da noch ein paar „Bedenkenträger“ sich zusammentun wie im Fall des Offenen Briefes in der EMMA, dann bildet sich spontan eine Meute vornehmlich unter intellektuellen Sorge- und Verantwortungsträgern, die auf die unbedingte Notwendigkeit der Siegeszuversicht pocht und jede Unterlassung dieser Parteinahme der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt. Selbstverständlich dient die Lieferung schwerer Waffen in dieser Sichtweise dazu, dass weniger Menschen sterben und was der logischen Unsinnigkeiten noch sind. Gemeint ist: Es sterben dann mehr von denen, die es verdient haben, weil sie auf der falschen Seite stehen.
Die Realität der Geopolitik
Es ist also längst beschlossene Sache, dass „wir“ als ideelle Parteigänger des Krieges selbst zum Monster werden müssen, um das Monster bekämpfen zu können, das doch seine Monstrosität allem Anschein nach erst wirklich dadurch entwickelt hat, dass die Führungsmacht des Westens über Jahrzehnte allen Ansuchen auf friedliche Kooperation und Integration auf gleicher Augenhöhe eine glatte Abfuhr erteilt hat, vielmehr eine strategische Bastion nach der anderen aufgebaut und die Abdankung der Reste einer ehemaligen Supermacht zur letztlich unvermeidbaren, kriegerisch zu lösenden Aufgabe erklärt hat. Ich kann mich noch gut an die Verlautbarungen der Wahlkämpferin Hillary Clinton aus dem Jahr 2017 erinnern, die schon damals diesen Krieg gegen Russland ganz offen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Ebensolche entschlossenen Absichten sind aus ukrainischen Führungskreisen von 2019 bekannt geworden. Was mich fassungslos macht, ist, wie sehr ein lauter und überwiegender Teil der Öffentlichkeit die Unverfrorenheit und Selbstverständlichkeit der vereinten westlichen Führungsriege mitmacht, mit der der Adressat dieser Feindschaftserklärung jetzt, da er – aus welchen Gründen auch immer – von sich aus zur offenen Konfrontation übergegangen ist, zum Alleinverantwortlichen der Situation gemacht wird („Putins Krieg“). Und dass so getan wird, als wäre jeder Dialog über eine alternative Entwicklung oder einen friedlichen Ausweg unmöglich geworden. Selbst ein Kissinger oder das Editorial Board der New York Times wirken da nur mehr wie Randfiguren, wenn sie noch über Kompromisse nachdenken. Die vergangenen Weltordnungskriege des Westens im Irak, Serbien, Afghanistan und Libyen werden hier eigentlich nur in all ihrer Brutalität und Sinnlosigkeit zurückgespiegelt: aber das heizt die Intransigenz und Entschlossenheit des Westens zur Beseitigung des Ärgernisses einer eigenständigen Gegen-Macht nur noch an. Wer die Kriege zu vergleichen oder gar – wie es wohl naheliegt – in Bezug zueinander zu setzen wagt, der vergeht sich nicht nur am hohen Wert der Freiheit, sondern vor allem an der einmaligen und noch nie dagewesenen historischen „Gelegenheit, die es jetzt zu nutzen gilt“ – mitsamt dem Momentum der moralischen Wucht, die die täglich aufbereitete Brutalität des Krieges liefert.
Dabei darf die Heuchelei nicht fehlen, so zu tun, als ob es bei den Sanktionen und Waffenlieferungen und bei den zunehmenden Verlautbarungen, dass ein anderer als ein Siegfrieden nicht in Frage kommt, um die Menschen in der Ukraine gehe. Im Gegenteil gehörte es zur Staatsräson der Ukraine in den letzten acht Jahren, sich dem Westen als williger Frontstaat anzubieten. Viele in der Ukraine mögen sich das Resultat anders vorgestellt haben, doch es geht auch in der Ukraine um nichts anderes als um die Osterweiterung des USA-EU-Imperiums – und zugleich um die langanhaltende Schwächung der Russischen Föderation, am besten um deren Zerschlagung. Und natürlich geht es auch um das alte britisch-amerikanische geopolitische Ziel, eine konkurrierende Großmacht im Eurasischen Raum – und damit ist hauptsächlich ein mögliches Zusammengehen der Europäischen Union mit Russland gemeint – gar nicht erst zuzulassen. Inwieweit hier nicht eine reale „Überdehnung“ des amerikanischen Hegemonieanspruches stattfindet, lasse ich mal dahingestellt. Jedenfalls ist es gelungen, die Welt in ein veritables „russisches Roulette“ hineinzuziehen und den Wahn eines abgestuften, aber nach oben offenen Krieges ohne Kompromisse gegen eine Atommacht in Europa weitgehend konsensfähig zu machen. In der Tat erschreckt die Gleichschaltung der Medien bis hin zur Zensur, mit der dieser Wahn befördert wird, und hinter der scheinbar spontanen Einigkeit im Westen erscheint eine ungeheure Macht der Konformitätserpressung, die gekoppelt ist mit immer weiter zunehmender wirtschaftlicher, politischer und letztlich auch kultureller Kolonisation – Züge, die man am Feind durchaus wahrzunehmen imstande ist, aber für sich selbst in Abrede stellt.
Freilich hat auch und gerade die Russische Föderation wie schon die zerfallene Sowjetunion auf nichts anderes als Geopolitik gesetzt. Das haben sie beide gemeinsam: dass die Existenz als Nationalstaat niemals friedlich verlaufen kann, sich immer einem negativen ausschließendem Verhältnis zur Welt verdankt. Wenn Souveräne Mittel und Ressourcen anderer Souveräne benutzen wollen, wachsen mitten im Frieden die Gründe des Krieges.
Hätte es Alternativen gegeben? Das immense Potential der Regionen im Sinn resilienter lokaler Ökonomien in diesem riesigen Land wurde auch in Sowjetzeiten nie entwickelt. Im Dialog mit russischen Freunden durfte ich einige der bahnbrechendsten Entwürfe für eine disurbanistische Konzeption des Lebensraumes – die „neue Theorie des Siedlungswesens“ (NER) – entdecken. Dort wurde genau jene umfassende Lokalisierung mit kühnen Ideen entworfen. Diskussionen darüber wurden manchmal geführt, vergeblich, denn letzlich war das Resultat eben das, was wir heute sehen. An die Stelle der Potentiale von Miniaturisierung und lokalen Kreisläufen trat ein absurdes System von industriellen Monostädten und ein hierarchisches System der großräumigen Arbeitsteilung, aufbauend auf einem immensen Reichtum an Bodenschätzen, mit der Metropole Moskau im Mittelpunkt. Nach 1991 wurde die vorhandene extraktive Struktur und die darauf aufbauende Logistik verstärkt zum Mittel, mittels Exporten in den Westen die eigenen staatlichen Bedürfnisse zu decken. Und angesichts des Kriegs gibt es in Russland erst recht keine Wahrnehmung der Potentiale einer Entwicklung nach innen und der Schaffung von immer mehr dezentralen lokalen Kernen, sondern es herrscht die durchaus trügerische Hoffnung auf den großen Schwenk nach Osten – sprich China – beim Handel mit fossilen und anderen Ressourcen. Innere Diversität, kulturelle Autonomie, die Umgehung von Konflikten durch Intensivierung der Fokusierung auf lokale Aufbauarbeit passen nicht ins System. Und die Ankündigung Europas, sich vermehrt den erneuerbaren Ressourcen zuzuwenden, ist aus russischer Perspektive eine strategische Bedrohung. Eine Stärkung und Entwicklung nach Innen, ins Kleine, hat nicht stattfinden können, wo der Blick noch viel stärker als bei uns auf die Entfaltung der Globalen Städte und den Aufstieg Chinas gerichtet ist und das Heil in der Größe, der Bewahrung und Wiedergeburt der geopolitischen Bedeutung als Atommacht und Ressourcenmacht gesucht wird. In der Tat ist dieser „Ressourcenfluch“ und die ihm entsprechende Struktur der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft die wahre Tragik Russlands. Aber eben auch der Grund, warum seit mehr als einem Jahrhundert der westliche Imperialismus in Russland den Kern einer einzudämmenden konkurrierenden Supermacht sieht. Paradox, dass die angelsächsische „Weltinsel“-Theorie („Wer Eurasien beherrscht, beherrscht die Welt“) von russischen Nationalisten wie Dugin als positiv zu erfüllende Aufgabe gesehen wird.
as nächste Objekt der kriegerischen Konfrontation wird China sein, das aufgrund seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Entwicklung schon längst der wahre geopolitische Konkurrent ist. Doch selbst wenn der Drache erledigt ist: Die Hohen priester der amerikanischen Geopolitik wie George Friedman von Stratfor in seinem Buch „Die nächsten hundert Jahre“ versprechen uns keinen Frieden. Sie sehen lauter kleine Keimformen von Möchtegern-Großmächten aufkommen, die mitspielen wollen auf dem „großen Schachbrett“ und schon wieder die nächsten Konflikte schüren. Mal Polen, mal die Türkei, immer wieder entstehen neue Schachfiguren, die es zu „handhaben“ gilt. Das ist die großartige Perspektive, mit der die Menschheit von den Geopolitikern beglückt wird.
Die Alternative zur Geopolitik
Ist es wirklich so schwer, auf diese Art von Zukunft zu pfeifen und das so Schwierige und doch so Plausible mit Leben zu füllen und zumindest mal die kühne Idee in die Welt zu setzen, der Geopolitik auf alle Zeit wirksam und radikal die Grundlage zu entziehen? Wenn wir den absehbaren großen Knall überleben – worauf wir anscheinend kaum einen Einfluss haben – dann gibt es nur mehr die Option des „Nie wieder“. Eine Allianz der Vernünftigen und Verantwortlichen müsste sich überall auf der Welt an die Entwicklung nach Innen machen, wie sie in den globalen Nachhaltigkeitszielen kodifiziert ist – indem sie die Welt in eine Struktur transformieren, die Autonomie und Zusammenarbeit auf Augenhöhe überhaupt erst möglich macht.
Zugegeben: Das klingt wie ein Stoßseufzer eines verzweifelten Intellektuellen, der meilenweit von der Realität entfernt Luftschlösser baut. Und doch sind einerseits alle Elemente einer solchen Struktur längst vorhanden, herangereift für einen kompletten Systemwechsel. Und andererseits brauchen wir eine umfassende Vision, um dem seit Jahrhunderten eingefahrenen System der Geopolitik überhaupt eine Absage erteilen zu können. Eine Vision, die stark genug ist, um die Hoffnungen von bald zehn Milliarden Menschen zu berühren und zu transformieren. In der Tat: Die Welt ist reif für eine Welle der kooperativen Dezentralisierung, aufbauend auf „biomorphen“ Technologien, Verfahren, die nach dem Muster des natürlichen Lebens geformt und geprägt sind, und auf selbstbestimmte menschliche Gemeinschaften. Was mit der mikroelektronischen Revolution und der dezentralen Automation eingeleitet wurde, verbindet sich mit einer neuen Naturbeziehung, regenerativer Kreislaufwirtschaft, der Kraft von Sonne und Wind und vielen Faktoren mehr zur Basis einer neuen Produktions- und Lebensweise, die nicht mehr von externen Rohstoffen und Exporterlösen abhängig ist, sondern auf der Nutzung und Kombination lokaler Potentiale aufbaut. Diese Kombination verspricht, gepaart mit dem geballten Wissen der Welt und dem Erfindungsreichtum eines ganzen Planeten, tatsächlich eine Fülle, die sich die Logistik der Lieferketten weitgehend erspart und die Potentiale der Nähe entdeckt und ausbaut. Auch wenn nicht im letzten Dorf Computerchips gefertigt werden können, so würde doch eine solche dezentralisierte Welt bewusst subsidiär so viele Fähigkeiten wie möglich in die kleinen, regionalen und lokalen Einheiten bringen. Und wo das größere Einheiten erfordert, würden sich diese zunehmend als ein Ineinander von aufeinander aufbauenden Schalen konstituieren, in denen jeweils ein Maximum an Autonomie und Autarkie, kultureller Differenzierung und räumlicher Miniaturisierung und Ausgewogenheit mit Landschaft und Natur bestimmend sind.
Unser Wissen über die selbstherstellende Kraft der Natur ermöglicht es uns immer mehr, uns an ihr und in ihr und mit ihr zu positionieren, wobei die Vielfalt unserer Möglichkeiten in eine Fülle verschiedenster Formen und Gestalten münden würde. Diese evolutionäre Vielfalt der lokalen Kulturen wäre eine ähnliche Quelle von Fortschritt und Lebensqualtät, wie es die natürliche Biodiversität ist.
In der Tat ist eine solche postindustrielle kooperative Welt noch nirgends auch nur annähernd konsequent durchdacht worden. Wir können jedoch davon ausgehen, dass an die Stelle der Hierarchie von Zentren und Peripherien eine Art „Holarchie“ tritt, ein von den Zellen menschlichen Zusammenlebens ausgehender Prozess der Formung größerer Einheiten und Netze, von unten nach oben aufgebaut, mit „Globalen Dörfern“, also umfassend informierten lokalen Gemeinschaften als Zellen und Elementarform, die mit einem komplexen Geflecht aus sozialen, technologischen und natürlichen Beziehungsmustern miteinander verknüpft sind und auch Raum geben für nomadische und kosmopolitische Lebensformen. Autoren wie Ernest Callenbach („Ecotopia“), Hans Widmer („bolo’bolo“) und Alexander Baltosee („Jamilanda“) haben versucht – im durchaus luftigen Raum der literarischen Utopie – vorauszuahnen, welche enorme Potenz in dieser Entwicklung ins Kleine liegt.
Diese postindustrielle kooperative Welt ist in Keimformen bereits real gegenwärtig und deutet sich als säkuläres Gegenmodell zur Geopolitik an – als diametral entgegengesetzte Logik, in der der Ausgleich, die Stärkung der Schwachen, ihre Einbeziehung in ein ständig sich intensivierendes Netzwerk der Wissenskooperation und der Verfeinerung unserer Möglichkeiten die Gesundheit und Lebendigkeit auf diesem Planeten fördern. Das „Dorf“, in das wir überallhin auf dem Planeten zurückkehren können, wenn wir erkennen, dass die derzeitigen Produktions- und Positionsschlachten vollkommen zerstörerisch und sinnlos geworden sind, ist keine Chimäre, wir sehen allererste Anzeichen davon in selbstbewussten Gemeinden, regionalen Kreislaufwirtschaften, in den sogenannten Fab Cities, die sich zum Ziel gesetzt haben, alle Produktion zu lokalisieren, in den Transition-Initiativen, in den Unternehmen, die sich in Richtung Gemeinwohl neu erfinden, in den sozialen Innovationen wie Soziokratie und Bürgerparlamenten und so weiter. Jeder noch so kleine Schritt, Menschen sinnstiftend an der Gestaltung ihrer Lebenswelt zu beteiligen, trägt in sich die Logik der Vernetzung von unten, der Erweckung von kommunaler und regionaler Intelligenz.
Ist es wirklich so schwierig, sich vorzustellen, wie diese Logik, wenn sie einmal global an Fahrt gewinnt, dazu führt, dass unser „Dorf“ in Stadt und Land zunehmend eingebettet ist in die „lebenden Maschinen“ einer zweiten agrikulturellen Revolution, in Hydro- und Hortikulturen, in einen künstlichen Dschungel höchster biologischer Produktivität, in komplexe Permakulturen mit Mikroklimata, in denen wir mit und nach dem „Paradigma der Pflanze“ leben werden – sprich nicht mehr wildern und räubern müssen, sondern Meister der Metamorphosen lokaler Ressourcen werden, des Umformens und Wachsen-Lassens? Unser Zuhause würde zunehmend die wahre Nano-Fabrik, der wahre Mikro-Produktionsort, denn der Anteil der Hochtechnologie, die dafür in großstädtischen Zentren produziert werden muss, ginge mit der Steigerung der lokalen Komplexität und Wirksamkeit ständig zurück. Nach innen und nach außen würde unsere Lebenssphäre wirklich organisch werden.
Es ist ein viel tieferer Bruch, der sich hier andeutet, als bloß der von der feudalen zur kapitalistischen Epoche, denen beiden gemeinsam ist, dass es um Herrschaft geht, um Akkumulation von Ressourcen auf der einen und um Instrumentalisierung und Kontrolle von Menschen auf der anderen Seite. Der Unterschied zwischen einer formell demokratischen und einer autokratischen Herrschaft, der heute so gewaltig aufgebläht wird, um den laufenden Weltordnungskrieg zu rechtfertigen und ideologisch zu untermauern, erscheint in dieser Perspektive nahezu vernachlässigenswert. In jener Gegenvision ginge es allen unmittelbar darum, alle anderen zu stärken, weil ihre Tätigkeit das Netzwerk des Lebens und das globale Gehirn bereichert.
Die Zwiespältigkeit prägt zunehmend unser ganzes Leben: Das Alte will ja nicht einfach sterben, und das Neue hat noch keine Form gefunden. Wir erleben gerade überdeutlich, wie selbstherrlich und rücksichtslos auch und gerade demokratische Herrschaften über das Leben der ihnen Unterworfenen entscheiden, Überwachung und Kontrolle nicht zuletzt durch die neuen Möglichkeiten der elektronischen Netzwerke zunehmen, Verhaltenssteuerung und Manipulation zum Bestandteil unseres Alltags werden, selbstverständlich als Dienst am Menschen verbrämt. Das ist eine Entwicklung, die schon seit mindestens zwei Jahrzehnten vorbereitet, aber durch eine Serie von Schocks nun breit sichtbar wird. Gerade in der Corona-Pandemie feierten autoritäre Strukturmuster ihre Wiederauferstehung, und diese Tendenz setzt sich im laufenden Krieg fort, mit linker und grüner Begleitmusik und zum Teil sogar Anleitung.
Parallel zu den oben beschriebenen ermächtigenden – und wenn man so will, demokratisierenden – Entwicklungen in den „Laboren der Zukunft“ gibt es also leider eine große und schleichende Re-Feudalisierung von Staat und Gesellschaft. Sie hat ihre Grundlage in der abnehmenden Rolle der Lohnarbeit, der Zerstörung der Mittelklassen, der Intensivierung der globalen Konkurrenz ums Schulden-machen-Können. Wo für die große Masse die Lebensgrundlagen schwinden, braucht es ein neues Regime anstatt des bisherigen „stummen ökonomischen Zwangs“ des gewohnten Kapitalismus. Das Durchregieren, die Person als Rädchen im Getriebe, die Top-Down-Anweisung, die statistische Illusion, die Konstruktion der Gefährder – sie feiern fröhliche Urständ und scheinen uns zurückzuwerfen in längst vergangen geglaubte Zeiten. „Die auf einfache lineare Lösungen eingeschworene Öffentlichkeit und politische Steuerung können kritische Gegenfragen nicht mehr sinnvoll integrieren. Dies aus einem simplen Grund: Die kritischen Fragen liegen so sehr auf der Hand und gefährden die neue Einfachheit deswegen so direkt, dass man zum kategorischen Ausschluss greifen muss.“ (M. Schrappe) Dabei sind jede Menge Fragen z.B. angesichts des laufenden Krieges gerechtfertigt: Wieso wird jede Menge gesellschaftlicher Reichtum (noch dazu fiktiver, Schuldentitel ohne wirkliche Deckung) ins Feuer des Kriegsbrandes geworfen, wenn wir jetzt schon der zunehmenden Armut und sozioökonomischen Desintegration nicht mehr Herr werden? Wie soll sich das ausgehen, ein Vernichtungsfeldzug mit Siegfrieden und zugleich die Vermeidung der nuklearen Eskalation? Und steht die Uhr in Sachen Klimakatastrophe nicht gerade einige Sekunden vor 12?
Wo diese Fragen machtvoll geächtet sind, blüht das Klima der geistigen Blockwarte. Monoton wird von den sich refeudalisierenden Apparaten und Bürokratien und ihrer gewaltigen Predigerschar ein Ideologem wiedergekäut, dem entschieden widersprochen werden muss, nämlich dass es viel zu lange selbstverständlich war, dass Menschen nur ihre Freiheit gesehen hätten und nicht die Verpflichtungen, die sie hätten. Der Widerspruch, den es dagegen einzulegen gilt, ist erstens, dass in dieser Gegenüberstellung die Quelle der Verpflichtung nur ex negativo gerechtfertigt wird – klar, es kann ja nicht immer jeder tun, was er will, oder? Also wird doch jeder einsehen, dass wir für die Ukraine zumindest frieren und auch den sonstigen Härten zunehmender Verarmung und Kontrolle unsere Zustimmung nicht verweigern können usw. Dieser eigentlich urfaschistische Topos, der in der staatlich gewährten Freiheit den Rechtsgrund für jedes Opfer der Bürger für den Staat sieht, ist noch aus einem anderen Grund zurückzuweisen: Aus was sonst heraus sollen wir unsere Welt eigentlich gestalten, wenn nicht aus unserer Freiheit? Wäre es nicht eher das: Aus freien Vereinbarungen, die wir selbst schaffen, verändern oder gegebenenfalls auch kündigen können, wenn wir unsere individuellen Freiheiten zu einem System der konkreten gemeinschaftlichen Freiheit verwoben haben?!
An dieser Selbstorganisationsfähigkeit, an diesen Commoning-Prozessen gilt es zu arbeiten, unterhalb des Getöses der Geopolitik, im Bewusstsein, dass es eine riesige Gemeinschaft all derer gibt, die an den Win-Win-Situationen gelebter globaler Solidarität arbeiten. Es gibt einfach den fundamentalen Gegensatz zwischen einer Wirtschaft und Politik, die extraktiv und ohne Rücksicht auf lokale Zusammenhänge und Potentiale ihr Recht auf Ressourcen geltend macht, gipfelnd in multinationalen Konzernen, kontinentalen und globalen Wirtschaftsräumen einerseits, und der Idee der Kreislaufwirtschaft andererseits, die notwendigerweise eine Priorität des Lokalen fördert, den Kommunen und Regionen, deren Lebensblut diese Kreisläufe sind, den Open-Source-Netzwerken, die Wissen teilen und fördern, und den Inseln der Regenerativität, die in diesen Netzwerken blühen und einander unterstützen! Lässt sich die Abscheu vor jeder Art von Geopolitik in einen Impuls verwandeln, der diese Gegendynamiken mit noch mehr Energie erfüllt? Und ist diese praktische Aussicht trotz tausender großteils unbeantworteter Detailfragen nicht zumindest ein Weg, als Theoretiker wahrhaftig zu bleiben, sich nicht den Kriegstrommeln zu akkomodieren und dennoch angesichts des scheinbaren Triumphes der Geopolitik nicht zu verzweifeln?